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Violett

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10.02.2000
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Violett

Die Einladungskarte steckt im Briefkasten. Nicht mehr taufrisch. Der Länge nach mindestens einmal geknickt. Das Motiv soll einen prächtigen Strauß Blumen darstellen, wäre nicht eine bräunliche Flüssigkeit oder ähnliches drüber gelaufen. Der Stempel mit dem Absendedatum ist nicht lesbar, aber anhand der krakeligen Handschrift ist unschwer zu erkennen, dass mein Sohn sie geschrieben hat. Nur wenige Worte. ‚Wir heiraten. Wenn du kommen willst, sei am 15. Dezember vor dem Standesamt II in Kopenhagen. Ist ein Samstag. Gegen 11 Uhr wäre genau richtig. Das wirst du schaffen. Grüße! Dein Sohn‘. Standesamt II in Kopenhagen … ich habe keine Ahnung, wo in Kopenhagen das Standesamt römisch Zwei ist. Die Haustür geht auf, jemand schnäuzt in ein Taschentuch, zieht Schleim aus den Bronchien nach oben und murmelt Unverständliches.
»Guten Morgen, Herr Valentin«, sage ich zum Briefkasten und nehme zwei Rechnungen raus. Vodafone und Stadtwerke.
»Tach, Herr Konstantin. Na? Mal wieder in anderer Leute Post schnüffeln?«
»Ja, is aber nur Scheiße drin. Werbung, Rechnungen. Keine Agentenberichte, nix Verdächtiges.«
Er erwidert nichts, schlurft an mir vorbei, ohne nach der Post zu schauen. Mit dem Schlüssel hebele ich seinen Briefkasten auf, nehme alles raus, was drin steckt und halte den Bund vor seine Nase. »Hier! Ab und zu müssen Sie schon mal die Briefe rausnehmen. Der Briefträger stopft und stopft …«
»Sie können mich mal«, erwidert er, greift danach und wirft alles achtlos auf den Boden.
»Sie mich auch«, lasse ich ihn wissen, gehe zügig an ihm vorbei und steige in den zweiten Stock. Er wird dafür gefühlt eine Stunde benötigen und Platz macht er für niemand.

Oben angekommen, höre ich sein Röcheln von unten. Nur einmal war ich in Valentins Wohnung, die direkt an meine grenzt. Auf den Tapeten hat sich eine jahrzehntealte Nikotinschicht abgelagert. Ölig glänzend, klebrig. So muss seine Lunge aussehen. Es schüttelt mich. Mit dem Fuß kicke ich den Stopper aus dem Türspalt, schließe ab und gehe in die Küche. Die Postkarte! Fast hätte ich sie vergessen. Die beiden Rechnungen interessieren mich nicht, nur die Karte. Hochzeit in Kopenhagen. Mein Sohn heiratet. Langsam sinke ich auf den Stuhl, ziehe die halbvolle Kaffeetasse heran. Kalt geworden, aber er schmeckt. Dann lege ich die Karte auf den Tisch, Schrift nach unten. Der verfleckte Blumenstrauß erinnert mich an ein altes Romantikgemälde, blasslila Blüten einer mir unbekannten Blume, dazwischen roter Klatschmohn, viel Grünzeug. Glatthafer und Rispengras, wenn mich nicht alles täuscht. Das Ganze auf einem beigen Untergrund, aufgerauter Karton. Passt alles nicht zu einer Hochzeit. Wahrscheinlich hat er einen Stapel alte Karten in einem Second-Hand-Shop gefunden. Im Dutzend günstiger. Noch ein Schluck Kaffee. Wenn er kalt ist, trägt der Zucker darin mächtig auf. Fast zu süß. Dafür sehr stark. Der Fleck ist vielleicht Kaffee. Hat mein Sohn ihn getrunken beim Schreiben der Karten? Dann verschüttet und sich gesagt, die hier schicke ich meinem Vater. Noch gut genug für ihn. Möglich.

Vor der Wohnungstür poltert es. Der alte Valentin? Unwahrscheinlich. Er dürfte gerade im ersten Stock sein. Vielleicht sollte ich doch aufstehen und nachsehen. Die Alte von oben könnte gestürzt sein. Aber wenn ich sie anfasse oder ihr Hilfe anbiete, wird sie mich wieder verfluchen, mir die Pest an den Hals wünschen. Das habe ich schon zwei Mal durchgespielt. Also aufstehen und zum Fenster gehen. Sonst wohnt niemand mehr im Haus. Wir Alten. Valentin und ich im zweiten, über uns nur noch die alte Schmidt. Gegen die beiden bin ich immerhin noch ein junger Spund. Wieder zurück zum Tisch. Draußen ist nur Wetter. Wolken und Regen. Hauswände und dreckige Fenster. Da ist sie, die Karte. Krakelige Schrift und schemenhafte Bilder im Kopf. Krakelige Schrift bei den Hausaufgaben, Klassenarbeiten, ersten Bewerbungen, Prüfungen, dann … nur noch Schemen. Was war dann? Was kam danach? Aus der Dunkelheit tauchen keine Bilder mehr auf. Als hätte jemand für viele Jahre das Licht ausgemacht.

Es poltert erneut und ich setze mich. Der Hausbesitzer fällt mir ein. Als er zusammen mit einem aalglatten Immobilienmakler in meiner Küche stand, mit süffisantem Lächeln, ein Ausbund an Fürsorge. Wie es mir geht, ob ich irgendwo Kinder habe, besser noch: Enkel. Und die unbedingt ihren Opa sehen wollen. Dauerhaft, versteht sich. Seine Hand hab ich ihm zerquetscht und die des Maklers gleich mit. Fester Händedruck ist fester Charakter. Ich bin ein handfester Charakter und starre auf die Karte. Kopenhagen oder nicht. Unter all den Fremden dort, hinfahren und ein fernes Leben tangieren. Ich werde abprallen und im Nirgendwo verschwinden. Und ich habe ja nicht mal ein gutes Hemd. Also aufstehen und wieder ans Fenster. Sinnlos auf die Straße starren, von links nach rechts. Von der Kreuzung bis zum Netto. Die Menschen dort unten könnten sterben, es wäre mir egal. Mein Blick kehrt zurück zu dem Geschäft gegenüber. Lorenz und Söhne, Herrenausstatter und Änderungsschneiderei steht in vergilbten Buchstaben auf einem Schild in ganzer Ladenbreite über den Schaufenstern. Gegründet 1926 neben dem Eingang. In der Häuserlücke daneben die Werbetafel, die man vergessen hat. Seit Jahren leer. Noch nicht mal Graffiti hat man ihr zugetraut. Noch einen Kaffee, denke ich, will mich umdrehen, aber mein Blick bleibt an Lorenz und Söhne haften. Ich habe nichts anzuziehen. Gegen elf Uhr in Kopenhagen, Standesamt römisch Zwei. Am Samstag. Und heute ist Donnerstag. Vielleicht ist dieses Geschäft dort unten leer? Aufgegeben vor zwanzig Jahren und ich habe es nie mitbekommen. Vor dem Brotkasten liegt mein Geldbeutel. Noch ein Blick auf die Karte. Dann rieche ich daran und suche nach dem Duft meines Sohnes. Wie soll ich etwas erkennen, an das ich mich nicht erinnere? Es bleibt nur die Schrift. Im Gehen greife ich Geldbeutel und Schlüssel. Das Bild von Lorenz und Söhne zieht mich hinaus. Das wirst du schaffen!, steht auf der Karte. Also werde ich das Treppenhaus hinabsteigen und das verbitterte Arschloch von nebenan ignorieren, falls es gerade vor der Tür steht. Mit einem Ruck öffne ich. Niemand da. Kein Röcheln. Leise zuziehen und abschließen.

Kopenhagen, flüstere ich an die holzgetäfelte Wand. Sie ist ohne Zweifel so alt wie der Laden. Über der Tür hängt eine Bimmel mit Blattfeder. Könnte glatt eine Filmrequisite sein. Im Carré gebauter Ladentisch, lang und tief, wie gemacht, um Hosen, Hemden und Jacken zu präsentieren. Die Oberflächen müssen aus Tropenholz sein, dunkel und fein gemasert. Dichtes und schweres Holz, wasserbeständig. Aus einer Zeit, als es egal war, wem man welche Bäume aus dem Wald raubte. Allerdings bin ich das einzige Lebewesen hier drin. Nach ein oder zwei Minuten gehe ich zur Tür und lasse sie ein zweites Mal bimmeln. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine Frau. Fast so groß wie ich. Vielleicht etwas über vierzig, dunkler Teint, aber keine Sonnenbräune. Südeuropa? Langes, schwarzes Haar. Sie sieht mich neugierig an, ein Stopfei in der rechten Hand, zwei längere Nadeln zwischen die Lippen geklemmt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein Zucken in beiden Händen. So etwas wie das Suchen nach Worten. Sie zieht den nadelfreien Mundwinkel nach oben. Ich vermute, es ist ein Lächeln.
»Ja?«, bringt sie gepresst hervor.
»Kopenhagen«, sage ich. Warum auch immer. »Ich muss nach Kopenhagen.«
Sie nickt nur. Ist ‚Kopenhagen‘ etwa eine gültige Kennung in diesem Geschäft? Hat mein Sohn ihr ebenfalls eine Karte geschickt? Sie nimmt die Nadeln aus dem Mund, steckt beide in ein Nadelkissen, das mit einem Gummiband am Unterarm befestigt ist.
»Ich weiß, was Sie denken. Ein Spinner. Das hier ist offensichtlich kein Reisebüro«, schiebe ich hinterher.
»In der Tat«, bestätigt sie. »Aber Sie werden schon ihre Gründe haben, wenn Sie Kopenhagen erwähnen.«
»Ja. Mein Sohn wohnt dort. Seit ich denken kann, hätte ich fast gesagt. Nein, nein, seit …« Schweigen übermannt mich. Keine Ahnung, seit wann er dort wohnt. Ich versuche, mich zu erinnern. Zwanzig Jahre? Oder mehr?
»So lange also schon«, sagt sie lächelnd. Das formt ihr Gesicht zu einer lebenden Marmorbüste, an der ein Jahrhundertmeister Hand angelegt hat. Ich kann sie nur anstarren. Nicht mal nicken klappt, geschweige denn etwas sagen. Lorenz und Söhne. Sie ist weder der eine noch die anderen.
»Entschuldigung. Ich habe es vergessen. Können gut und gerne zwanzig Jahre sein.«
»Macht nichts. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster. Sie wollen zu Ihrem Sohn nach Kopenhagen, haben nicht die richtige Kleidung und auf die Schnelle dachten Sie, mal einen Blick hier reinzuwerfen.«
»Stimmt«, entgegne ich konsterniert.
»Sie wohnen gegenüber. Zusammen mit dem alten Valentin und der Schachtel. Wie heißt sie noch?«
»Schmidt.«
»Ja, die alte Schmidt. Sie hat für meinen Großvater gearbeitet.«
Was hat sie gesagt? Sie wohnen gegenüber …
»Woher wissen Sie, dass ich gegenüber wohne?« In derselben Sekunde kann ich es mir zusammenreimen. »Sagen Sie nichts. Natürlich sehen Sie mich drüben rein- und rausgehen.« Ihr Lächeln bleibt. Wird vielleicht um eine Spur breiter. Dann schaut sie auf das Nadelkissen, kontrolliert den Sitz der kleinen Stahlstifte und sieht mich erneut an. Dieses Mal genauer, exakter, als prüfe sie den Sitz jeder Naht. Was entdeckt dieser intensive Blick? Einen idiotischen Nachbarn, alt und verlegen.
»Mich haben Sie offenbar noch nie zur Kenntnis genommen, obwohl ich in diesem Haus aufgewachsen bin«, wendet sie ein. »Seltsam, nicht wahr?«
»Sie haben immer hier gelebt?«
»Nicht immer. Meine Ausbildung habe ich in Brüssel gemacht, dann in Paris und Mailand gearbeitet. Aber vor zehn Jahren kam ich zurück, um das Geschäft zu übernehmen.«

Das Gefühl, mich setzen zu müssen, drängelt sich nach vorne, von irgendwo. Ich suche einen Stuhl, rechts vergeblich, entdecke auf der linken Seite eine Sitzgruppe. Für die wartende Kundschaft. »Darf ich mich setzen?«
»Natürlich.« Zwei Falten bilden sich auf ihrer Stirn. »Ist Ihnen nicht gut? Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Nein, vielen Dank.« Mit wenigen Schritten bin ich in der Ecke, nehme Platz, lehne den Kopf an eine Holztafel und schließe die Augen. Den Schritten nach zu urteilen, entfernt sie sich. Etwas klappert. Dann kommt sie zurück und ihre Wärme ist zu spüren. Direkt vor mir. Als hätte ich am ganzen Körper Infrarotsensoren. Lieber halte ich die Augen geschlossen. Sie anzusehen würde mich Kraft kosten. Ich weiß nicht, warum.
»Trinken Sie, bitte.«
Also doch die Augen öffnen, das Glas nehmen, ein paar Schluck kühles Nass. Es tut gut. »Danke.« Sie nimmt es mir wieder ab, stellt es aufs Holz. Ich denke an ein altes Märchen.
»Kennen Sie Dornröschen?« Sie schaut mich verwundert an. »Wie lange hat sie geschlafen? Hundert Jahre? Wie muss die Welt ausgesehen haben nach hundert Jahren? Heute kommt eine Postkarte aus Kopenhagen. Am Samstag heiratet mein Sohn, den ich eine lange Zeit nicht mehr gesehen habe, auch nicht gesprochen. Können Sie mir folgen?«
»Ich weiß nicht genau«, gesteht sie.
»Ein DIN A6 kleines Stück Karton und alles ist verschoben. Nichts hat sich bewegt in all den Jahren. Nur der alte Valentin und die furchtbare Schmidt. Mit einem Mal stößt der Wind einen Fensterflügel auf und man weiß, es ist Zeit. Zeit aufzubrechen. Dann stellt man fest, dass der Kleiderschrank nichts hergibt. Alle Kleider sind älter als man selbst. Ich könnte tot umfallen und niemand würde es sehen.«
Kurzes Schweigen, dann einatmen. Habe ich etwas falsch gemacht? »Verraten Sie mir doch Ihren Namen«, kommt von ihr. Sie setzt sich neben mich.
»Konstantin.«
»Vor- oder Nachname?«
Jetzt ist es an mir zu lächeln. Sie hat recht. Das muss man bei diesem Namen immer dazusagen. »Mein Vorname ist Heinrich.«
»Dann bleibe ich beim Vornamen, Heinrich. Ich bin die Katharina.«
»Da haben wir ja die Lenker der alten Welt unter einem Dach.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagt sie nickend. »Aber ich hätte gerne einen anderen Namen bekommen. Was Modernes. Bist du mit deinem zufrieden?«
»Sehr.«
»Na gut, Heinrich. Was kann ich für dich tun?«
»Ich brauche ein Hemd und eine Hose.«

Katharinas Hand senkt sich auf meinen Unterarm, die Finger krümmen sich. Ich spüre Kraft. Sanft, ohne Möglichkeit, mich zu wehren. Ich glaube, ich will, dass sie mich irgendwohin mitnimmt. Egal wohin.
»Komm mit. Ich habe einiges an Hemden und Hosen von Kunden, die bestellt haben, vermessen wurden, anprobierten und dann einfach nicht mehr gekommen sind. Da werden wir etwas finden. Aber«, sie hebt die Hand. »C&A-Preise können es nicht sein.«
Nickend folge ich ihr hinter die Tische, durch eine im gleichmäßig getäfelten Einerlei kaum sichtbare Tür. Ein Schneiderraum. Sagt man so? Große Tische, grüne Schneidunterlagen, Bandmaße, ein abgenutzter Stabholzmeter, zwei Tuchrollen und noch viel mehr an Rollenhaltern an den Wänden. Von dezentem Grau bis zu bunt-kariertem Tweed. Es riecht säuerlich. Ein Seitenblick von ihr fängt meine schnüffelnde Nase auf.
»Das sind die Farben. Einige der Stoffe sind erst vor ein paar Tagen eingetroffen. Das duftet sich aber aus.«
Mehr als nicken kann ich nicht. Das ist nicht meine Welt. Und war es nie. Als würde ich ein neues Universum betreten mit anderen physikalischen Gesetzen. Sie ahnt meine Gedanken oder liest einfach meinen Gesichtsausdruck.
»Ist was anderes als von C&A, nicht wahr?«
»In der Tat …«
Katharina nutzt mein Beeindrucktsein und schiebt mich zu einem hölzernen Drehstuhl. Schon ist ihre Hand auf meiner Brust. Ein leichter Druck. Okay, einfach hinsetzen, denke ich. Sie geht zu einer Holzwand und schiebt ein Viertel davon nach rechts. Dahinter sehe ich Regale bis zur Decke. Noch ein Viertel weiter kommen zwei Stangenfächer, an denen unzählige Hemden hängen. »Toller Schrank. Vermutet man gar nicht von außen.«
»Hat mein Großvater extra bauen lassen«, erklärt sie und steigt mit einer fahrbaren Leiter zum obersten Fach, legt fünf Hemden über die Armbeuge, kommt wieder runter und breitet sie auf dem Arbeitstisch aus. Ärmel leicht abgewinkelt, die Kragen ausgerichtet, eines neben dem anderen. »Unterschiedliche Längen an Bund und Ärmeln, zwei oder drei Kragenweiten, aber ich würde mal sagen, es wird eines dabei sein, dass dir passt. Kleine Anpassungen kann ich noch heute machen.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, höre mich aber tief ein- und ausatmen.
»Was sind deine Farben?«
»Meine Farben? Ich weiß nicht. Mir eigentlich egal …«
Sie schüttelt kurz den Kopf. »Tsts! Genau das sollte dir nicht egal sein. Die Farbe kommt von innen.«
»Von innen?«

Katharina tippt mit dem Finger auf meine Brust. Also von innen. Die Frage nach der Farbe trifft mich. Ich ahne, dass sie vielleicht recht hat, dass ihr Finger nicht meine Brust meinte, mehr auf ein Loch deutete, in dem Bilder, Gerüche und Stimmen meines Sohnes verschwunden sind. Das Loch muss die Zeit sein. Vor mir liegen ein dunkles Grau, makelloses Schwarz, dunkles Violett, blasses Rot und dann das intensive Orange einer frühen Morgensonne. Katharina nimmt einen Bleistift vom Tisch, schreibt etwas auf den Abriss eines Etiketts, steckt es ein und ich trete einen Meter zurück. Grau, Schwarz, Violett, seltsames Rot und die Sonne. Irritiert bleibe ich immer wieder an dem Violett hängen. Dunkelviolett. Die Knopfreihe ist verdeckt von einem etwa drei Zentimeter breiten Streifen, was es sehr elegant aussehen lässt. Die Nähte sind mit schwarzem Faden angelegt. Das Hemd erinnert mich an etwas. Nur ein Schemen in meiner Erinnerung.
»Ich nehme das«, sage ich entschlossen und lege den Finger auf das Violette. Katharina zieht das abgerissene Etikett aus der Tasche, hält es vor mein Gesicht. ‚Violett‘ steht darauf. Ich sehe sie an, begegne den schwarzen Augen und hole tief Luft.
»Also anprobieren.«
»Ich sehe keine Umkleidekabine«, erwidere ich suchend.
»Hab ich keine. Aber ist ja nicht das erste Mal, dass ich das mache.«
»Für mich schon.«
Sie grinst. Ein mitleidiges Grinsen? Alter Trottel wird vorgeführt. Also ziehe ich das Hemd aus. Wie immer, habe ich nichts drunter. Unterhemden sind mir seit der Jugend verhasst. Katharina interessiert es nicht. Geschickt öffnet sie die verdeckte Knopfreihe des Violetten, tritt hinter mich. Rechter Ärmel, etwas beugen, linker Ärmel, an den Schultern zurechtrücken.
»Kinn hoch. Erst oben zumachen.«
Ich folge ihrer Anweisung. Es klappt mühelos.
»Die Kragenweite ist richtig. Fast ein bisschen zu weit.«
Ob sie das zu mir sagt oder nur Selbstgespräche führt, ist unklar. Knopf für Knopf schließt sich, dann folgen die Ärmel. Überraschenderweise sind dort zwei Knöpfe längs zum Arm. Dann tritt sie einen Schritt zurück. Ich schweige lieber. Mit dem rechten Daumen reibt sie einen Nasenflügel, kneift ein Auge zu und greift das Bandmaß. Alles geht so schnell. Unter der Achsel zur Hüfte, Armlänge auf beiden Seiten.
»Drück bitte beide Schultern nach vorne und streck die Arme.«
Das tue ich.
»Und jetzt beide Arme nach oben strecken.«
Beide Arme nach oben und strecken. Ein bisschen Gymnastik kann ja nicht schaden.
»Setz dich bitte auf den Stuhl.«
Als ich mich setze, spüre ich eine leichte Einschränkung um die Hüfte.
»Ich sehe schon, ein wenig mehr Weite kannst du vertragen«, merkt sie an.
»Ich bin alt«, sage ich zu meiner Entschuldigung. Sie stellt sich vor mich, beugt den Oberkörper und sieht mir in die Augen.
»Ich sage das nicht, weil es mich stört, sondern weil es so ist.«
Schweigendes Nicken und das tun, was sie sagt. Mit einem seltsamen Werkzeug zeichnet sie Linien auf den Stoff. Erinnert mich an Kreide oder Magnesium.
»Okay. Bitte ausziehen«, sagt sie nach kurzer Zeit. »Willst du hier warten? Oder später wiederkommen?«
»Ich warte«, lasse ich sie wissen und schlüpfe in mein C&A-Hemd.
»Sehr gerne. Wo wir uns jetzt schon so gut kennen, geh bitte dort durch die Tür und koch eine Kanne Kaffee.«
Es ist sicher mein Gesichtsausdruck, der sie zum Lachen bringt. Ein Lachen, wie ich es nur selten im Leben gehört habe. Vogelstimmen in frühmorgendlicher Aue, genau dieses Bild fällt mir dazu ein. Verwundert gehe ich durch die kaum sichtbare Öffnung.

Ob diese Kaffeemaschine noch guten Kaffee kochen kann, möchte ich bezweifeln. Dass sie überhaupt noch funktioniert, grenzt an ein Wunder. Schon Katharinas Vater wird mit dem Gerät seine morgendliche Brühe gekocht haben. Sie gluckert wie ein verstopfter Waschbeckenabfluss. Alle Sekunde ein Tropfen. Genug Zeit, mich umzusehen nach Fotos, Bildern mit Gesichtern, kleinen Dingen, die Einblick geben, in die große, schwarzhaarige Frau im Nebenraum. Aber es gibt nichts zu entdecken. Also spähe ich um den Türrahmen. Erneut hat sie Nadeln im Mund, ein kleines Werkzeug in der rechten Hand, mit dem sie Nähte auftrennt. Und sie misst ausgiebig. Aus einer breiten Schublade unter der Tischplatte holt sie Stoff derselben Farbe. Neben ihrer rechten Hand liegt der Etikettenabriss. Violett. Woher konnte sie das wissen? Eine Ahnung? Beobachtung? Vielleicht. Als Schneiderin muss man eine Menge beachten, einen Körper rundherum erfassen, ihn sich in diesem oder jenem Stoff vorstellen.
Katharinas Hände sind flink, konzentriert, zielgenau und wunderschön. Lang und schlank, sehnig. Wie ihr Hals. Sie selbst ist es. Schön. Beeindruckend schön. Aber nicht wie das Gesicht auf einem Magazin. Eher wie ein Schwarzes Loch. Es ist nichts zu sehen, aber du spürst die Kraft. Ich muss husten und sie dreht den Kopf. Lächelt und fingert aus einer Tasche eine Rolle Faden, hält ihn ans Hemd. Gleiche Farbe. Hinter mir gluckert es in allen Tonlagen. Dann beginnt das letzte Röcheln.
»Milch?! Zucker?!«, rufe ich ihr zu.
»Ein Teelöffel Zucker, bitte.«
»Kommt!«

Auf einer Tasse entdecke ich das tapfere Schneiderlein, das gerade sieben Fliegen auf einen Streich erwischt hat. Sicher ihre Lieblingstasse. Dort hinein gieße ich die wirklich schwarze Brühe. Sie riecht stark und bitter. Einen Löffel Zucker dazu, umrühren. Die zweite Tasse ist leicht angestaubt. Ich reibe sie mit einem Tuch aus, das hoffentlich nicht irgendeinem Kunden gehört, und fülle nur zur Hälfte Kaffee hinein. Wenn er wirklich so stark ist, muss ich zu oft auf die Toilette. Zwei Löffel Zucker für mich. Mit beiden Tassen gehe ich nach vorne, stelle das tapfere Schneiderlein in die Mitte des Tisches und setze mich auf einen Stuhl an der Wand.
»Danke«, murmelt sie. Die Nadeln bewegen sich auf und ab. Wie oft sie sich schon gepiekt hat? Ins Zahnfleisch, die Zunge … es schüttelt mich bei der Vorstellung. »Darf ich dich mal was fragen?«, sagen die Nadeln. Die Lippen bleiben fast geschlossen und mit einer recht groben Schere schneidet sie einen breiten Streifen vom violetten Stoff ab.
»Durchaus.«
Abrupt beendet sie alle Tätigkeiten und schaut mich an, steckt die Nadeln ins Kissen und schlürft einen Schluck aus der Schneidertasse. Die Augenbrauen heben sich. »Überraschend gut«, lobt sie das Gebräu.
»Danke.«
Ein zweiter Schluck folgt. Dann stellt sie die Tasse ab und legt den Streifen Stoff an die Knopfreihe. »Warum hast du deinen Sohn so lange nicht mehr gesehen?« Mit dieser Frage habe ich nicht gerechnet. Eher etwas zu Beruf oder Alter oder wie man es mit der alten Schmidt in einem Mietshaus aushält. »Ist die Frage zu persönlich?«, ergänzt sie und arbeitet weiter.
»Nein. Vielleicht nur schwer nachzuvollziehen. Und ich habe noch keinen Testfall damit gehabt.«
»Du meinst, du hast noch nie jemandem davon erzählt und deshalb keine Ahnung, wie die Menschen reagieren.« Sie zeichnet eine Linie entlang der Knopfreihe.
»Das stimmt. Es ist eine Art Geheimnis. Ich kann mir nicht vorstellen, dass vernünftige Menschen damit etwas anfangen können.«
»Probier es aus«, fordert sie mich auf, ohne herzusehen. Dafür trennt sie die komplette Knopfreihe einfach vom restlichen Hemd. Mein Gesichtsausdruck bleibt ihr nicht verborgen. »Keine Angst. Ich säume es beidseitig. Die Deckleiste wird breiter, man wird das eingesetzte Stück nicht mehr sehen.«
Eine Verlegenheitsgeste mit dem Kopf. Mehr schaff ich nicht. Sie ist die Schneiderin und offensichtlich eine sehr erfahrene. Ihre Frage drängt sich ins Licht. Wie kann ich das erklären? Vielleicht überhaupt nicht. Es ist, wie es ist.
»Hast du schon mal jemanden so tief und intensiv geliebt, dass sein Verschwinden dich auf der Stelle aus der Bahn geworfen hätte?«
Katharina richtet sich auf, drückt beide Hände in die Hüften und überdehnt sich. Dann zieht sie einen Drehstuhl heran, öffnet eine Klappe im Tisch und holt eine Nähmaschine aus der Versenkung. Auf einem Brett montiert, drunter ein Federmechanismus. Irgendwo rastet es mit einem Klacken ein. Sie hat gehört, was ich gesagt habe, aber möglicherweise war meine Antwort zu knapp.
»Als mein Sohn auf die Welt kam, hat das mein Leben mit einem Meer aus Angst gefüllt. Ich bin darin fast ertrunken. Als er auszog, wurde es nicht besser. Also beschloss ich, zu implodieren. Hinter Türen und Rollläden zu verschwinden. Meine Frau war es bald leid. Und mein Sohn reduzierte seine Besuche von wöchentlich auf monatlich auf jährlich. Jetzt, mit sechzig, kommt eine Karte. Wenn ich wissen will, wie er aussieht, müsste ich ein Foto anschauen, aber leider habe ich alle Fotos in den Müll geworfen. Nur noch an seine Schrift kann ich mich erinnern.«
Mein Mund ist trocken wie die Gobi. Ich stehe auf, hole ein Glas Wasser aus dem Pausenraum, trinke es komplett leer und gehe wieder zu Katharina, die das Hemd unter der Maschine hat und einen Faden einfädelt. Sie sagt nichts, also setze ich mich wieder, denke an meine Worte. Ich habe Jahre benötigt, um mein eigenes Puzzle zusammenzusetzen. Als es fertig war, wusste ich nichts damit anzufangen. Es war niemand mehr da, dem ich es zeigen konnte.

»Darf ich dich noch etwas fragen, Heinrich?«
Es summt, dann ein Brummen. Die Geräusche kenne ich von Mutter. Das Fußpedal der Nähmaschine, ein Elektromotor fängt an sich zu drehen, die Maschinennadel bewegt sich langsam auf und ab, stoppt. Katharina dreht nach, legt den Faden auf eine besondere Weise um den Ansatzpunkt.
»Alles.«
Sie lächelt mich an. Dann drückt sie das Pedal und legt los. In einem einzigen Zug führt sie Hemd und Streifen bis zum Ende durch. Es sieht perfekt aus.
»Warum bist du hier? Bei mir? Wie hast du es geschafft, Türen und Rollläden hinter dir zu verlassen?«
»Du wirst es mir nicht glauben: der Laden. Knapp fünfzehn Jahre wohne ich jetzt hier und er ist mir nicht aufgefallen, wie viele andere Dinge mir ebenso nicht aufgefallen sind. Vorhin jedoch blieb mein Blick an ihm hängen. Der Fensterflügel, ein Luftzug … du erinnerst dich?«
Sie nickt konzentriert und betrachtet ihr Werk, schneidet überschüssigen Faden ab.
»Das ist vielleicht ein kleiner Tritt gewesen«, erwidert sie, »aber war das der Auslöser? Vielleicht hast du nur auf so etwas wie diese Karte gewartet. Vielleicht warst du schon längst bereit, diesem Tal Adieu zu sagen.«
Jetzt trinke ich doch einen großen Schluck Kaffee. Kalt und ziemlich süß. Ich könnte mich an diese tapfere Schneiderin gewöhnen. Sie sieht mich an. Telepathie? Nein, so was gibt es nicht. Das Etikett fällt mir ein.
»Darf ich dich auch etwas fragen?«
»Gerne.«
»Woher wusstest du, dass ich das violette Hemd auswähle?«
»Ein Gefühl, mehr nicht.«
»Hat dich dein Gefühl schon mal in die Irre geführt?«
Sie wiegt den Kopf hin und her. »Meistens. Bei dir war ich mir aber sicher.«
Ich schweige. Wir schweigen. Dafür schauen wir uns an. Das schwarze Loch und ich. Ich habe vergessen, wie schön Schönheit ist. Etwas fällt auf meinen Handrücken. Bis ich verstehe, dass ich weine, reicht Katharina mir ein Taschentuch, steht auf, drückt mich und geht in die Küche. Mit einer vollen Tasse Kaffee kommt sie zurück. Ich habe mich beruhigt. Sie steht neben mir, legt eine Hand auf meine Schulter. »Was ist gerade passiert?«
»Ich weiß nicht.«
Ein schlürfendes Geräusch. Mit einem Seufzer nimmt Katharina Platz und arbeitet weiter. Das Hemd wird wieder zu einem Hemd. Stück für Stück. Ich denke an die Karte. An Kopenhagen. Mitten im Winter in einer nassen dänischen Stadt, es wird Dänisch geredet. Ganz sicher sogar. Ich werde kein Wort verstehen, niemand wird mich kennen. Dann Kaffee und Kuchen, abends Tanz und Party. Viele Menschen. Bisschen Small Talk. Ich kenne ja noch nicht mal seine werdende Ehepartnerin. Oder Ehepartner? Ich weiß nichts. Und es wird eine Heimreise geben, zurück nach Köln. Was dann? Der nörgelnde Valentin, die alte Schmidt und ein Hausbesitzer, dem wir nicht zu früh sterben können.
»Katharina?«
Sie reagiert nicht sofort. Der Kragen leistet Widerstand, hochheben, umdrehen, beide Hände hat sie im Einsatz, dann piekt sie sich, flucht kurz und sieht her.
»Tschuldigung, Heinrich. Der Kragen ist immer eine komplizierte Sache. Was gibt es?«
»Ich wollte nur … ich meine …«
Hemd samt Kragen fällt auf den Tisch. Sie dreht sich mir zu. »Na, raus mit der Sprache.«
Ich habe das Gefühl, rot zu werden und möchte im Boden versinken.
»Hast du Kinder? Ich meine, hast du eine Familie?«
Wieder die zahllosen Vögel in der Aue. Dieses Lachen ist Medizin. Und ich schätze, es ist ein eindeutiges ‚Nein‘.
»Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll? Keine Zeit. Paris und Mailand waren kein Zuckerschlecken. Ein Entwurf jagte den nächsten, Modemessen, Modeausstellungen, Laufstege, eitle Kunden, unzufriedene Kundinnen, mehr als ein Techtelmechtel war nie drin. Und als ich den Laden übernommen habe, gottseidank schuldenfrei, musste ich mit der sterbenden Kundschaft zurechtkommen. Einen neuen Kundenstamm aufbauen. Weniger, aber längerfristige Geschäftsbeziehungen.« Sie hat sich in Stimmung geredet und mustert mich. Vielleicht, ob ich noch folgen kann.
»Sprich ruhig weiter. Du hast eine angenehme Stimme. Zuhören macht Spaß.«
Das quittiert sie mit einem Stirnrunzeln. »Na ja, am Ende bin ich auch nicht die schönste Blume im Strauß«, sagt sie nach einer kleinen Pause und beginnt, die Knöpfe anzunähen. Warum sagt sie das?
»Das finde ich nicht. Im Gegenteil.«
»Das Ganze hier wird nicht billiger, wenn du mir schmeichelst«, kommt es kühl, ohne dass sie aufschaut. Die Nadel von unten durch den Stoff an der markierten Stelle, durch eines der Löcher im Knopf, zwei Mal den Faden drum wickeln, dann in die entgegengesetzte Richtung.
»Zu niemandem war ich in mehr als zwanzig Jahren so ehrlich wie zu dir und du denkst, ich wollte dir schmeicheln?«
Keine Antwort. Der nächste Knopf. Ich mag schwarze Knöpfe auf violetten Hemden. Keinen Kaffee mehr in der Tasse. Ich bin seit mehr als einer Stunde hier. Und warum denkt sie, dass ich ihr schmeicheln will?
»Wenn ich dir schmeicheln wollte, würde ich sagen, in einem Museum mit tausend Gemälden, bist du das einzige, vor dem ich ein Leben lang stehenbleiben könnte.« Sie hebt den Kopf, hält die Nadel still. »Was im Übrigen sogar stimmt«, setze ich nach.
Katharina legt alles auf die Seite, steht auf und verschwindet nach vorne. Ganz schwach höre ich eine Toilettenspülung, dann kommt sie zurück und nimmt eine Hose aus Großvaters Wunderschrank.
»Hier. Anthrazitfarben, ein Denim-Stoff. Wirkt eher lässig und passt zu dir und dem Hemd. Probier sie mal an. Geh aber in den Pausenraum.«
Das tue ich schweigend. Die Hose passt wie angegossen. Keine Ahnung, was sie kostet, aber selten habe ich beim Anprobieren ein solches Wohlgefühl. Stoff und Schnitt, alles wunderbar. Ich darf gar nicht daran denken, was ich gerade zu ihr gesagt habe. Dass sie mir gefällt. Und wie. Dass ich sogar drauf und dran bin, mich Hals über Kopf in sie zu verlieben, habe ich lieber weggelassen. Die Nähmaschine rattert erneut. Mehrmals kurz hintereinander. Kopfschüttelnd gehe ich zurück zu meinem Drehstuhl. Was bin ich doch für ein Narr.

»Passt die Hose?«
»Als wäre sie für mich gemacht worden.«
Katharina nickt und schneidet die überflüssigen Fäden ab. Das war es mit der Konversation. Unsicher lehne ich mich an, starre an die Decke. Ebenfalls holzgetäfelt. Würde man das heutzutage so gestalten, käme man aus dem Bezahlen gar nicht mehr raus. Aber was ist diese Decke schon gegen Katharinas Gesicht. Herb, immer wieder mit unnahbaren Zügen, ein breiter und voller Mund. Die Nase recht spitz und schmal. Nichts an ihr passt in irgendein Schema. Sie steht außerhalb jeglicher Wertung. Ist das, was sie ist zu einhundert Prozent. Und verletzt. Von was auch immer. Techtelmechtel, na, die haben wir alle mehr oder weniger gehabt.
»Darf ich dich fragen, wie alt du bist?«
»In zwei Wochen werden es 47 Jahre.«
Vor meinem Auge komme ich in zwei Wochen mit einem Strauß Blumen und einer Einladung zum Essen ins Geschäft, lasse die Tür drei Mal bimmeln und überrasche sie. Ja, und was dann? Alle Türen und Rollläden wieder öffnen? Ich träume, sie sagen zu hören, dass es keine blöde Idee wäre, mit mir zusammen zu sein, im Park zu flanieren, abends zu kochen, um sich dann nackt gegenüber zu liegen, die Hände auf der Suche nach Stellen auf der Haut, die uns weich werden lassen. Ich seufze spontan. Ein tiefer Seufzer. Sie schaut kurz her.
»Was ist? Langweilig?«
»Nein, gar nicht. Ich sehe dir gerne bei der Arbeit zu. Das ist etwas völlig Neues für mich, dieses Handwerk. Ich finde, du bist eine sehr gute Schneiderin.«
Sie zuckt mit einer Schulter. »Danke. Was macht dir dann zu schaffen?«
»Kopenhagen«, lüge ich.
»Verstehe. Die Angst.«
»Ja, die Angst.«
»Dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Nein, kannst du nicht. Ich weiß.«

Das Hemd ist fertig und steckt zusammen mit der Hose in einer braunen Papiertüte. Die Uhr zeigt kurz nach Mittag.
»Wenn ein Knopf verloren geht, komm einfach rüber. Ich habe noch genug von dieser Sorte. Und bitte wasch das Hemd heute. Vierzig Grad und keinesfalls in den Trockner. Bügeln musst du es nicht unbedingt, aber wenn, dann nur mit zwei Punkten.«
Ich nicke dauerhaft.
»Und jetzt bekomme ich 560 € glatt.«
Mir wird kurz heiß. Aber ja, das ist nur angemessen. »Geht auch mit Karte?«, frage ich und lege sie auf den Tisch.
»Klar. Kein Problem.«
Katharina drückt die Karte ins Lesegerät, lässt mich die PIN eingeben, bestätigen, reißt den Bon ab und steckt ihn in die Tüte, gibt mir das Stück Plastik zurück. Das Gefühl, unbedingt den Laden verlassen zu müssen, wird übermächtig. Ich will hier bleiben, bei diesem einzigartigen Gemälde unter tausenden. Sie festhalten. Stattdessen greife ich die Tüte und ihre Hand landet auf meiner. Ich erstarre in der Bewegung.
»Es lohnt nicht, sich in mich zu verlieben, Heinrich. Ich habe es probiert. Aber ich danke dir für deine Worte. Sie haben Bedeutung für mich.«
Ertappt und nass bis auf die Knochen. Meine Tränen laufen. Was für ein Tag. Zwei Mal schon weinen. Zügig drehe ich mich weg, sage ‘Danke, tschüss‘ und bin draußen im kühlen Dezember.

Leeres Treppenhaus, kein Röcheln. Dafür sehe ich kaum was durch die nicht enden wollenden Tränen. Türen und Rollläden sind weit geöffnet. Ich bin wohl ins Licht getreten und kann nicht mehr zurück. Oben angekommen, lege ich die Tüte auf den Küchentisch und greife das Telefon. Die Nummer des Vermieters ist gespeichert. Es klingelt nur kurz.
»Wallraff?«
»Konstantin hier.«
»Ah, schau an. Mein Lieblingsmieter. Was gibt es?«
»Wenn ich morgen ausziehe, was bekomme ich dann von Ihnen?«
Totenstille im Hörer. Dann ein tiefes Einatmen.
»Sie wollen mich mal wieder auf den Arm nehmen …«
»Ich ziehe morgen aus. Mit meinen Sachen können Sie machen, was Sie wollen. Verkaufen, dann fällt noch ein gutes Sümmchen ab für Sie. Aber ich will was fürs Ausziehen.«
»Wie viel?«
»5.000 Euro.«
»Abgemacht.«
»Okay, morgen früh um acht Uhr! Bar auf die Hand! Tippen Sie die Kündigung. Ich unterzeichne. Keine Klauseln, nix Kleingedrucktes!«
»Bis morgen früh«, sagt er und legt auf. Ich schätze, der alte Valentin und die Schachtel von oben werden bald das Zeitliche segnen. Dann kann er alles in Eigentumswohnungen umwandeln und teuer verkaufen. Mir egal. Meine Tasse auf dem Tisch ist leer. Noch einen Kaffee ertrage ich nicht, also köpfe ich zur Feier des Tages ein kühles Mühlen, schalte das Tablet an und suche nach einer Zugverbindung. Ich weiß noch nicht mal, nach was ich suchen werde. Wie viele besuchte Orte sich im Laufe der Jahre in meiner Erinnerung in Nebel aufgelöst haben, kann ich nicht abschätzen. Einsamkeit macht vergesslich und man wird vergessen. Tief unten, auf dem Grund meines Schachtes, werde ich etwas entdecken. Mit dem Mühlen in der Hand stehe ich auf, gehe die wenigen Schritte zum Fenster. Lorenz und Söhne. Mein Herz klopft, wenn ich an Katharina denke. Und mein Magen grummelt beim Anblick der Karte. Kopenhagen. Ich bin schon zu weit weg, um dort je anzukommen. Und der Angst werde ich nicht entgegenfahren. Mit einer schnellen Bewegung landet die Einladung im Papierkorb. Griechenland fällt mir ein. Morgen von Köln nach Brindisi, auf die Fähre nach Patras, quer durch Griechenland und nach Naxos übersetzen. Ich würde sie lieben, die tapfere Schneiderin. Mit ihr zärtlich sein am Strand. Vielleicht die Angst vergessen.

 

Was für eine schöne Geschichte, lieber @Morphin. Voller Gefühl und Zärtlichkeit, mit geschäftsmässiger Distanz im Wechselspiel. Ungeahntes (Neu-)Verlieben, ying und yang, aber auf verschiedenen Umlaufbahnen. Zwei Lebensgeschichten, die unterschiedlicher nicht sein können und doch am selben Ort ihre Wurzeln haben. Ach, was schreib ich da, ich habe jedes Wort genossen, da steckt eine grosse Prise Alltagspoesie drin und ein genaues Beobachten erweckt verschüttet geglaubte Erinnerungen und Wünsche ohne ins süsslich Kitschige abzudriften.
Und wie Heinrich am Ende seine Türen und Rolläden aufreisst, um kompromisslos hinaus ins Licht zu treten und dabei sein Lebenswille erwacht – ganz grosses Kino.

Danke für diese grossartige Geschichte, in der Katharina mit ihrem starken Auftritt einen grossen Anteil zu Heinrichs finaler Entscheidung beiträgt.

Stark gemacht. Liebe Grüsse, dot

 

Guten Tag @dotslash,

vor lauter Bartstoppeln sieht man nicht, dass ich rot werde. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Das ist mal wieder eine der Geschichten, die ich geträumt habe. Kommt ja nicht oft vor. Aber wenn, dann muss ich aufstehen und das Geträumte niederschreiben. So ein 'Traumecho' hält fast den ganzen Tag, also das Spüren der Emotionen während des Traumes - oder der Übergangsphase zum Wachwerden - ist bei diesen Träumen so nachhaltig, dass ich kaum eine Sequenz vergesse. Ob das nun eine Bedeutung hat oder nicht, darüber müssen andere diskutieren. Für mich bedeutet das eine Geschichte. Wer weiß, wie viele Geschichten auf diese Art weltweit schon den Weg aufs Papier gefunden haben.

Schön, dass sie dir Lesevergnügen bereitet hat.

Viele Grüße
Morphin

 

Hey @Morphin,

ich kann nicht viel sagen, außer dass ich deine Geschichte mag und dass sie mich traurig stimmt. Einsamkeit ist so ein Thema, dass einfach anders trifft - grade noch mal mehr, wenn man ein Mensch ist, der gerne alleine ist und sich zeitgleich vor ihr fürchtet. Wann hat man sich zu lange distanziert, wann hat man sich zu sehr abgeschottet, zu viele Anrufe ignoriert - wann wird das gewählte Alleinsein zur quälenden Einsamkeit. Oder anders gefragt: Wann wird man zu einem zerfallenden Körper; zwei, drei Monate nach Ableben von den Nachbarn gemeldet, weil der Geruch einfach unerträglich ist. Das steht so nicht in deiner Geschichte, ich weiß, aber der Gedanke daran hat mich beim Lesen des Textes ständig begleitet - ein Zeichen dafür, dass du Heinrichs Einsamkeit sehr gut rüber bringst.
Ich hab nicht wirklich was zu kritisieren, darum sind die Zitate größtenteils Stellen, die mirbesonders gut gefallen haben:

Hat mein Sohn ihn getrunken beim Schreiben der Karten? Dann verschüttet und sich gesagt, die hier schicke ich meinem Vater. Noch gut genug für ihn. Möglich.
Die Stelle fand ich sehr gut, sie zeigt in wenigen Worten wie Heinrich über seinen Sohn, über sich selbst, über die Beziehung im Allgemeinen denkt. Da ist keine Nähe mehr da zwischen ihnen (was zwischendurch im Text, aber dann vor allem auch am ENde noch mal deutlich wird).

Der Hausbesitzer fällt mir ein. Als er zusammen mit einem aalglatten Immobilienmakler in meiner Küche stand, mit süffisantem Lächeln, ein Ausbund an Fürsorge. Wie es mir geht, ob ich irgendwo Kinder habe, besser noch: Enkel. Und die unbedingt ihren Opa sehen wollen. Dauerhaft, versteht sich.
Die Stelle fand ich auch so schrecklich - ich glaub ich hab's mal erwähnt, ich mach ja grade selbst den Immobilientreuhänder und da ist man ja häufig mehr auf der Gegenseite unterwegs (für den EIgentümer) und mir kommt jedes Mal das Kotzen, wenn ich höre, dass man, sobald man merkt, dass das Leben eines Mieters sich dem Ende neigt, schauen soll, dass sich nicht irgendwelche Kinder oder Enkel "einschleichen", damit das Haus (bzw. die Wohnung) dann auch wirklich bestandfrei ist - beim Friedenskronzins (keine Ahnung ob es den in Deutschland auch gibt bzw. der so genannt wird) verstehe ich die Intention zum Teil, aber menschlich ist es einfach unter aller Sau. Da kommt mir einfach das Kotzen bei sowas - was wiederum für deinen Text spricht. Jetzt sind da schon einsame Leute, die eh keinen haben und draußen kreisen schon die Geier.

Wie soll ich etwas erkennen, an dass ich mich nicht erinnere?
Fand ich auch sehr schön den Satz (überhaupt auch die Stelle mit dem Geruch, also wo er versucht den Geruch seines Sohnes zu riechen).

»Kopenhagen«, sage ich. Warum auch immer. »Ich muss nach Kopenhagen.«
Sie nickt nur. Ist ‚Kopenhagen‘ etwa eine gültige Kennung in diesem Geschäft?
Die Stelle gefiel mir auch sehr gut, da musst ich grinsen.

Lorenz und Söhne. Sie ist weder das eine noch die anderen.
Hier fand ich das nicht ganz rund - vielleicht eher "Lorenz und Söhne. SIe ist weder der eine noch die anderen." oder "Lorenz und Söhne. Sie ist weder das eine noch das andere." -> Also einfach durchgehend entweder drauf beziehen oder das "Sprichwort" (oder ist das mehr ne Redewendung, keine Ahnung) durchgängig verwenden.

Vor der Wohnungstür poltert es. Der alte Valentin? Unwahrscheinlich. Er dürfte gerade im ersten Stock sein. Vielleicht sollte ich doch aufstehen und nachsehen. Die Alte von oben könnte gestürzt sein. Aber wenn ich sie anfasse oder ihr Hilfe anbiete, wird sie mich wieder verfluchen, mir die Pest an den Hals wünschen. Das habe ich schon zwei Mal durchgespielt. Also aufstehen und zum Fenster gehen. Sonst wohnt niemand mehr im Haus. Wir Alten. Valentin, die Schmidt und ich.
Hier noch ne Stelle - da wechselt es mir zu schnell von Valentin und Schmidt umher - da war ich kurz verwirrt und mir nicht ganz sicher ob Valentin jetzt die "alte Schachtel" ist bzw. mir war schon klar, dass Valentin der Typ ist, aber der Wechsel ging da so schnell, dass ich nicht ganz wusste, wer jetzt die Alte sein soll und erst später beim Gespräch mit Katharina ging mir das Licht auf und ich hab gecheckt, dass er da denkt, dass die Schmidt (wieder gestürzt) sein könnte. Kann aber auch an mir legen - ich brauch meistens etwas länger, bis ich checke wer wer ist, darum nur als Anmerkung.

»Kennen Sie Dornröschen?« Sie schaut mich verwundert an. »Wie lange hat sie geschlafen? Hundert Jahre? Wie muss die Welt ausgesehen haben nach hundert Jahren? Heute kommt eine Postkarte aus Kopenhagen. Am Samstag heiratet mein Sohn, den ich eine lange Zeit nicht mehr gesehen habe, auch nicht gesprochen. Können Sie mir folgen?«
»Ich weiß nicht genau«, gesteht sie.
»Ein DIN A6 kleines Stück Karton reißt sie aus ihrer Welt, die Jahrzehnte alt und angestaubt ist. In der sich nichts bewegt, außer dem alten Valentin und der furchtbaren Schmidt. Dann stößt der Wind einen imaginären Fensterflügel auf und sie wissen, es ist Zeit. Zeit für irgendwas. Es muss jetzt enden und sie sollten aufbrechen, etwas wagen.
Den Vergleich fand ich auch sehr schön - ich finde, das fängt ganz schön ein. SChon wenn man sich nur eine Zeit lang verkriecht (so drei-vier Wochen), merkt man, dass die Beziehungen zu den anderen (quasi die eigene, kleine Welt) sich gewandelt hat - für mich kaum vorstellbar, was 20 Jahre mit einem machen. Den Vergleich zu Dornröschen finde ich sehr passend.

Ich bin schon zu weit weg, um dort je anzukommen. Und der Angst werde ich nicht entgegenfahren. Mit einer schnellen Bewegung landet die Einladung im Papierkorb.
Das Ende fand ich schlimm - obwohl ich weiß, dass dieser eine Tag mit dem Sohn bzw. die Hochzeit und vielleicht noch ein paar weitere. höchstwahrscheinlich nicht viel an der Beziehung geändert hätte; es hätte sein können, dass man sich langsam wieder näher tastet, aber natürlich wäre das mit viel Zeit und Arbeit verbunden und es wäre wohl immer (oder zumindest für eine sehr lange Zeit) die Entfremdung da). Für ein "Happy End" ist der Text einfach zu real und darum ist das Ende auch so gut. Auch dieser Gedanke an Katharina, die ihm Halt gibt - obgleich sie ihm deutlich sagt, dass er sich nicht in sie verlieben soll, dass das keine Zukunft hat - finde ich sehr gut; sie ist halt die erste, die er seit Jahren an sich rangelassen hat, die erste, bei der er sich geöffnet hat. Und irgendwo auch der Grund dafür (zusammen mit der Einladung), dass er aufbrechen kann - aber uff, der Druck, den der Text hinterlässt, lässt mich nicht wirklich glauben, dass die Reise, diese (eigentliche) Ziellosigkeit ihm gut bekommen wird.

Auf jeden Fall fand ich den TExt sehr gut, ich habe ihn gerne gelesen.

LG Luzifermortus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Morphin,

ich wohne selbst in meiner Heimatstadt und kann - relativ - spontan zum Mittagessen bei meinen Eltern vorbeikommen. Einmal fragt meine Mutter, was wurde eigentlich aus dem und dem. Und der und der ist Computermensch und lebt seit mittlerweile so fünfzehn Jahren in San Francisco. Meine Mutter geradezu geschockt: Also ich weiß nicht, aber wenn die Kinder so weit weg sind … Das ist ein Thema, das ich bisher zum ersten Mal literarisch verarbeitet sehe, das fand ich sehr spannend. Die Selbstverständlichkeit, mit der es einen heutzutage rausträgt nach ich weiß nicht wo. Das kann glaube ich die Kehrseite sein von „Unser Paul ist bei der Bank in Singapur“. Klingt stolz beim Grillen in Nachbars Garten, aber die Wahrheit ist, du hättest den Paul eigentlich lieber bei dir, Sparkasse Unterhalsbach-Wermelingen-Kötendorf ist doch auch okay. Vor allem, wenn du die Ringe des letzten Vorhangs langsam lauter ratschen hörst.

Also eingangs habe ich das so gelesen, im Laufe der Geschichte geht es ja dann darum, dass der Prot sich schon auch selbst einmauert da (Also beschloss ich, zu implodieren.). Die Region Deutschlands wird glaube ich nicht angesprochen (ach so doch, Kölle), von hier aus würde ich sagen, Kopenhagen ist ja nun nicht aus der Welt. Morgens in den Flixbus, abends bist du da. Das Reisen, gerade allein, wird mit dem Alter bestimmt nicht einfacher, aber wenn der Sohn schon zwanzig Jahre dort lebt, war der Prot ja am Anfang logischerweise zwanzig Jahre jünger. Somit ist Kopenhagen also aus seiner Welt.

Interessant auch, dass ein Vorkritiker den Lebenswillen erwachen sieht, während der andere lobt, ein solcher Text könne natürlich nicht mit Happy End um die Ecke kommen, insofern alles richtig gemacht. Ich tendiere zu Interpretation zwo. Das mit der neuen Garderobe ist so ein Bild für die Rückkehr ins Leben:

Und ich habe ja nicht mal ein gutes Hemd.
Lasse ich mal stellvertretend stehen für die Professionalität des Textes, dass mir als Leser das überlassen wird, weiterzudenken: Klar, wofür auch?

Am Ende packt er den Stier dann bei den Eiern, weg mit der Wohnung, raus in die Welt. Denke ich an deine letzte Geschichte mit dem Bauernhof, der schwule Knecht, da ist dieses Spät-im-Leben-das-Ruder-nochmal-rumreißen quasi schon ein wiederkehrendes Thema bei dir. Das ist ein positives Ende, jetzt geht’s nochmal richtig los. Was mich dann eher betrübt stimmt, ist gar nicht mal, dass er die Karte wegwirft und also nicht zum Sohn nach Kopenhagen zu fahren gedenkt, sondern dieser Konjunktiv in den finalen Sätzen:

Ich würde sie lieben, die tapfere Schneiderin. Mit ihr zärtlich sein am Strand. Vielleicht die Angst vergessen.
Vielleicht. Die Angst ist also noch da.


Ist schon eine tolle Geschichte, Glückwunsch zur Empfehlung.


Ich werde abprallen und im Nirgendwo verschwinden.
»Als mein Sohn auf die Welt kam, hat dies mein Leben mit einem Meer aus Angst gefüllt. Bis zum Anschlag und oftmals darüber hinaus. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag für Tag, all die Jahre, bestand mein Leben daraus, meine Angst zu kontrollieren, im Zaum zu halten. Als er auszog, wurde es nicht besser. Im Gegenteil. Also beschloss ich, zu implodieren. In mich selbst zu fallen, hinter Türen und Rollläden zu verschwinden, unsichtbar zu werden. Das hat meine Frau nicht ausgehalten. Sie ging. Und auch mein Sohn verstand nicht, was mit mir geschah. Das reduzierte seine Besuche von wöchentlich auf monatlich auf jährlich und eines Tages bin ich hinter Türen und Rollläden alt geworden. Jetzt, mit sechzig, kommt eine Karte. Wenn ich wissen will, wie er aussieht, müsste ich ein Foto anschauen, aber leider habe ich alle Fotos in den Müll geworfen und selbst wenn ich noch einige besäße, sie bestünden aus vergangenen Gesichtern. Nur noch an seine Schrift kann ich mich erinnern.«
Das ist stark formuliert alles, nur mich ganz persönlich haut das immer ein bisschen raus, wenn Figuren, die keine Literaten sind, denken und reden wie Autoren.

»Wallraff?«
»Konstantin hier.«
Das ist doch kein Zufall, dass der so heißt? Ausgerechnet, der Blutsauger-Landlord? Schon’ bewusster Gag, oder? Übrigens auch klasse, wie diese Kapitalismuskritik quasi so nebenbei mit abgehandelt wird: Was jucken mich die alten Knacker da, Schotter machen mit Eigentumswohnungen lautet das Gebot der Stunde.

Lorenz und Söhne,
Noch so ein Ding, der Firmenname kommt mir nicht zufällig gewählt vor. Musst du aber nicht sagen, das entzaubert nur.

an dass ich mich nicht erinnere?
das

Zusammen mit dem alten Valentin und der Schachtel.
Würde sie sich diesen abwertenden Begriff trauen, sie kennt doch das Verhältnis von Heinrich zur Frau nicht?

Ein DIN A6 kleines Stück Karton reißt sie aus ihrer Welt, die Jahrzehnte alt und angestaubt ist. In der sich nichts bewegt, außer dem alten Valentin und der furchtbaren Schmidt. Dann stößt der Wind einen imaginären Fensterflügel auf und sie wissen, es ist Zeit. Zeit für irgendwas. Es muss jetzt enden und sie sollten aufbrechen, etwas wagen. Dann jedoch stellen sie fest, dass der Kleiderschrank nichts hergibt. Dass ihre Kleider offenbar älter sind als sie selbst. Dass sie tot umfallen können und niemand wird es sehen.
Das ist auch so ein Part. Das Fette ist ein super Satz, aber dass er den sagt … es ist, als würden die Figuren sich Gedanken über die Metaphern in dem Text machen, in dem sie leben.

Wie oft sie sich schon gepiekt hat? Ins Zahnfleisch, die Zunge …
Feinstes Kopfkino.

»Hast du schon mal jemanden so tief und intensiv geliebt, dass sein Verschwinden dich auf der Stelle aus der Bahn geworfen hätte?«
Den Satz habe ich mir Anfang letzter Woche rauskopiert mit Notizen, die ich inzwischen leider selbst nicht mehr verstehe. Aber weil ich die Geschichte jetzt besser kenne und ein paar mal drüber schlafen konnte, würde ich sagen tragische Ironie: Wegen der Angst, den Sohn zu verlieren, hat er den Sohn verloren.

In ihrem Ursprung stand Violett für Demut, Tugend und Buße. Die Farbe Violett ist aber bedeutend vielschichtiger und symbolisiert das Geheimnisvolle und Mystische, das Innehalten und tiefe Ruhe und eine königliche Opulenz, Macht und Extravaganz.
Habe ich gegoogelt, weil ich mir dachte, auch die Farbe lässt sich bestimmt nicht einfach durch Blau oder Gelb ersetzen.

Viele Grüße
JC

 

@Luzifermortus

Schönen Sonntagmorgen und besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ein sehr langer Kommentar. Und interessant, wo dein Augenmerk ist im Gegensatz bspw. zu @dotslash. Für mich war der zentrale Aspekt zunächst die Szene im Laden. Die hatte ich geträumt, ziemlich so, wie sie da steht. Also aufstehen und schreiben. Überlegen, in welchen Karton ich diesen Traum packe. Man muss gar nicht so weit weg gehen. Schließlich sind der Prot. und ich im selben Alter, Kinder aus dem Haus und die Angst ... ja, in der Tat, das war ein guter Kleber zwischen Traum und Umverpackung. Geht man Bindungen ein, ist ab der ersten Stunde die Gefahr von Verlust. Das war mir dabei wichtig. Und die Einsamkeit gehört dazu.

Das mit der alten Schmidt habe ich etwas erweitert und bei Lorenz und Söhne wurde es ein 'der'.

Ja, und das Ende ... ich finde es konsistent zur Erkenntnis seiner letzten zwanzig Jahre. In Kopenhagen wird er nichts finden, aber er kann für sich noch etwas Neues suchen, nicht dem Verlorenen hinterherlaufen. Wer weiß, vielleicht eröffnet er ja eine Strandbar in Havanna oder so (mein persönlicher Favorit, weißer Rum, kubanische Musik) ...

Besten Dank noch mal und eine schöne Woche wünsche ich.

Grüße
Morphin

 

@Proof

So, ich wollte dir im oberen Kommentar antworten, hab deinen Beitrag gestern Abend gelesen und konnte nicht antworten. Warum? Ich war noch nicht bereit. Klingt blöd. Ist sehr viel in deinem Beitrag drin, über das ich noch mal gegrübelt habe. Aber zunächst: Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ist ja schon ne lange Geschichte.

würde ich sagen tragische Ironie: Wegen der Angst, den Sohn zu verlieren, hat er den Sohn verloren.
Das ist der Kern. Nicht nur den Sohn, auch die Frau. Hier ist es ja nicht die Entfernung. Ob Oer-Erkenschwick oder Kopenhagen oder Valparaiso ... die Geburt hat das Drama eingeläutet. Nein, das Drama zutage gefördert, denn wenn man es mal ohne Literatur eingehender betrachtet, dann beginnt es schon mit der eigenen Geburt. Übertragene Ängste, Bindungsverlust, aber das zu entfalten, soll nicht Teil dieses Textes sein.

nur mich ganz persönlich haut das immer ein bisschen raus, wenn Figuren, die keine Literaten sind, denken und reden wie Autoren
Ich hoffte, ihn als inzwischen so reflektiert dargestellt zu haben, dass er es erkennt. Er spricht ja vom Zusammensetzen des Puzzles. 20 Jahre Zeit gehabt, der Kerl ...

Wallraff? Ein Joke? Ja, schon irgendwie ... ebenso wie der Handwerksname ...

Das mit der Schachtel ist weg. Und die Farbe ... hm, also ich hab sie nicht gegoogelt, mir nur die Hemden vorgestellt und da war klar, dass es nur Violett sein kann. Im Geiste hab ich automatisch zum Violetten gegriffen. Blau, Gelb ... nee, vielleicht waren das auch irgendwelche Erinnerungen. Auch der Prot erinnert sich ja an so ein Hemd. Das war übrigens ein John Wayne-Film. Da trug der Duke ein violettes Hemd mit so ner abgedeckten Knopfleiste.

Das Seltsame an diesem Text ist, dass es mal wieder so ein Monster ist. Es wohnt noch in mir und da muss noch mehr kommen. Ich hab sogar das Romanschreiben deswegen pausiert.

Also, einen schönen Sonntag und ne gute Woche wünscht

Morphin

 

Lieber @Morphin ,

eine schön erzählte Begegnung. Gute Story. Dramaturgie, Stil. Da stimmt alles. Proof hat ja sehr das Expat-Motiv hervorgehoben. Fand ich spannend. Für mich ist es vor allem eine Romanze mit gebührendem Tiefgang. Alter Mann mit Sinnkrise trifft jüngere Frau, die ihm neuen Mut verleiht. Starker, wenngleich vielleicht etwas alter Stoff. Macht mir aber nichts. Persönliche Story, authentisch. Wie immer auch in ihrer ganzen Gefühlsamplitude sehr spürbar. Als das Tränchen auf die Hand tropft, bin ich plötzlich auch nah dran. Das kenne ich von deinen Texten. Eine große Stärke.

Noch ein Schluck Kaffee. Wenn er kalt ist, trägt der Zucker darin mächtig auf. Fast zu süß. Dafür sehr stark. Der Fleck ist vielleicht Kaffee. Hat mein Sohn ihn getrunken beim Schreiben der Karten? Dann verschüttet und sich gesagt, die hier schicke ich meinem Vater. Noch gut genug für ihn. Möglich.

gefällt mir

In der Häuserlücke daneben die Werbetafel, die man vergessen hat. Seit Jahren leer. Noch nicht mal Graffiti hat man ihr zugetraut.

:D

Lorenz und Söhne. Sie ist weder der eine noch die anderen.

:-)

Was moderneres.

Was Modernes.

»Als mein Sohn auf die Welt kam, hat dies mein Leben mit einem Meer aus Angst gefüllt. Bis zum Anschlag und oftmals darüber hinaus. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag für Tag, all die Jahre, bestand mein Leben daraus, meine Angst zu kontrollieren, im Zaum zu halten. Als er auszog, wurde es nicht besser. Im Gegenteil. Also beschloss ich, zu implodieren. In mich selbst zu fallen, hinter Türen und Rollläden zu verschwinden, unsichtbar zu werden. Das hat meine Frau nicht ausgehalten. Sie ging. Und auch mein Sohn verstand nicht, was mit mir geschah. Das reduzierte seine Besuche von wöchentlich auf monatlich auf jährlich und eines Tages bin ich hinter Türen und Rollläden alt geworden. Jetzt, mit sechzig, kommt eine Karte. Wenn ich wissen will, wie er aussieht, müsste ich ein Foto anschauen, aber leider habe ich alle Fotos in den Müll geworfen und selbst wenn ich noch einige besäße, sie bestünden aus vergangenen Gesichtern. Nur noch an seine Schrift kann ich mich erinnern.«

Sehr tellig.

Ich habe vergessen, wie schön Schönheit ist.

Mochte ich

Etwas fällt auf meinen Handrücken. Bis ich verstehe, dass ich weine, reicht Katharina mir ein Taschentuch, steht auf, drückt mich und geht in die Küche. Mit einer vollen Tasse Kaffee kommt sie zurück. Ich habe mich beruhigt. Sie steht neben mir, legt eine Hand auf meine Schulter. »Was ist gerade passiert?«
»Ich weiß nicht.«

hier die Stelle. Hat mich berührt.

»Es lohnt nicht, sich in mich zu verlieben, Heinrich. Ich kann nicht lieben. Niemanden. Seit ich denken kann – oder in dem Fall – seit ich fühlen kann. Ich habe es probiert. Aber ich danke dir für deine Worte. Sie haben Bedeutung für mich.«

Fand ich unnötig und würde ich, wenns mein Text wäre rausnehmen. Zu säuselig für meinen Geschmack.

»Ich ziehe morgen aus. Mit meinen Sachen können Sie machen, was Sie wollen. Verkaufen, dann fällt noch ein gutes Sümmchen ab für Sie. Aber ich will was fürs Ausziehen.«
»Wie viel?«
»5.000 Euro.«
»Abgemacht.«

Sehr abgefahrener Einfall dieser Deal. Mochte ich.

Sehr gerne gelesen!
Carlo

 

@Carlo Zwei

Salü und besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Es wird grad unruhig draußen, die Handwerker bauen das Gerüst auf. Rollo runtermachen, ständig guckt jemand rein ...

Hab mal das Tellige ein wenig gekürzt. Und dann noch die Stelle hier:

Morphin schrieb:
»Es lohnt nicht, sich in mich zu verlieben, Heinrich. Ich kann nicht lieben. Niemanden. Seit ich denken kann – oder in dem Fall – seit ich fühlen kann. Ich habe es probiert. Aber ich danke dir für deine Worte. Sie haben Bedeutung für mich.«

Carlo Zwei schrieb:
Fand ich unnötig und würde ich, wenns mein Text wäre rausnehmen. Zu säuselig für meinen Geschmack.
Ein für mich wichtiger Teil. Weil quasi aus dem Leben, also ein Zitat. Wenn ich es verkürze, kannst du damit leben?
»Es lohnt nicht, sich in mich zu verlieben, Heinrich. Ich habe es probiert. Aber ich danke dir für deine Worte.«

Ja, ich hab lange überlegt. Weiter reduzieren ... ich kann mich damit nicht anfreunden. Der Punkt ist die Erfahrung mit dem Erlebten selbst, egal wo. Ich bin quasi ein Dialogfreak. Ich schätze, du musst mal zum Stammtisch online kommen, da können wir uns ein wenig austauschen. Der nächste ist im August.

Bis bald und schöne Tage wünscht

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

(nur z. Information: beackert nach gestrigem Szand um 10:41)

Wie soll ich etwas erkennen, an das ich mich nicht erinnere?

Wie konnt’ ich nur anfangs an den Begriff der „vaterlosen“ Gesellschaft denken,

lieber Morphin,

ein Begriff, der von Mitscherlich und der Frankfurter Schule für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration geprägt wurde - und in der Tat, mein alter Herr in frz. Gefangenschaft und dann zunächst als Hilfsarbeiter im Hüttenwerk und hernach als „an“gelernte Kraft in der Chemie, mit vor allem sonntäglichen 12-Stunden-Schichten – kurz: Die Fortsetzung der „vaterlosen“ Gesellschaft durch andere Mittel – eben der Arbeitswelt – am besten noch gleich aktuell – angeregt durchs coronare Erbe – gleich daheim … (mit welcher Selbstverständlichkeit die Krankenkasse mir eine neue „digitale Gesundheitskarte“ zugeschickt hat … da werd ich untergewichtiger Bengel irgendwann selbst zum Strich[ko:t]).

Wie dem auch sei, herzlichen Glückwunsch zur Empfehlung und dennoch ein paar Flüskes - vor o. g. Zeitpunkt - wie immer aber ohne Gewähr auf Vollständigkeit) – doch vorweg hör ich Sohnemann als „Muttis Sprachrohr“

Das wirst du schaffen. Grüße! Dein Sohn‘.

»Guten Morgen, Herr Valentin«, sage ich zum Briefkasten, aus dem ich noch zwei Rechnungen nehme.
Valentin „der Gesunde, der Starke“, ein gute Namenswahl …

Wir Alten. Valentin und ich im Zweiten, über uns nur noch die alte Schmidt.
Wirklich –
...
im ZDF?
Würd die Zahl als Attribut und somit Adjektiv des „zweiten“ Stocks oder der „zweiten“ Etage ansehen ... also besser statt der Majuskel mit Minuskel beginnen

Das formt ihr Gesicht zu einer lebenden Marmorbüste, an die ein Jahrhundertmeister Hand angelegt hat.
Sollte es nicht eher „an der ...büste“ heißen? Jedenfalls legt es ein Handanlegen am Marmor nahe ...

Da greifstu (ungeduldig wie ein Jungspund!) zu früh zu – „sie“ spricht ja nicht von „sich“

»Ein DIN A6 kleines Stück Karton reißt sie aus ihrer Welt, die Jahrzehnte … Dann stößt der Wind einen imaginären Fensterflügel auf und sie wissen, es ist Zeit. … Es muss jetzt enden und sie sollten aufbrechen, etwas wagen. Dann jedoch stellen sie fest, dass der Kleiderschrank nichts hergibt. Dass ihre Kleider offenbar älter sind als sie selbst. Dass sie tot umfallen können und niemand wird es sehen.«

& da wird’s nicht so sehr IHR, als ihrem Schöpfer bewusst:

»Wie heißen Sie?«, fragt sie und setzt sich neben mich.

Mehr als Nicken kann ich nicht.
nicken

Ich reibe sie mit einem Tuch aus, das hoffentlich nicht irgendeinem Kunden gehörtKOMMA und fülle nur zur Hälfte Kaffee hinein.

Das Fußpedal der Nähmaschine, ein Elektromotor fängt an, sich zu drehen, die Maschinennadel bewegt sich langsam auf und ab, stoppt.
Komma weg! (unbedingt!), es zerschlägt das komplexe Prädikat „zu drehen anfangen“

Katharina dreht nach, legt den Faden auf eine besondere Weise um den Ansetzpunkt.
Sagt ihr das im Köllschen?,
weiter nördlich, im Niederrheinischen wird das e umgelautet zum Ansatzpunkt ...

Keine Ahnung, was sie kostet, aber selten hatte ich beim Anprobieren ein solches Wohlgefühl.
Hm, ein winziger Ausrutscher in der Zeitenfolge, aber ein „habe“ schließt sogar noch das hier & jetzt ein ...

ha, komisches Gefühl hab ich wahrscheinlich noch mit 100 bei jeder Anprobe ...

Gern gelesen vom

Freatle

 

So muss seine Lunge aussehen. Faszinierend und abstoßend zugleich.

Moin,

ich glaube, es würde dem Text besser stehen, wenn er nicht so erklärend wäre. Der ist das nicht allgemein, über den ganzen Verlauf, aber hier sehe ich das Bild mit der Tapete, und ich bekomme eine Ahnung, was das für ein Typ sein muss; das ist ja eine bestimmte Sorte Mensch, ich habe tatsächlich genau so einen Nachbarn, dem sein Wohnzimmer sind die Veedelskneipen, und dann eben seine Bude vollkommen karg und verraucht. Ich finde, es kippt schnell, wenn man da noch etwas nachschiebt, eine Beobachtung oder ein Bild, weil der Resonanzraum schon offen ist, das hat dein Text gar nicht nötig, finde ich.

Der verfleckte Blumenstrauß erinnert mich an ein altes Romantikgemälde, blasslila Blüten einer mir unbekannten Blume, dazwischen roter Klatschmohn, viel Grünzeug. Glatthafer und Rispengras, wenn mich nicht alles täuscht.
Hier hingegen: warum nicht konkret? Er war mit seinem Sohn in einem Museum und hat ein solches Bild gesehen, oder es gab früher so ein Bauerngemälde, was bei ihnen in der Küche hing, dann wirkt es nicht so konstruiert. Die Erinnerung ist gut, ich denke aber, etwas mehr Konkretes würde eine Verbindung, die mal bestanden hat und jetzt offensichtlich nicht mehr besteht, betonen, da mehr Gewicht drauf legen.
Von der Kreuzung bis zum Netto.
Netto! Sense of place. Immer gut.
Sie ist, wie wir alle hier. Keine Ahnung, was werden soll und warum.
Da wäre ich wiederum vorsichtig. Das steckt ja alles in dem Bild drin. Es wirkt dann schnell zu viel.
Noch einen Kaffee ertrage ich nicht, also köpfe ich zur Feier des Tages ein kühles Reissdorf, schalte das Tablet an und suche nach einer Zugverbindung.
Gönn ihm wenigstens ein Mühlen!

Ja, viel Dialog, wo viel verhandelt wird, was ich immer sehr gut finde. Ich sehe hier einen Mann, der einsam ist, der auch das Gefühl hat, vergessen worden zu sein. Die Einladung wirkt ja auch irgendwie herzlos auf ihn, und man erfährt nicht, warum es so gekommen ist, aber das Tischtuch zwischem ihm und seinem Sohn scheint fast zerschnitten. Insofern wird da der Schritt aufgebaut, wo er sich zur Entscheidung durchringt. Die Szene oder Szenen mit der Frau, da würde ich zurückschrauben; weniger ist mehr, denke ich. Du brauchst das auch nicht in dieser Epik: lieber zaghafter, vorsichtiger, erwartungsvoller - als würde er diese Sequenz wie ein Traum wahrnehmen, wie etwas, das wartet, das auf ihn wartet.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Morphin!

Ich hoffe, du bist keiner, dem zu viel Lob peinlich ist. Sonst habe ich eine schlechte Nachricht: Ich fand deinen neuen Text auch genial! :D
Hatte mich einst in diesem Forum angemeldet, um was zu lernen, und bei dir merke ich, dass ich noch ein gutes Stück Wegstrecke vor mir habe... Ich hoffe, das Lob kam jetzt nicht so ungelenk rüber wie das deines Prots gegenüber der hübschen Schneiderin :p
Erst dachte ich, dass das auch ein Auszug aus einem Roman ist (es wäre ein geeigneter Urknall für einen Roadmovie oder eine Familien-Dramödie), weil du vor einiger Zeit schon mal einen Romanauszug hier veröffentlicht (und leider wieder gelöscht) hast. Hast du vor, daraus was Größeres zu machen, wenn du mit deinem aktuellen Projekt fertig bist? Will aber nicht sagen, dass das als Kurzgeschichte nicht funktioniert, im Gegenteil. Wenn du das so stehen lässt, bin ich immer noch sehr begeistert.
Ich habe nur einen einzigen Kritikpunkt:
Dass der Prot das Gesicht seiner Angebeteten erst als wunderhübsch und dann als Schwarzes Loch bezeichnet, passt für mich so gar nicht. Du leitest das im Text zwar logisch her, schon klar. Aber das Bild von einer alles verschlingenden Sternenleiche liegt in meinem Empfinden auf der exakten Gegenseite von einem lieblichen Frauengesicht. (Und ich wette, nicht nur bei mir.) Auch wenn du dich nicht auf das astronomische Phänomen, sondern auf ein wörtliches Loch ohne Licht beziehst, kann ich das im Kopf nicht vereinen. Oder kam das in deiner Traumvorlage so vor? Dann hätte ich es aber etwas anders verpackt, und nicht so beiläufig eingestreut.
Jetzt aber genug gemeckert, den Rest finde ich immer noch toll, sowohl vom handwerklichen als auch vom Emotionalen. Bin schön eingetaucht!
Freue mich schon auf deine nächste Geschichte, besonders, wenn sie wieder einem Traum entsteigt!
Follow your dreams! :D

VG
MD

 

Salü @Friedrichard,
besten Dank fürs Lesen und Kommentieren und die Fehlersuche. Hab alles erwischt, schätze ich. Hier im Halbdunkel ... Lampe is kaputt. Hab auch noch das eine oder andere umgestellt, ersatzlos gestrichen, anders formuliert. In der Tat - wie mir dann so nach und nach auffiel - ist das mit dem Traum NUR die Szene im Laden. Und nach dem Aufwachen, war klar, das werde ich aufschreiben. Das Einbetten in den Beginn der Angst mit der Geburt eines Kindes ist quasi der Träger für den Traum. Hätte auch ganz was anderes sein können. Wer weiß, ist vielleicht nicht grundlos so geschehen ...

Grüße und wenig Hitze wünsche ich dir.
Morphin


Hallo @jimmysalaryman,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab das eine oder andere entfernt, umgemodelt und Reissorf gegen Mühlen getauscht. Netto ist immer gut. Jeder Netto ist wahrscheinlich eine Quelle der Inspiration. Bei der Verbindung bzw. dem Tischtuch, da bin ich mir nicht sicher. Ist es zerschnitten? Ich finde, ihn regiert nach wie vor die Angst. Er tritt immer nur die Flucht an. Entweder stillhalten oder noch weiter weg, das schützt vor der Spinne, äh, der Angst. Die Szenen des Hingezogenseins zur Frau, ja, das ist Original der Traum. Da bin ich aufgewacht und hab das Echo noch Stunden danach gespürt, so intensiv war das. Das wollte ich umsetzen. Obwohl es klar war, dass es nix gibt. Vielleicht gefällt es mir in 8 Wochen nicht mehr und ich arbeite es um. Seltsamerweise habe ich vor paar Wochen begonnen, altes Zeug umzuarbeiten, weil es nicht mehr in meine Vorstellung passt. 30 Jahre alte Geschichten. Idee okay, aber das war's. Ich fühle mich irgendwie schlecht dabei, weil ich denke, einen Teil von damals auszuradieren. Aber dann ... schlecht geschrieben ist schlecht geschrieben. Was soll's.

Grüße und einen kühlen Ort zum Wochenende wünsche ich.
Morphin


Grüß Gott @MorningDew,
doch, bin ich, aber du siehst mich ja nicht im Klo verschwinden, von daher ... und ich kann dich beruhigen: es ist nur eine Kurzgeschichte. Geschrieben und auch schon wieder halb vergessen. Tragisch, wie schnell so ein Text hinten runterfällt. Ja, was soll ich sagen ... so ein Schwarzes Loch ist für mich echt wunderhübsch. Also vor allem, wenn es eine Akkretionsscheibe aus heißem Plasma hat. Persönlich bin ich noch keinem begegnet, aber ich würde mich sofort verlieben ... und dann spaghettifiziert hineinziehen lassen. Aber was soll's. Einen Tod muss man sterben. Warum keinen schönen?

Die Geschichte hat dich gut unterhalten. Das ist doch was wert. Das mit der Wegstrecke ... der Weg hört nicht auf. Und jede/r geht einen anderen Weg. Inzwischen ahne ich, dass ich Menschen die schreiben, oder deren Geschriebenes, gar nicht miteinander vergleichen möchte. Vor 30 Jahren war das noch so. Bei mir hat es sich reduziert auf 'gefällt mir' und 'gefällt mir nicht'. Klingt ein bisschen banal, aber am Ende ist es Geschmack. So ein paar technische Feinheiten kann man/frau lernen, der besseren Lesbarkeit und der einzelnen Logikbereiche wegen (Handlungs- und Sachlogik, Charakterlogik), aber wenn ich einen toll geschriebenen Fantasyroman angeboten bekomme, werde ich ihn nicht lesen, weil mich das nicht interessiert. Dagegen ein nicht so toll geschriebenes Geschichtenbuch aus dem Alltagsleben in Detroit kann mich durchaus faszinieren. Da 'überlese' ich dann auch handwerkliche Ausfälle. Aber immer dran denken, das ist meine persönliche Sichtweise und keinesfalls woanders gültig.

Bis die Tage und Grüße
Morphin

 

Glückwunsch zur verdienten Empfehlung! Hast Du immer noch Angst vor Spinnen? Es wird bald keine mehr geben. Auch uns "Alte" nicht mehr. Also: Carpe diem!
Meine Lieblingsstelle in der Geschichte, Zitat:
Was war dann? Was kam danach? Aus der Dunkelheit tauchen kein Bilder mehr auf. Als hätte jemand für viele Jahre das Licht ausgemacht.
So ist es.

Liebe Grüße
Antonia

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @Morphin,

Ja, was soll ich sagen ... so ein Schwarzes Loch ist für mich echt wunderhübsch. Also vor allem, wenn es eine Akkretionsscheibe aus heißem Plasma hat.
Hast schon recht, ein Schwarzes Loch ist was faszinierend Schönes. Aber in meinen Augen halt völlig anders schön als eine Frau, aber über Geschmack will ich ja nicht streiten ;)
Es symbolisiert für mich halt nicht ganz unverständlicherweise etwas Beängstigendes. Ok, es gibt auch Frauen, die etwas Beängstigendes ausstrahlen, und vielleicht findet der Prot genau das mitreißend. War das denn dein Gedanke dabei? Dann habe ich die Stelle wohl missverstanden.

es ist nur eine Kurzgeschichte. Geschrieben und auch schon wieder halb vergessen.
Ist ja zum Glück nicht immer so. Zumindest nicht bei mir. Manche haften mir für Jahre an. Und da du oben erwähnt hast, dass du deinen 30 Jahre alten Geschichten ein neues Gewand gibst, spricht ja auch für deren Beständigkeit :cool: Du hast sie schließlich nicht vergessen...

Die Geschichte hat dich gut unterhalten. Das ist doch was wert.
Genau. Ist das Mindestmaß, dass ich an Geschichten oder sonstwelche (pop-)kulturellen Erzeugnisse stelle. Selbst die trivialste Actionklamotte hat was, wenn ich währenddessen Spaß habe, auch wenn ich die Handlung 5 min später wieder vergesse. Solang's nicht langweilt!

VG
MD

 

@Antonia ... junges Haus! Long time, no see. Klar. Meine Spinnenangst ist durchkultiviert. Bisweilen ist es sogar schon so weit, dass ich in den Außenbereichen meines Sehfeldes Spinnen huschen sehe, aber da ist dann nix. Parapsychische Phänomene und so ...

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Freut mich, dass der Text dir gefallen hat. Und ... in Maikammer steht immer ein Kaffee bereit.

Bis die Tage und immer eine offene Blende.
Gruß
Morphin

 

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