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Vielleicht, weil wir beide einsam waren
Vielleicht gibt es keinen Grund zu sterben. Aber gibt es einen zum leben?
Davon war ich schon so lange überzeugt gewesen. Als ich meinen geschwächten Körper an diesem Tag durchs Unterholz trieb war ich fast so weit. Wie ein verwundetes Tier suchte ich nach einem geeigneten Platz zu sterben. Meinen Verfolgern war ich ein letztes Mal entkommen. Von weit her hörte ich das Tosen des Meeres. Die salzige Seeluft übertünchte sogar den metallischen Blutgeschmack in meinem Mund. Langsam verdichtete sich ein wohltuender Schleier vor meinem Auge und trübte das Antlitz dieser dreckigen Welt. Als meine Beine zusammenklappten und ich unsanft auf dem harten Erdboden landete, wünschte ich mir eine Sekunde lang, dass ich die Zeit, die mir gegeben wurde, besser genutzt hätte ...
... Vielleicht blieb dieser Wunsch nicht ungehört, denn ich wachte wieder auf. Ich lag in einem mehr oder minder weichen Bett. Um meine Hüfte war ein strammer Verband gelegt, unter dem sich ein großer Fleck vertrockneten Blutes abzeichnete. Durch das große Zimmerfenster strömte bündelweise Tageslicht. Von draußen ertönte der penetrante, aber wohlklingende Gesang eines Vogels. Ich richtete mich keuchend auf. Die Verletzung tat immer noch höllisch weh. Das Zimmer in dem ich ruhte war spartanisch eingerichtet. Auf einem altmodischen Holzstuhl in der Mitte lag mein schwarzer Anzug. Auf dem weißen Hemd waren keine Blutspuren mehr erkennbar. Nur das kleine Loch im Stoff war geblieben. Ich selber war nur noch mit einer grauen Shorts bekleidet. Mühsam schob ich mich aus dem weichen Bett und lief rüber zum Fenster. Das Holz verzog sich bei jedem meiner Schritte. Der Himmel draußen war wolkenlos und von einem zarten Blau. Die Sonne tänzelte über den großen See und ließ die Oberfläche glitzern. Ein wirklich grandioses Panorama. War ich verdammter Penner vielleicht durch einen Zufall mit in den Himmel gerutscht? Ich beschloss mich anzuziehen und das Zimmer zu verlassen. Eine gefährlich steile Holztreppe sollte mich nach unten führen. Diese Hütte hier war nicht groß. Es gab weder Küche noch Wohnzimmer. Keine verdammte Couch oder eine andere Sitzmöglichkeit.
„Wer zum Teufel kann hier bloß wohnen“, knurrte ich unter Schmerzen und öffnete die Tür nach draußen. Ein erfrischender Luftzug kam mir entgegen.
Dort draußen sah ich sie dann zum ersten Mal auf der Bank sitzen.
Sie hatte einen schäbigen, braunen Rock und einen gelben Strickpulli an. Ihr weißes, welliges Haar trug sie schulterlang. Während das Sonnenlicht ihre Haare erstrahlen ließ, lächelte sie mir aus einem faltigen aber freundlichen Gesicht entgegen. Ich zog die die Augenbrauen hoch. War nicht ganz sicher, was ich von dieser Erscheinung halten sollte. Sie aber streckte die Hand aus und bot mir mit eindeutigen Gesten einen Platz neben ihr auf der Bank an. Ohne zu murren folgte ich ihrer Aufforderung. Ich hatte dieser alten Lady scheinbar einiges zu verdanken. Erst als ich sie aus nächster Nähe sah, konnte ich erkennen, dass ihre Augen jeglichen Glanz verloren hatten. Sie war blind.
Ich weiss nicht mehr, über was wir uns anfangs unterhielten. Im Nachhinein betrachtet war ich sicherlich nicht besonders nett und zuvorkommend gewesen. Ihre Frage, warum und wo ich denn diese Schussverletzung abbekommen hatte blockte ich entschieden ab. Meine Lage war verdammt ernst. Ich würde nicht hier bleiben können. Dieses alte Weib wusste ohnehin schon zu viel und meine Verfolger schliefen nicht. Dennoch war ich daran interessiert gewesen, wie sie es geschafft hatte mich zu behandeln und wie sie hier so ganz ohne Hilfe zurechtkam. Diese Frage beantwortet sie mir nur zum Teil. Ein Bauer brachte ihr täglich ein wenig Essen vorbei. Gemüse und Abfälle. Eben das, was er selber abzweigen konnte. Mit dieser Nachricht war ich bedient. Ich war erstaunt, als sie mir wenig später einfach so meine Schusswaffe zurück gab und mich gehen ließ.
Sie saß auf der Bank und starrte in die Leere als ich ging. Die Abendsonne stand noch stark am Himmel und tauchte die Umgebung in ein tiefes Bordeauxrot. Sie lächelte, obwohl sie mich nicht sehen konnte. Als ich mich entschieden umdrehte, entschlossen hier ohne ein Wort des Dankes zu verschwinden, war sie es die sprach.
„Ich würde mich über ein wenig Gesellschaft freuen.“
Ihre Stimme war warm und freundlich. Ohne einen Ton des Zornes, gleich meiner Undankbarkeit. Ich überlegte kurz. Ich war immer noch schwach auf den Beinen und hatte nichts zu essen. Kein Dach über dem Kopf und kein Ziel vor Augen. In diesem Augenblick wurde mir wieder einmal schlagartig klar, wie entsetzlich wenig ich zu verlieren hatte. Diese alte Lady brauchte Gesellschaft? Wenn ich dadurch überleben würde, warum auch nicht? Wortlos ging ich ins Haus zurück, bemerkte aber im Augenwinkel, dass ihr Lächeln nicht verflogen war.
Die Zeit wird zu deinem schlimmsten Feind, wenn du zu viel davon hast. Ich hatte immer zu viel Zeit, aber in diesen Wochen und Monaten traf ich mit der alten Frau ein stilles Abkommen. Ich schuftete mir bei ihrem Bauern die Hände wund und brachte somit Futter nach Hause. Viel zu wenig eigentlich, für die Drecksarbeit die ich da zu erledigen hatte, aber es reichte für uns beide. Als Gegenleistung blieb ich bei ihr wohnen. Mitten im Nirgendwo. Weit und breit nur endlose Felder und Bäume. Ich beschwerte mich nicht darüber. Es war ungewohnt für mich, aber ich genoss die Ruhe. An den Wochenenden bekam der Bauer für gewöhnlich Besuch von seinen beiden Töchtern. Eine von ihnen war ein ziemlich durchtriebenes Luder. Ich traf mich jedes Mal mit ihr in der Scheune um zu vögeln. Wir hatten immer nur wenig Zeit, weil ihr Vater sonst Verdacht geschöpft hätte, aber irgendwann geschah das sowieso mit einer gewissen Routine. Mit der alten Frau sprach ich nie mehr als nötig. Es gab Abende, da saßen wir am kleinen Kamin zusammen und schwiegen uns an. Ich nahm mir trotzdem die Zeit zu beobachten. Meistens saß sie einfach nur draußen auf der Bank und starrte ins Leere. Ziemlich regelmäßig bekam sie Besuch von einer großen, schwarzen Krähe. Eine humpelnde Krähe, das Viech hatte irgendeine Behinderung. Immer wenn sie kam zauberte sich ein Lächeln auf das faltige Gesicht der Frau und sie fütterte sie mit meinem schwer verdienten Brot. Ich sagte nichts dazu, immerhin hatte sie ja sonst keine Freuden. Ein Tag verlief wie der andere, und das über einen sehr langen Zeitraum. Zwischenzeitlich konnte ich sogar meine Sorgen vergessen. Bis zu jenem Abend...
Ich hatte wieder viel gearbeitet an diesem Nachmittag. Mindestens einmal pro Woche ging ich abends nach dem Schuften rüber zum großen See und rauchte eine Zigarette. Ein Luxus, dem ich nicht oft nachgehen konnte. Nur ab und an, wenn der Bauer einen guten Tag hatte, steckte er mir eine zu. Ich rauchte sie nicht auf der Arbeit, so groß die Versuchung auch war. Hier am Wasser konnte ich ausspannen. Unter den großen Tannen lebte ich die Erinnerung an längst vergangene Tage. Die Erinnerung an bessere Zeiten lag allerdings arg tief begraben. Ich rannte diesen Zeiten auch nicht mehr hinterher. Schade war nur, das alle Personen aus meinem früheren Leben mehr und mehr an Bedeutung verloren. Sie verblassten im Strudel der Zeit. In dieser Umgebung aber fühlte ich mich wohl. Hier hatte die Zeit keine große Bedeutung. Hier war ich verletzlich und deswegen war ich auch gar nicht erfreut darüber, als die alte Frau eines Tages beschloss mir Gesellschaft zu leisten. Sie setzte sich einfach neben mich aufs Gras. Allerdings mit gebührender Distanz.
„Was soll das?“, fuhr ich sie harsch an.
Ich hatte nichts übrig für Smalltalk. Es gab nichts zu sagen. Ich interessierte mich nicht für ihre Probleme und sie tat das auch ganz sicherlich nicht für meine. Alle Menschen waren so. Man hatte immer nur seine eigene kleine Welt im Kopf. Die anderen hatten keinen Platz darin und waren scheißegal.
„Warum bist du so verbittert?“, fragte sie gewohnt ruhig. Ich meinte dabei wieder dieses Dauerlächeln auf ihren Lippen zu sehen. Aber das hatte sie ja immer. Musste an ihrer Behinderung liegen.
„Warum sind sie es nicht?“, konterte ich trotzig und wollte damit jedweden Anflug einer Konversation zerstören.
„Sie sind blind und bettelarm und ich habe keine Zukunft. Also, was wollen sie von mir?“
Ich hasste diese Leute. Sie drohten selber von ihren Problemen erdrückt zu werden, ließen es sich aber nicht nehmen, sich zusätzlich noch die Probleme anderer aufzuhalsen. Diese alte Frau hatte nichts. Sie war nichts. Höchstens überfällig.
„Hast du meinen geflügelten Freund gesehen?“, fragte sie überschwänglich und glücklich.
„Die verkrüppelte Krähe?“
Die alte Frau lächelte.
„Was soll mit der sein? Die ist genau so ein Verlierer wie sie und ich“, sagte ich bemüht nüchtern.
„Ihre Artgenossen haben sie aus ihrem Kreis ausgestoßen, weil sie anders war.“
„Sehen sie“, sagte ich. „Es ist genauso wie mit uns. Wir sind nur Abfallprodukte unserer Gesellschaft. Wer nicht richtig funktioniert, wird zertreten.“
Die alte Frau senkte nachdenklich den Kopf. Ihr Lächeln aber blieb dem runzeligen Gesicht erhalten.
„Diese Krähe denkt aber nicht so“, sagte sie entschlossen.
„Was sie nicht sagen“, antwortete ich gelangweilt und genoss die letzten Züge an meiner Zigarette.
„Sie mag vielleicht nicht mehr zu ihren Artgenossen zurückkehren können, aber dafür hat sie mich. Ich kümmere mich um sie und gebe ihr Nahrung.“
Ich wunderte mich über den Geisteszustand dieser alten Hexe. Hatte sie etwa so wenig, dass sie jetzt sogar schon anfing in den Tieren ihre Freunde zu sehen?
„Dieser Vogel ist ein Schwächling. Er schafft nichts selber.“ Ich warf den Zigarettenstummel ins Wasser und schaute nach oben. Der Mond stand voll und schön am Himmel. Keine einzige Wolke trübte seinen Glanz. Der Horizont war vollgespickt mit Sternen. Auf dem dunklen Wasser des Sees tänzelte ein silbriges Mobile.
„Ist es aber nicht schlussendlich egal, ob man schwach oder stark ist? Wenn alles vorbei ist kehrt man zur Erde zurück. Man wird zu braunem Unrat und nährt damit den Boden. In diesem Punkt ist jede Existenz dieses Planeten miteinander verbunden. Es gibt keine Außenseiter oder Verlierer und auch keine Gewinner. Alles endet mit der Wiederkehr zum Ursprung.“
Die alte Frau drehte sich zu mir hin und lächelte mir warmherzig entgegen. Vielleicht wartete sie darauf, dass ich eine Antwort formulierte, aber das konnte ich nicht. Sie hatte mir gehörig den Wind aus den Segeln genommen. Aber das war auch egal. Keiner kannte die Wahrheit.
„Sind sie etwa wirklich glücklich mit dieser Welt?“, fragte ich sie vorwurfsvoll.
Sie zögerte kaum.
„Oh ja, das bin ich. Ich bin dankbar für jeden Tag.“ Während sie das sagte, konnte ich doch tatsächlich so etwas wie Glanz in ihren trüben Augen erkennen.
„Dann beneide ich sie.“
Ich wollte aufstehen und gehen, aber letztendlich folgte ich ihrer Bitte, doch noch ein wenig bei ihr zu bleiben.
„Ist der Abend schön?“, fragte sie erwartungsvoll mit Blick ins Leere.
„Ist er...“, erwiderte ich knapp.
„Sind sie schon immer blind gewesen?“ Mich interessierte die Antwort eigentlich nicht, aber ich konnte mich aus dieser Unterhaltung nicht mehr ausklinken.
„Nein.“
„Aha. Mehr wollte ich auch gar nicht wissen.“
„Warst du denn schon immer so unglücklich mein Junge?“
„Ja, solange ich denken kann.“
„Warum?“
Ich schaute die alte Frau mürrisch an. Ich hatte mit dieser Antwort gerechnet.
„Warum wollen sie das wissen?“
„Weil ich glaube, dass ich helfen kann“, erwiderte sie prompt.
Ich musste lachen. Was bildete sich dieses alte Weib eigentlich ein? Ihre Worte waren einen Dreck wert. Mir konnte keiner helfen. Und dennoch antwortete ich.
„Weil Gott mich und die Welt verlassen hat.“
Einige Sekunden lang herrschte absolute Ruhe. Nur das penetrante Zirpen der Grillen und das leise Plätschern des Wassers war zu hören.
„Man wird nicht ohne Grund so zornig mein Junge. Was ist geschehen?“
Ich weiß zwar nicht, warum ich mich darauf einließ, aber in dieser Nacht wollte ich es einfach mal probieren.
„Es fing schon bei meiner Geburt an. Sie müssen wissen, ich hatte mal eine ältere Schwester. Wir hatten es nicht leicht zu Hause. Meine Mutter war krank und bettlägerig. Sie hatte eine schlimme Krankheit. Muskelschwund. Wir sahen sie langsam dahinsiechen. Meine Schwester kümmerte sich um sie. Rund um die Uhr, während mein versoffener Vater vor der Glotze hing. Mama veränderte sich immer mehr. Von ihrem guten Gemüt blieb bis zum Schluss nichts mehr übrig.“
Ich brauchte eine kurze Verschnaufpause. Diese verdammten Erinnerungen wühlten mich doch wieder mehr auf als erwartet. Ich hatte so lange nicht darüber geredet. Ich hatte eigentlich nie mit jemandem darüber reden können. Vielleicht lag es daran. Die alte Frau jedenfalls fiel mir nicht ins Wort. Auch ihr Grinsen hatte sie zum Glück abgelegt.
„Anfangs glaubte ich, es läge an der Krankheit. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass es bei ihr einfach nur der Hass auf die Welt und die Angst vor dem Tod waren, die sie verrückt machten. Nach ihrem Ableben war nichts mehr so wie es einmal war. Vater veränderte sich ebenfalls. Es blieb nicht beim Suff. Er fing an, Gefallen daran zu finden mich grün und blau zu schlagen. Das ging wochenlang so, bis er eines Tages urplötzlich damit aufhörte. Zuerst freute ich mich, dass es vorbei war, aber dann sah ich im Gesicht meiner Schwester immer häufiger blaue Flecke und Blutergüsse. Sie sagte mir, dass es in Ordnung wäre.“
Ich bemerkte gar nicht wie mein Körper zitterte, als ich diese Sätze aussprach. Die alte Frau rückte näher an mich heran. Sie griff meine Hand. Ich schüttelte sie ab, aber irgendwann ließ ich sie einfach machen.
„Eines Nachts hörte ich meine Schwester aus dem Nebenzimmer schreien. Ich hörte die Gürtelschnalle meines Vaters und das laute Knacken des Lattenrostes, als er sie auf das Bett warf. Ich hielt mir die Ohren zu. So feste, dass alles schmerzte. Aber ich hörte nichts mehr. Am nächsten Tag sah ich meine Schwester nicht. Ich lief raus in die Stadt. Spielte bis spätabends Fußball mit den anderen Kindern. Als ich kurz vor unserem Haus war, hielt ich inne. Es war so ruhig. Ich spürte, dass irgend etwas nicht in Ordnung war.“
Die ersten Tränen begannen, die Realität um mich herum zu fluten. Ich wollte nicht heulen, aber mein Körper gehorchte nicht.
„Als ich das Wohnzimmer betrat, war alles voller Blut. Vaters Sessel ebenso wie der Teppich.
Meine Schwester saß völlig apathisch und ebenfalls blutverschmiert auf dem Boden. Sie schaute mich an und ihre Augen waren so entschuldigend und traurig zugleich.“
Es fiel mir deutlich schwerer zu sprechen und meine Stimme bebte. Die Trauer und Hoffnungslosigkeit schnürten mir die Kehle zu.
„Man hat sie einen Tag später abgeholt. Sie hatte mich noch ins Bett gebracht und für mich gesungen. Ein so trauriges Lied. Am nächsten Morgen war sie einfach weg und ich wurde von den Behörden abgeholt und weit weg gebracht. Meine Pflegefamilie bemühte sich wirklich, mit mir zurecht zu kommen, aber ich machte es ihnen nicht einfach. Ich pöbelte und erpresste andere Jungs. Ein Jahr später ging dann die Nachricht vom Tod meiner Schwester bei uns ein. Sie hatte sich im Gefängnis erhängt. Es gab keinen Abschiedsbrief. Ihre persönlichen Sachen wurden mir übergeben. Das meiste waren unbrauchbare Dinge, aber in einem kleinen Bilderrahmen hatte sie ein Bild von unserem Vater aufbewahrt. Ich verstehe bis heute nicht, warum sie das mit sich herum trug. Dieser Bastard hatte alles kaputt gemacht. Er hatte unser Leben zerstört.“
„Und was war dann?“, schaltete sich die alte Frau das erste Mal wieder ein.
„Mit sechzehn Jahren trat ich einer Straßengang bei. Wir erledigten krumme Dinger für ziemlich finstere Leute. Ich weiß gar nicht mehr, wie es dazu kam. Eins ergab das andere und heute bin ich selber einer dieser Leute.“
Ich schaute der alten Frau boshaft in die Augen, wohl wissend jedoch, dass sie mich nicht sehen konnte.
„Sie wollen wissen wer ich bin? Ich bin ein Killer, ein Schurke und Ganove. An meinen Händen klebt das Blut unzähliger Menschen. Auf mich sollte die Hölle warten, wenn ich denn daran glauben würde.“
Die alte Frau schüttelte mitleidig und ernst den Kopf.
„Wie kommt es dann, dass ich momentan nur das einsame Kind in dir sehen kann? Zutiefst traurig und vom Hass zerfressen. Du bist ein Mörder, aber kein schlechter Mensch. Nicht schlechter, als andere Menschen auch.“
Ich schaute die Frau verwirrt und völlig aufgelöst an. Ich wusste, dass ihre Worte Lügen waren, aber wie sie es mit ihrer wohltuenden Stimme aussprach, wollte ich ihr einfach glauben.
„Woher nehmen sie dieses Vertrauen an die Menschheit? Man hat sie hier einfach zurückgelassen. Niemand kümmert sich um sie. Also warum?“ Meine Stimme hatte sich wieder ein wenig gefestigt. Die Tränen hatten aufgehört zu fließen. Neue Härte stieg in mir auf.
„Das stimmt nicht. Der Bauer bringt mir regelmäßig Essen vorbei.“
„Abfälle. Sie kriegen das, was normalerweise den Schweinen zum Fraß vorgeworfen wird.“
„Aber es ist dennoch Nahrung oder?“
Ich hasste diese Frau. Sie hatte anscheinend für alles eine Antwort. Am liebsten hätte ich ihr die Kartoffelschalen und maroden Karotten ins Maul gestopft, auf dass sie an ihrem Optimismus verrecken würde.
„Ich habe genug gehört. Glauben sie mir eins Lady, jeder Mensch ist ein hundertprozentiger Narzisst. Nächstenliebe gibt es nicht."
Ich stand entschlossen auf und machte mich auf den Weg zurück zum Haus.
„Das ist die einzige Wahrheit. Der einzige Sinn im Leben ist der, nach einem möglichen Sinn zu suchen. Und wenn sie mich fragen. Den gibt es nicht...“, war das letzte was ich zu ihr sagte.
In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. Meine Gedanken drehten sich wie so oft im Kreis. Aber das war es nicht alleine. Ich wartete auch darauf, dass die alte Frau nach Hause kam. Ob sie immer noch am See saß und nachdachte? Ich weiß nicht, wie lange ich wach blieb um auf sie zu warten, aber irgendwann übermannte mich die Müdigkeit...
Am nächsten Morgen waren die Sorgen des Vortages vergessen und ich schämte mich dafür, Gefühle gezeigt zu haben. Ich war längst nicht so hart wie ich immer gedacht hatte. Dass der Ausbruch derart heftig werden würde, hatte ich allerdings nicht erwartet. Auch die Sorge um die alte Frau war verflogen. Gestern war gestern. Ein kurzer, unnötiger Augenblick, der sich nicht wiederholen würde. Ich griff mir die Arbeitskleidung vom Stuhl und trampelte pfeifend die Treppen runter. Draußen auf der Bank traf ich die alte Frau an. Für gewöhnlich sagte sie nichts, wenn ich verschwand. Ich war froh darüber, dass sie auch heute ihren Mund hielt. Sie war schon eine seltsame Person. Gütig, wohl wahr, aber anscheinend auch total verrückt durch die Einsamkeit. Was sollte der Scheiß mit der Krähe. War sie derartig vereinsamt, dass sie eine Beziehung zu Tieren aufnehmen musste, um nicht komplett den Verstand zu verlieren? Wenn es sie denn glücklich machte, konnte es mir ja egal sein. Zähneknirschend lief ich den langen Kiesweg entlang und summte dabei unabsichtlich das Abschiedslied meiner Schwester...
Dieses Mal kam ich etwas früher nach Hause. Der Bauer hatte einen guten Tag gehabt und mir statt dem üblichen Sack mit Gemüse einen weiteren hinzu gegeben. Seine Tochter wollte heiraten. Ja genau, das Luder, das ich regelmäßig durchfickte, wollte sich trauen lassen. Einen Mann aus dem Mittelstand hatte sie auserkoren. Solche Verbindungen waren natürlich vorteilhaft für ärmere Leute. Ich denke, das war auch der einzige Grund warum sie ihn nahm. Warum sonst wohl sollte sie immer wieder zu mir kommen? Vielleicht hatte ich auch einfach nur den größeren Schwanz. Was interessierte mich schon dieses Flittchen und ihr gutbürgerliches Leben. Solange ich meinen Spaß hatte und dafür sogar die doppelte Menge Gemüse von ihrem Vater bekam, war alles in Ordnung.
Ich hatte Luft, Wasser und mehr Freiheiten als jeder andere funktionierende Teil unseres Systems. Als ich die Reifenspuren an der Abgabelung sah, die zu unserem Haus führte, wurde mir mit einem Mal flau im Magen. Ich war wirklich unvorsichtig geworden. Auch wenn meine Verfolger die Spur verloren hatten, musste ich immer ein Auge offen halten. Das waren ganz üble Burschen und sie wollten mich tot sehen. Bisher hatten sie keinen Beweis dafür gefunden, dass ich auch wirklich nicht mehr am Leben war. Ich versuchte einfach ruhig zu bleiben. Über Monate hatte mich dieses Versteck hier gesichert. Welchen Grund sollte es wohl geben, hier nach mir zu suchen?
Als ich dem Haus näher kam, traute ich meinen Augen nicht. Auf der kleinen Grünfläche hatte ein schwarzes Auto geparkt. Als ich die ersten schwarzgekleideten Männer sah, flüchtete ich ins nahegelegene Buschwerk und legte mich flach auf den Boden.
Ich konnte ein paar mir wohl bekannte Stimmen vernehmen. Ohne Zweifel. Die suchten nach mir. Ich weiß nicht wie lange ich dort lag, aber es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Ab und zu wurden die Stimmen aggressiver und ich konnte nur ahnen, was da gerade abging. In diesem Augenblick war ich ein Lügner und Verräter. Vielleicht sogar ein feiger Hund, denn ich unternahm überhaupt nichts. Viel schlimmer noch. Ich betete dafür, dass sie der alten Frau nichts antun würden.
Dann kam der Moment in dem es spannend für mich wurde. Ich hörte den Motor des Wagens anspringen. Krampfhaft drückte ich mich tiefer in den Boden. Eigentlich sollte ich für die anderen Unsichtbar sein. Der Wagen kam in Fahrt und rollte gemächlich an mir vorbei. Die Insassen hatten keine Gesichter. Ich wartete noch eine Minute, dann kam ich aus meinem Versteck hervor. Die beiden Gemüsesäcke immer noch fest umklammert, stapfte ich langsam nach vorne.
Die alte Frau lag vor ihrer Bank auf dem Boden und rührte sich nicht. Ich ließ die Säcke fallen und rannte zu ihr. Sie hatte die Augen geöffnet, aber ihre Nase blutete stark. Ihr weißes Haar fiel ihr in Form von zerzausten Strähnen ins Gesicht. Ihr gelber Strickpulli war blutbeschmiert und an einigen Stellen gerissen.
„Ich habe ihnen nichts gesagt.“ Diesen Satz wiederholte sie immer wieder.
Sie stand ganz klar unter Schock.
„Ich weiss, beruhig dich. Ganz ruhig.“
Wieso wollte sie sich bei mir rechtfertigen? Warum nur? Ich hatte ihr das alles doch erst eingebrockt. Ich war ihr nicht zu Hilfe gekommen als sie mich brauchte.
„Ich habe dich noch nie gesehen.“
„Du musst nichts mehr sagen, ich glaube dir“, versicherte ich ihr und hob sie an. Ihren Arm legte sie ganz von selber um meinen Hals. Dann brachte ich sie nach oben in mein Bett.
Ich pflegte sie so gut ich konnte. Ihr Zustand besserte sich ein wenig, aber am vierten Tag starb sie. Ich war die ganze Zeit bei ihr. Am Morgen ihres Todes hielt ich ihre Hand. Den Abend davor hatten wir uns unterhalten. Eigentlich hatten wir immerzu geredet, aber an diesem Abend schien sie gespürt zu haben, dass es mit ihr zu Ende ging.
„Da ist keiner der auf mich wartet.“
„Hast du keine Verwandten. Keine Angehörigen?“
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Das erste Mal seit ich sie gesehen hatte lief ihr eine Träne über die Wange.
„Glaubst du denn wirklich, dass es noch eine andere Seite gibt?“
Sie brauchte nicht zu überlegen und nickte hastig.
„Na wenn das so ist, dann warte doch einfach ein Weilchen...“
Ihr Gesicht zeigte keine Regung. Ihre Augen aber schienen mich zu fixieren.
„Warte einfach auf mich.“
Ich weiß nicht genau warum ich das sagte. Fest stand nur, dass es sie glücklich machte und das war die Hauptsache. Ich war alleine. Sie war alleine. Warum sollten wir uns also nicht einfach zusammen tun? Ihr Gesicht war gezeichnet von den Schmerzen, aber sie hatte ein herzliches Lächeln aufgelegt. Es war dieser Moment, in dem ich ihre Hand nahm und nicht mehr losließ. Ich sang ihr das Lied vor. Das Lied meiner Schwester. Ich glaubte nicht an diese bessere Welt. Aber in diesem Moment hoffte ich wirklich, dass es sie gab. In dieser Nacht fühlte ich mich zurückerinnert an die Zeit, als ich hier ankam. Sie hatte mir mein Leben gerettet. Als ich aufwachte, war mir zuerst, als sei ich im Himmel. Als ich diese alte Frau zum ersten Mal sah, so in gleißend helles Licht gehüllt, die Haare glänzend und das Gesicht liebevoll, da dachte ich wirklich einen Augenblick lang ich wäre einem Engel begegnet.
Ich kannte nicht mal ihren Namen. Sie kannte meinen nicht. Aber was spielte das für eine Rolle? Wir waren in der Einsamkeit vereint.
Am nächsten Morgen schaufelte ich ein Loch, nahe des Sees unter einer großen Tanne. Erst als es bereits dämmerte, war ich fertig. Ich hatte ihren Lieblingspulli gewaschen und genäht. Im Ganzen Haus suchte ich nach irgendwelchen persönlichen Gegenständen. Vergeblich. In meiner Jackentasche fand ich einen winzig kleinen Keramikvogel. Um ehrlich zu sein, wusste ich noch nicht einmal, wo ich ihn herbekommen hatte, aber ich beschloss, ihn zusammen mit der Frau zu begraben. Die Mühe, ein Kreuz zu bauen, machte ich mir nicht. Warum auch? Die Frau war genauso namenlos wie ich. Außer mir gab es keinen, der von ihrem Tod Notiz nahm. Und ich wusste ja, wo ich sie begraben hatte.
Die nächsten paar Wochen blieb ich in dem Haus wohnen. Ich arbeitete weiterhin beim Bauern und hatte nun wesentlich mehr zu essen. Jeden Tag besuchte ich ihr Grab und sprach mit der Erde, um nicht so einsam zu sein. So sehr ich hier auch meinen Frieden gefunden hatte, ich konnte nicht bleiben. An dem Abend, wo ich diese Gegend für immer verlassen sollte, war ich nicht so traurig wie vorher erwartet. Es war zwar zu meinem Zuhause geworden, aber glücklich war ich hier nicht. Glücklich würde ich nirgendwo sein ...
Die Jahre vergingen und ich lebte weiterhin in einer Welt, die von allen Göttern verlassen war. Die Erinnerung an die alte Frau war schon deutlich verblasst. Ich machte wieder krumme Geschäfte und lebte auch weiterhin auf der Flucht vor meinen Verfolgern. Das Haus und ihr Grab habe ich nie wieder besucht. Mittlerweile bin ich achtundfünfzig Jahre alt.
Ob sie immer noch wartet? ...