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Vergessene Dunkelheit

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24.09.2004
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Vergessene Dunkelheit

Das Dorf war nicht das größte und wurde von weniger als zehntausend Einwohnern besiedelt, was ein ausschlaggebender Grund dafür war, dass Samuel mit seinem Vorhaben Erfolg hatte; bei einem Ort doppelter Größe oder gar einer Stadt hätte er den Gedanken vielleicht sofort wieder verworfen.
Das Geschrei auf der anderen Straßenseite ging beinahe unter zwischen all den Autos, Menschen und Geräuschen des kleinen Jahrmarkts, der seit zwei Tagen geöffnet hatte und die sonst so friedliche Idylle des Dorfes noch eine weitere Woche mit dem Dröhnen seiner Maschinen und Fahrgeschäfte beschallen sollte. Samuel wollte gerade selbst einen Besuch auf den Attraktionen wagen, als das wütende Geschrei der Frau von der anderen Seite herüberdrang und ihn aufmerken ließ. Sie hielt einen aufgefalteten Brief in den Händen und schrie sichtlich erbost auf das unschuldige Papier ein. Ihr Kopf war gerötet, und ihre Haltung wie die eines angreifenden Tieres. Samuel musste ein wenig lachen, weil er fand, dass ihr Verhalten in einem komischen Gegensatz zu ihrer so festlichen Kleidung stand. Wahrscheinlich hatte sie in einem der Partyzelte getanzt. Der Inhalt des Briefes musste sie sowohl wütend als auch ängstlich gemacht haben, denn sie schaute sich beim Lesen immer wieder um. Übermannte sie ihre Wut wieder, so war sie derartig mit ihren Schimpftiraden beschäftigt, dass sie Samuels amüsierten Blicke gar nicht bemerkte, was nicht selbstverständlich war, stand er ihr doch recht offensichtlich zugewandt gegenüber und lachte unverhohlen hörbar, auch wenn er dies mit vorgehaltener Hand tat. Aber er lachte sie nicht aus, wenn überhaupt so lachte er über sie, und vielleicht war da noch etwas anderes. Es war ganz bestimmt nicht seine Art Menschen so lange zu beobachten, aber der grimmige Gesichtsausdruck der Frau im Zusammenspiel mit ihren beinahe ungeschickt wirkenden Wutgebärden löste ein Gefühl in Samuel aus, das an Sympathie grenzte. Vielleicht lag es an dem schlichten Gegensatz eine zierliche Frau wie diese solch herben Gefühlswallungen ausgeliefert zu sehen, aber insgeheim glaubte Samuel nicht, dass dies der Grund für die angenehme Unruhe war, die sich in seinem Inneren ausbreitete. Er war sich sicher, dass es schlicht und ergreifend an der Frau selbst lag. Mit anderen Worten: es war egal in welcher Situation auch immer er sie das erste Mal sah; er fand sie einfach toll. Mit noch anderen Worten: er hatte sich gerade verliebt. Konnte das sein? Konnte es so schnell gehen? Eine weitere Überprüfung dieses Gedankens im Zusammenspiel mit dem Blick, den sie ihm mit einem Mal zuwarf, ganz unverhofft und plötzlich, nicht freundlich, sondern mit der gleichen schlechten Laune beseelt, die sie die ganze Zeit schon zur Schau stellte, da wusste er, dass es um ihn geschehen war. Er musste sie treffen.
Ihrerseits schien nichts in dieser Richtung aufzukeimen, denn eine Sekunde später blickte sie sich erneut um, doch diesmal nicht aus Angst, wie es eben den Anschein gehabt hatte, sondern weil sie das nächste Taxi suchte, dass sie von hier wegbringen sollte. Samuel wollte sie gerade einholen und sie ansprechen – noch so eine Handlung, die eigenlich nicht seinem Charakter entsprach -, aber da hatte sie schon das nächstbeste Taxi angehalten, sich schwungvoll hineinbegeben, mit einem lauten Knall die Tür zugeschlagen und dem Fahrer wahrscheinlich überdeutlich die Dringlichkeit ihres Anliegens mitgeteilt, da es keine drei Sekunden dauerte, bis dieser auf die Straße setzte und mit quietschenden Reifen beschleunigte. Das letzte, was er von ihr hörte, war dasselbe Wutgeschrei, das etwas gedämpft durch das geöffnete Taxifenster zu ihm drang, aus dem sie mit einem letzten bösen Wort den zusammengeknüllten Brief warf. Dann verschwand das Fahrzeug hinter einer Kurve und mit ihm auch die Frau, die er nur viel zu kurz hatte bewundern dürfen. Das Papierknäuel kullerte gegen den Bordstein und blieb wie ein letzter Gruß im Rinnstein liegen.
Die Traurigkeit über die verronnene Chance wollte gerade in ihm aufflammen, als er doch wieder Hoffnung fasste. Der Brief - er musste ihn lesen. Irgend etwas musste doch auf ihre Identität hindeuten. Jetzt hatte ihn die Neugier gepackt, und er rannte hinüber, bevor ein Windstoß ihm diese letzte Möglichkeit nehmen würde. Schnell entfaltete er das kleine Blatt und warf zuerst einen Blick auf dessen Rückseite, aber ohne Erfolg. Der Verfasser hatte ihn nicht an sie adressiert. Die Nachricht selbst war in einer auffällig krakeligen Handschrift geschrieben, hatte, wie er frustriert feststellen musste, keine Anrede und begann nebst einem Haufen Tintenflecken direkt mit einem Hauptsatz. Er hatte Mühe diese an Hieroglyphen grenzenden Buchstaben zu entziffern, sodass er den Brief nur schnell überflog und auf Schlüsselwörter, Zahlen oder Adressen achtete. Die Zeilen glitten dahin ohne etwas Aufschlussreiches zu übermitteln, aber dann stand plötzlich ihr Name, bloß ihr Vorname, in hervorgehobenen Lettern unüberseh- und lesbar gedrängt zwischen den beinahe letzten Wörtern des Briefes wie ein prunkvolles Gebäude neben einer Stadt aus Ruinen.
Hera
Wie der Name der griechischen Göttin der Ehe und der Geburt; das musste er sein. „Hera...“, sagte er laut, und der Klang ihres Namens umspielte seine Ohren wie eine angenehme Brise aus frischer Sommerluft. Ein Vorname. Konnte das reichen um sie zu finden? Samuel nahm an, musste einfach annehmen, denn ansonsten war es hoffnungslos, dass sie wie er ebenfalls in diesem Ort wohnte. Wenn dies nicht der Realität entsprach, beliefen sich seine Chancen sie zu finden auf Null. Wenn es aber der Realität entsprach, dann...
Dieses Dorf hatte weniger als zehntausend Einwohner, und wenn er Glück und Geduld hatte, fand er ihre Adresse im Telefonbuch. Dafür musste er nichts weiter tun als die Vornamen aller im Buch eingetragenen Personen durchzugehen. Es war ein bisschen wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, aber bei weniger als zehntausend Leuten war es vielleicht in einer Stunde geschafft.
Samuel spürte wie ein euphorischer Aufwind seiner Hoffnung die Sporen gab und ihn ganz automatisch handeln ließ. Er blickte sich um und suchte nach einer Telefonzelle. Dort hinten, keine hundert Meter von dem Eingangstor des Jahrmarkts entfernt, stand eine. Er sprintete nahezu, den Brief wie einen Glücksbringer in seiner Hand haltend, und als er sah, dass ein älterer Herr das kleine Häuschen blockierte und lachend ein Gespräch führte, konnte er seiner Ungeduld keinen Einhalt gebieten und bat ihn auf recht grobe und beinahe handgreifliche Weise die Telefonzelle zu verlassen, womit er binnen weniger Sekunden Erfolg hatte. Schon wieder so eine markante Abweichung seines sonst so zurückhaltenden Benehmens; er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal die Stimme gegen einen Fremden erhoben und sich so unverschämt gegeben hatte. Kein Zweifel: wer sich mehrmals hintereinander so überraschend anders verhielt, der konnte nur verliebt sein. Der ältere Herr warf ihm wütend ein paar böse Worte an den Kopf, da ihm derartige Dreistigkeit, mit der man vorgeganen war, um sein Gespräch zu unterbrechen, wie er beteuerte, noch nie in seinem Leben widerfahren war. Samuel achtete gar nicht auf ihn, und selbst wenn sein Beklagen an das Wutniveau Heras herangereicht hätte, wäre Samuel nicht einsichtig geworden. Er hatte jetzt wichtigeres zu tun; er musste den Namen einer Frau unter tausenden finden. Hastig blätterte er die Seiten durch und ließ seinen Blick über die endlosen Namensreihen des Telefonbuchs huschen, bis er merkte, dass es so keinen Sinn hatte. Behutsamer und besonders mit mehr Geduld musste er die Sache angehen. Er atmete tief durch, warf einen flüchtigen Blick auf den alten Mann außerhalb, der mit offenem Mund den Kopf schüttelte und dessen Augen Fragezeichen waren, und setzte den Finger auf den ersten Namen auf der ersten Seite des Buches. Zeile um Zeile ging er die Vornamen durch, und als er auf der ersten Seite kein Erfolg hatte, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit nicht besonders verwunderlich war, blätterte er um, wobei er darauf achtete, die Beherrschung nicht zu verlieren. Es war wichtig, dass er sich konzentrierte, denn schließlich hatte er noch einiges vor sich. Der alte Mann wandte sich ab und ließ Samuel mit seinem merkwürdigen Vorhaben allein. Es war nicht ganz einfach wirklich jeden Namen zu lesen. Manchmal geschah es, dass Samuel eine Reihe Namen las, dann aber das Gefühl hatte sie nicht richtig registriert zu haben und die Seite von vorne beginnen musste. Nach einer Weile nahm seine Freude ein wenig ab, nicht nur weil anscheinend niemand in diesem Dorf Hera heißen wollte, sondern auch, weil es immer schwieriger wurde sich angemessen zu konzentrieren. Natürlich wusste er, dass er bis zum Ende durchhalten würde, doch so leicht wie er gedacht hatte, würde es nicht werden.
Die Stunde seiner ersten Schätzung war längst vergangen, als er die nächste Seite des Telefonbuches umblätterte und dann einen Moment den Kopf gegen die Scheibe gelehnt Ruhe fand. Von draußen kamen gedämpfte Motorengeräusche herein, und die basslastige Stimme eines Fahrgeschäftsprechers drang auf irgendwelchen Unterfrequenzen durch die klapprige Konstruktion der Telefonzelle und ließ die Materialien dröhnen. Der faulige Geruch von verschütteten Getränken und der schmutzige Boden motivierten ihn wieder zur Arbeit. Es war nicht unbeding erstrebenswert noch länger in diesem engen Raum zu bleiben, und um herauszukommen musste er bloß einen Namen finden.
Er beugte sich wieder hinunter und war darauf gefasst eine weitere Stunde zu suchen, wenn es sein musste sogar zwei, als er plötzlich innerhalb des ersten Absatzes ihren Namen entdeckte. Hera Meyers. Seine Augen fixierten diesen Namen und schienen zu zucken, wollten sie doch ihre längst in die Motorik eingefahrene Arbeit automatisch vollbringen. Samuel stand wie erstarrt und schien vergessen zu haben wie es weitergehen sollte. Meyers, Hera, Schlossplatz 4. Dahinter die Telefonnummer. Er griff zum Hörer und knallte ihn direkt wieder auf die Gabel. Nein, das war nicht der Plan gewesen. Anrufen hatte doch keinen Sinn, denn was sollte er sagen?
„Hallo, hier spricht Samuel, der Kerl, der sie eben bei ihrem Wutausbruch so merkwürdig angesehen hat. Sie haben ihren Brief verloren, und ich dachte, vielleicht wollen sie ihn wieder haben. Und, ach ja, ich würde sie gerne kennen lernen.“
Nein, das konnte nur schief gehen. Er musste sie von Angesicht zu Angesicht wiedersehen. Das Telefon hatte zu viel Distanz, und wahrscheinlich würde er ohnehin kein einziges Wort herausbringen können. Telefonieren war die alte Masche, der erste oder zweite Schritt, wenn er eine Frau normalerweise kennen lernen wollte, doch bei dieser Frau gab es andere Regeln. Von anfang an hatte er sich so verhalten, dass er anschließend über sich selbst gestaunt hatte. Wenn er jetzt einfach bei ihr anrief, hatte das den Beigeschmack vieler fehlgeschlagener Annährungsversuche aus der Vergangenheit. Wenn er aber direkt zu ihrem Haus ging, dann würde er auf diese andere Weise handeln. So speziell, so wie es nur diese Frau bewirken konnte. Es kam ihm vor, als würde er sie schon ein Leben lang kennen, und eine vertraute Wärme durchschritt seine Glieder im Rhythmus seines Pulsschlags.
Schlossplatz 4, versicherte er sich noch einmal, klappte das Telefonbuch zu und trat ins Freie. Er winkte nach dem nächsten Taxi und stieg ein. Der Fahrer war ein junger Kerl mit T-Shirt und Mütze und würde wahrscheinlich schnell fahren, wenn Samuel einen Fünfer drauflegte.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie den Schlossplatz erreichten. Die Menschen liefen dicht gedrängt, und der Fahrer hatte Mühe flüssig durchzukommen. Die Hausnummern zu seiner linken verkündeten: 131, 129, 127... Es dauerte zu lange. Samuel warf dem Fahrer einen Zwanziger hin, welcher sich wärmstens bedankte, und stieg aus. Zu Fuß war er schneller. Erst ging er im Strohm der Massen, doch dann sah er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge auftauchen und fiel unwilkürlich in einen schnelleren Lauf. 87, 85, 83... Was war, wenn sie gar nicht hier wohnte? Was war, wenn hier eine ganz andere Hera wohnte? Er hörte, wie er die Luft zwischen den Zähnen zischend einsog und verwarf diesen Gedanken schnell. Bis hierher hatte alles so gut geklappt und durfte einfach nur erfolgreich enden. War das nicht gerade der Witz an der ganzen Sache? Einmal in seinem Leben musste ihm einfach etwas Unwahrscheinliches gelingen, auch wenn er es forcierte, oder gerade weil er es forcierte. Vielleicht würden all die Ideen und Gedanken, die man sonst so schnell verwarf, weil man sie zu übertrieben oder gewagt fand, funktionieren, wenn man nur an ihnen festhielt. Vielleicht war das genau das System, nach dem das Schicksal seine Fäden spannte. Es warf einem Versuchungen hin, denen man kaum Beachtung schenkte oder sich nicht traute ihnen nachzugehen, weil es einfach zu utopisch erschien. Doch nur auf den ersten Blick. Hieß es nicht, dass man die Gelegenheiten beim Schopf packen sollte, statt darauf zu warten, bis man über eine von ihnen stolperte? 31, 29, 27...
Samuel wischte sich über die Stirn; er schwitzte. Hoffentlich würde sie das nicht abstoßen. Er verlangsamte seinen Lauf, um sich nicht völlig zu verausgaben und wechselte die Straßenseite. 14, 12, 10... Dort hinten musste es sein.
Die 4 war in einen Stein gemeißelt und in den linken Pfosten des Tores eingelassen worden und halb von Efeu überwuchert. Ein großes Gebäude mitten in der Innenstadt, das auf den ersten Blick aussah wie ein Gericht, Rathaus oder Anwaltsbüro im rustikalen Stil. Ein schmiedeeisernes Tor, das offen stand und auf einen groß angelegten Hof führte. Es gab große Blumenkübel auf gepflegten Rasenflächen und eine Statue neben einem kleinen Weg, der sich hinter das Haus schlängelte. Rechts von ihm führte eine Steintreppe an die große Einganstür, an der man mittels eines Eisenrings läuten könnte. Das Haus hatte drei Etagen. Entweder war sie oder ihre Familie gut betucht, oder sie wohnte in einer sehr großen WG. Letzteres kam, wie er jetzt feststellte, nicht in Frage, denn an der Tür verkündete ein Emailschild bloß einen einzigen Namen: Meyers.
Ungewöhnliche Frau, ungewöhnliche Reaktionen, ungewöhnliches Vorhaben und jetzt ungewöhnlicher Mut. Wie in einem Traum sah er seine eigene Hand auf den Eisenring zuschweben und ihn behutsam umschließen. Das Metall fühlte sich kalt und schwer an. Sein Herz pochte, seine Ohren summten und in seinem Magen hatte plötzlich jemand einen Eimer Eis verschüttet. Er blinzelte sich einen Tropfen Schweiß von der Wimper und schlug den Eisenring zweimal gegen die polierte, in der Sonne glänzende Platte. Das Geräusch hallte durch die Räumlichkeiten und würde sie, für den Fall, dass sie zu Hause war, dazu veranlassen, die Tür zu öffnen. Jetzt war es vollbracht und nur ein Feigling wäre in diesem Moment über die Rasenfläche, durch den großen Hof und dann durch das Eingangstor geflüchtet.
Es dauerte einen Moment, und Samuel dachte schon, all seine Hoffnung und Anstrengungen wären umsonst gewesen, als er Schritte von drinnen hörte. Es klang nach harten Absätzen, die durch einen voluminösen Raum schritten. Der Größe dieses Hauses nach zu urteilen, verbarg diese Tür wahrscheinlich eine marmorne Einganshalle. Das Geräusch kam näher, und Samuel spürte, wie der alles entscheidende Augenblick in greifbare Nähe rückte; wohnte sie hier? War sie es wahrhaftig?
Der silberne Knauf drehte sich, ein Klicken ertönte und die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Zwei Sekunden später tauchte ein Kopf auf, und Samuels Knochen vereisten.
Hera...
Ihr Antlitz war aus der Nähe betrachtet noch schöner, und diesmal sah er ihre sanftmütigen Gesichtszüge in normaler Laune, unbescholten und in Ruhe gelassen von Wallungen des Zorns. Doch dieser Moment der Stille und der Ausgeglichenheit, wie er ihn später, als er in der Dunkelheit stehend darüber nachdachte, nannte, dauerte nicht lange an, und als Hera ihn gemustert hatte, von oben bis unten, schlichen sich Zweifel, bald Unbehagen und schließlich wieder die Wut von eben in jene Ausgeglichenheit ihrer Mimik, und das Bild ward für immer zerstört. Samuel wollte gerade seine Begrüßung ansetzen und war sich sicher, dass er seine Sache gut machen würde, als es aus ihr herausbrach. Sie ließ ihm nicht einmal die Zeit, den nötigen Atem für seine Worte zu finden, da stand sie auch schon in voller Größe in der aufgerissenen Tür und begann zu schreien.
„Lass mich endlich in Ruhe du Irrer, ich will mit dir nichts zu tun haben. Was habe ich dir denn getan, dass du mir immer nachspionieren musst?“
Samuel war so erschrocken, dass er beinahe vergaß, weshalb er hier war. Wovon sprach diese Frau? Er hatte sie noch nie in seinem Leben gesehen, und sie sprach davon, dass er ihr immer nachspionierte? Sie griff nach seinem Hemdkragen und zog ihn zu sich heran. Samuel, zu verwundert, um gegenzuhalten, ließ es mit aufgerissenen Augen geschehen.
„Ich will nichts, aber auch gar nichts mehr von dir wissen oder hören. Ich habe es langsam satt, mich immer umschauen zu müssen, nur damit ich sicher bin, dass du mich nicht mehr verfolgst. Ich dachte du hättest aufgegeben, als ich dir letztes Jahr eindeutig klar machte, dass ich dich ekelerregend finde und niemals etwas mit dir zu tun haben will, geschweige denn dich an meiner Seite zu haben!“ Jetzt lachte sie, beinahe hysterisch. Samuels Unverfrorenheit überstieg anscheinend ihr Begriffsvermögen. Samuel selbst war sich sicher, dass es sich um eine Verwechselung handeln musste und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch sie kam ihm zuvor.
„Sei still! Ich hab’ dein unzusammenhängendes Gestammel satt. Ich will
keinen herumreisenden Psychopathen, den ich einmal im Jahr sehen kann, und
der Probleme hat mich zu tolerieren, hah, dass ich nicht lache, was soll das
eigentlich für eine kranke Nummer sein? Glaubst du etwa ich finde Gefallen an
deinem Gruselkabinett, deinen Gewohnheiten und Zwängen und deinen ganzen
psychopathologischen Störungen? Du bist doch gar kein richtiger Mensch mehr.
Du Irrer, du Biest. Schau mich nicht so an, du weißt ganz genau, wovon ich
spreche, oder glaubst du ich hätte dein völlig verfehltes Verhalten von vor einem
Jahr vergessen? Wahrscheinlich bist du mittlerweile so abgestumpft, dass du es
echt nicht besser weißt.“ Sie schüttelte den Kopf; ihre Gesichtszüge zitterten,
und in ihren Augen standen Tränen. Ihre Stimme klang beinahe kraftlos, als sie
fortfuhr: „Was willst du bloß von mir. Lass mich doch endlich in Ruhe. Bitte!“
Jetzt schluchzte sie. „Geh weg... ich bitte dich, geh weg...“ Sie stieß ihn von
sich, drehte sich um und schloss die Tür. Samuel hörte wie der Schlüssel
zweimal herumgedreht wurde, dann war es still.
Erst jetzt merkte er, wie schnell sein Herz raste. Nicht nur, weil sie ihn so unerwartet überfallen hatte, sondern auch, weil etwas in ihm gebrochen war. Hatte er das verdient? Hatte er verdient so abgewiesen zu werden, und dann auch noch zu Unrecht? Er hatte keine Ahnung, warum sie sich so sicher war, dass er sie irgendwann belästigt haben sollte. Es war einfach nicht fair.
Unwillkürlich ging er einen Schritt auf die Tür zu und wollte erneut klopfen, als die Traurigkeit ihn stoppte. Nein, was hier eben auch passiert sein mochte, es war zu ende. Sie würde ihm nicht noch einmal aufmachen, geschweige denn ihn anhören. Es war vorbei, sie hatte ihm entsagt.
Langsam entfernte er sich; rückwärts gehend, seinen Blick auf die Tür gerichtet, der Ort, an dem sie eben noch gestanden hatte. Er merkte kaum, als er mit dem Rücken gegen einen der steinernen Torpfosten stieß. Er verließ das Grundstück und ging ein paar Schritte, doch dann spürte er, wie sehr ihn ihre abweisende Rede getroffen hatte und ließ sich an einer Mauer auf die Knie sinken. Er atmete unregelmäßig und stoßweise, konnte kaum aufrecht sitzen und musste sich immer wieder zusammenreißen, weil sein Blickfeld an Schärfe verlor und unkontrolliert zitterte.
Beinahe nebensächlich fiel ihm auf, dass seine rechte Hand immer noch den Brief hielt. Jetzt nicht mehr wie einen Talisman, sondern eher wie ein rettendes Seil im weiten Ozean der Niedergeschlagenheit.
Er entfaltete den Brief ein zweites Mal, kniff die Augen zusammen, um die Buchstaben erkennen zu können und merkte, dass es ihm jetzt leichter fiel. Die Hieroglyphen von eben waren fort, und vor ihm auf dem Blatt bildeten sich lesbare Zeilen, gefüllt mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis.
Samuel begann zu lesen, und die Worte hallten in seinem Inneren wider, wie die flüsternden Stimmen aus einem alten, längst vergessenen Traum.

Ich will nicht dramatisch klingen, aber es traf mich sprichwörtlich wie ein Schlag. Genauso wenig will ich pathetisch klingen, wenn ich sage, dein Haar gleicht rotem Feuer, brennend auf einem weißen Berg aus schlichter Schönheit. Das nette Gesicht, an dessen Anblick ich mich lange labte, denn die Zeit schien plötzlich stillzustehen. Augen so glänzend wie Diamanten, tiefschwarz, und manchmal bedeckt von Augenlidern, deren Wimpern einen Aufschlag vollführen, der mich in Leidenschaft davonspült.
Falls ich doch pathetisch oder dramatisch klingen sollte, so hieße das, ich hätte übertrieben, aber bei deiner Schönheit muss ich angesichts dieses Gedanken lachen, denn das, was man übertreiben nennt, ist zumindest mit Worten an dir nicht möglich, und so sehr ich auch nachdenke, mir fällt kein beteutungsschwererer Weg für Komplimente ein als der Weg der Worte.
Schon die ersten paar Sekunden deiner Erscheinung raubten mir die Sinne, und so stand ich wie betäubt eine Weile da. Dann, mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber es waren sicher nur wenige Augenblicke, wurde mir die Ehre zuteil dich berühren zu dürfen. Nicht unflätig oder anmaßend, wie manch einer denken könnte, sondern beiläufig und zurückhaltend, mit ein paar Fingerspitzen an deiner linken Schulter. Erschrocken und beeindruckt von der Attraktion schriest du deine Angst laut heraus, die keine wirkliche Angst war, und drehtest deinen Kopf in meine Richtung. Ich wurde Zeuge des eben erwähnten Wimpernaufschlages, und die Kraft dieser schlichten Augenlidbewegung, wie sie nur Frauen wahrhaft einzusetzen vermögen, zerrüttete mich wie ein Erdbeeben das Land. Der Moment dauerte an, zumindest in meiner Vorstellung, doch dann öffneten sich die Klappen zum nächsten Raum, und du verschwandest hinter einer Kurve und warst hinaus aus meinem Blickfeld.
Du magst dich fragen, wovon ich rede. Ich war nie ein erfolgreicher und hart arbeitender Mensch, und so kam es, dass mein Vater vor einigen Jahren zu mir sagte: ‚Junge, bevor du gar nichts wirst, arbeitest du bei mir!’ Ich war nicht glücklich über diese Entscheidung, die mehr ein Befehl war, doch nach einiger Zeit lernte ich die Arbeit bei meinem Vater zu lieben.
Während er im Kassenhäuschen den Kartenverkauf regelt, stehe ich oben in der zweiten Etage der Geisterbahn auf meinem dunklen Posten zwischen Spinnweben, Monstern und Untoten und warte in meinem Dr. Jekyll und Mr. Hyde Kostüm auf Fahrgäste, die langsam und gruselbereit in kleinen Doppelwagen an mir vorbeifahren. Erst sieht es so aus, als wäre ich eine der Wachsfiguren, glaubt doch jeder automatisch, keines dieser Monster würde tatsächlich leben, doch dann, wenn sie mit mir auf einer Höhe sind, mir teilweise direkt in die Augen schauen, während sich in ihrem Inneren ein aufkeimendes Bewusstsein den Weg zu ihrem Denken bahnt, dass der Glanz in diesen Augen vielleicht doch ein echter ist, dass ich vielleicht doch lebendig sein könnte, ja dann, in diesem Augenblick des Verstehens, strecke ich meine behandschute Hand nach ihnen aus und berühre sie. Meist lache ich, bemüht darum den Grusel noch zu verstärken, während sie schreien, die Augen weit aufgerissen, gefüllt mit echtem, mit blankem Entsetzen.
Erst war ich nicht glücklich darüber diese Arbeit jeden Tag machen zu müssen und zum nächsten Ort zu reisen, um dort wieder nur Schrecken zu verbreiten, doch schließlich fand ich Gefallen daran. Mein Dr. Jekyll und Mr. Hyde Kostüm verleiht mir die Kraft meine Arbeit immer wieder zu tun. Wäre ich ein Monster oder ein Gespenst in einem weißen Tuch, so könnte ich niemals so viel gefallen daran finden und wäre bestimmt längst einer starken Depression erlegen. Dieses Kostüm gibt mir in den Stunden dort oben in der Dunkelheit beschallt von hydraulischem Zischen und meschanischem Klappern der Geisterbahn eine Identität, nach der ich mittlerweile eine Sucht verspüre. Lege ich dieses Kostüm zu lange ab und verkehre in der Welt der Leute, die mich vielleicht besuchen, die ich dann vielleicht berühren könnte, dann verspüre ich ein Gefühl der Leere, das derart an meinem Geisteszustand zerrt, dass ich oft starke körperliche Schmerzen oder einen Gedächtnisverlust davontrage.
Doch gestern Abend änderte sich plötzlich alles. Gestern Abend traf ich dich. Du zeigtest mir, dass es ein anderes, ein schöneres Leben gibt, als jenes, das ich gerade führe. Ich verlange nicht von dir, dass du zu mir kommst, zu mir und meinen Geistern, nein, ich bitte dich darum mir Einlass in dein Leben zu gewähren. Bitte, lass mich zu dir. Ich verspreche, dass ich mich niemals auch nur ein einziges Mal wieder in diese Bahn stellen werde. Es wäre schade um meinen Vater und den Dienst, den ich ihm über all die Jahre so treu geleistet habe, aber damit wird dann Schluss sein. Ich verspreche dir, dass ich hart daran arbeiten werde die alten Gewohnheiten als eines der Monster abzulegen, sie aus mir zu treiben und alles was dieses spezielle Verhalten mit sich bringt auszutilgen.
Ich gestehe es mir bei all der Liebe zu dir nur ungern ein, aber ich würde dich in den ersten Wochen unserer Zweisamkeit nur wenig tolerieren können, da mir die Aufgabe des Erschreckens schon so in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass ich dich wohl immer von mir scheuchen würde. In der zweiten Etage zwischen Staub und Lärm der Bahn habe ich mir ein gewisses Revierverhalten angeeignet, das den Erfolg meiner Arbeit dort auch merklich verbessert hat. Je weniger Toleranz du den Leuten, die an dir vorüberfahren und unverfroren in dein Gebiet eindringen, gegenüberbringst desto besser wirst du sie erschrecken können. Das ist eine einfache, aber sehr effektive Regel, die ich wie ein Gebetsmantra in mein Bewusstsein gehämmert habe und die nur mit deiner Liebe wieder zu vertreiben ist. Deshalb zähle ich auf dich, weiß, dass ich auf dich zählen kann, denn du bist der Mensch, den ich liebe, und du wirst sehen, dass sobald ich dich tolerieren kann auch meine menschliche Seite zum Vorschein kommt. Wir brauchen Zeit miteinander, viel Zeit. Doch die werden wir beiden doch haben, oder nicht?
HERA, ich liebe dich! Noch kann ich es dir nur schreiben, doch bald werde ich es dir beweisen können. Befreie mich von meiner Last; Liebende tuen das für einander.
Du wirst nicht mehr lange warten müssen, bald werde ich bei dir sein...
In Liebe, Samuel

Er hatte gar nicht bemerkt, dass er beim Lesen aufgestanden war und unsicher Richtung Jahrmarkt taumelte. Sein Körper stieß gegen Fassaden und Zäune; manchmal fiel er hin. Sein Blickfeld war jetzt völlig verschwommen, und er betrachtete seine eigenen Bewegungen wie ein parteiloser Beobachter. Die Welt war anders geworden, und irgendetwas surrte enervierend in seinen Ohren. Eindrücke zerflossen zu Geschrei, Licht tat in den Augen weh und Bewegungen schmierten gegen die Außenwände seiner visuellen Wahrnehmung.
Als er den Jahrmarkt schließlich erreichte, war es schon dunkel geworden; Zelte und Attraktionen standen auf dem Platz wie vergessene Spielzeuge. Nach kurzer Orientierungslosigkeit fand er die Bahn und erklomm die rückwärtige Fassade wie es nur Mitarbeitern gestattet war. Er fand seinen Weg vorbei an leblosen Monstern und phosphoreszierenden Plastikspinnen und erreichte schließlich das kleine Podest in der zweiten Etage. Verwirrt und hilflos zog er sein Kostüm an, nahm Position ein und starrte in die Dunkelheit. Seine Schicht würde zwar erst morgen Nachmittag beginnen, aber es war doch gut pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, oder nicht?
Samuel stand da, die Arme hoch erhoben und bereit für seine Aufgabe. Er blickte in den leeren Gang vor sich und dachte darüber nach, was eigentlich geschehen war.
So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht erinnern...

-13.8.2004-

 

Hi Lukas,
danke für deine Kritik, auch wenn sie wirklich sehr hart ist. Naja, das mit dem Dorf oder der Stadt habe ich tatsächlich nicht weiter berücksichtigt.
Schade, dass du von der Sprache genervt warst, denn eigentlich ist sie nicht sonderlich auf den Charakter Samuel zugeschnitten. Metaphern und dergleichen trafen wohl nicht deinen Geschmack...
Der Brief war natürlich extra ein wenig angezogen formuliert. Ich würde aber schon meinen, dass er eine neue Erkenntnis enthält. Wusstest du etwa schon vorher, dass Samuel selbst der Verfasser ist? Wenn ja, dann sollte zumindest die Sache mit der Geisterbahn neu gewesen sein.
Wie auch immer, ich glaube, ich kann dich nicht mehr überzeugen! Vielleicht mit der nächsten Geschichte... Trotzdem danke fürs Lesen.

 

Hallo Frosch! :-)

Leider muss ich mich Lukas anschließen. Die Idee an sich ist nicht mal schlecht, aber wo ist der Horror, wo ist die Spannung? Der Text ist sehr langatmig, an manchen Stellen sogar langweilig und man ertappt sich selbst dabei, wie man ungeduldig die Zeilen überfliegt. Die Sätze sind teilweise viel zu lang und verschachtelt, auch die Dialoge klingen (in meinen Ohren) unglaubwürdig. Sprechen so "richtige" Menschen? Auch hast du sehr viele Wortwiederholungen drin und die kaum vorhandenen Absätze erleichtern das Lesen auch nicht gerade. Hier noch ein paar Details:

Das Dorf war nicht das größte und wurde von weniger als zehntausend Einwohnern besiedelt,
Wie Lukas schon sagte: ein Dorf mit 10000 Einwohnern? Und dann ist es noch nicht mal das größte? Wie viele Einwohner haben dann erst deine anderen Dörfer? ;-)

Sie hielt einen aufgefalteten Brief in den Händen
Erstens würde ich nur "Sie hielt einen Brief in den Händen" schreiben, zweitens: woher weiß Samuel, daß es ein Brief ist? Es könnte genauso gut ein leeres Blatt Papier oder ein Songtext, ein Einkaufszettel oder ein ausgedrucktes Foto sein.

Aber er lachte sie nicht aus, wenn überhaupt so lachte er über sie,
Sorry, aber wenn ich über jemanden lache, dann lache ich ihn doch aus, oder nicht?

weil sie das nächste Taxi suchte
Wieder: woher weiß Samuel das?

Der ältere Herr warf ihm wütend ein paar böse Worte an den Kopf, da ihm derartige Dreistigkeit, mit der man vorgeganen war, um sein Gespräch zu unterbrechen, wie er beteuerte, noch nie in seinem Leben widerfahren war.
Argh, sehr übel dieser Satz. Lass das Passiv weg und schreib es nicht so verschachtelt, ist ganz schlecht zu lesen.

und in seinem Magen hatte plötzlich jemand einen Eimer Eis verschüttet.
das gefällt mir!

Teilweise bringst du gute Metaphern und Beschreibungen, zerstörst sie dir aber oft noch im gleichen Satz selbst. Du setzt immer wieder noch einen drauf, erklärst und beschreibst solange bis es den Leser nervt. Vorallem der Brief mit dem endlosen Gerede über Heras Schönheit...

Kein richtiger Kritikpunkt, aber trotzdem finde ich auch die ganze Location und die Namen seltsam. Samuel ... Hera Meyers. Spielt die Geschichte in England oder den USA? Warum gibt es dann dort einen Schlossplatz?

Tut mir wirklich leid, daß ich nichts netteres schreiben kann, aber mir hat's nunmal nicht gefallen.

Trotzdem viele Grüße
Mike

 

Hallo Maschinenfrosch,

ich kann mich den anderen Meinungen nur bedingt anschließen. Wirklich beängstigend ist die Erzählung nicht, aber auch auf keinen Fall uninteressant! Insbesondere die überaschende Wendung am Ende gefiel mir gut. Leider ist der Text tatsächlich an einigen Passagen sehr in die Länge gezogen und zu sehr mit Wiederholungen gesprenkelt. Vermutlich hast du gerade durch den öfters eingeworfenden Hinweis auf Heras Schönheit und Samuels verwirrte Besessenheit von ihrer Person auf die Poante hingearbeitet. Was die langen verschachtelten Sätze betrifft, ich hatte größen Spaß daran, sie zu lesen. Meiner Ansicht nach, sind sie (neben dem Ende) das eigendlich Reißvolle an deiner Geschichte!

bye, Snoopie

 

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