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Virus

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11.05.2002
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Virus

Silke rannte hinaus in die kühle Regenluft. Einige Sterne waren hinter weißen, dünnen Schleierwolken zu erkennen. Es war kalt, der Geruch von nassem Laub jedoch tat gut, nach diesem Äthergestank in der Klinik. Viel länger hätte sie es hier drinnen nicht mehr ausgehalten.
Sie verlangsamte ihre Schritte erst, als der graue Block der Infektionsabteilung aus ihrem Blickfeld war. Ein Auto fuhr vorbei. Drinnen saßen ein Elternpaar mit einem kleinen Kind, das in eine Decke gewickelt, auf dem Rücksitz lag. Das Gesicht und seine Ärmchen waren mit roten Flecken gesprenkelt. Silke erinnerte sich an ihren Schulkameraden Harald, der die halbe Klasse mit den Windpocken angesteckt hatte. Damals war es noch ganz nett, sich mit einer nicht allzu schlimmen Kinderkrankheit zu infizieren und für ein paar Wochen Ruhe vor der Schule zu haben.

Silke fühlte sich schlapp. Ihr Hals schmerzte und ihr geschwollenes Zahnfleisch pochte. Sie suchte in der Handtasche nach einer Tube "Dynexan".
Hinter der Wegebiegung sah sie ein blaues Licht aufflackern und hörte gleich darauf den lauten Signalton eines Martinhorns. Hastig verließ sie den Gehweg und duckte sich hinter ein Gebüsch. Ein Zweig mit nassem Laub schlug ihr ins Gesicht. Ihr Herz schlug schnell, als ein Rettungswagen an ihr vorbeifuhr.
"Ich will doch nur meine Ruhe haben", dachte sie, während sie Laub und Schlamm von ihrem Mantel klopfte. "Warum ist plötzlich alles zu Ende? Warum ausgerechnet ich! Aber was soll's, soviel Lebenswertes gibt es für mich sowieso nicht mehr."
Ein leeres Taxi kam aus dem Klinikhof gefahren. Sie wollte es zuerst herbeiwinken, entschied sich aber dann, lieber einen Bus zu nehmen.

Kurz hinter einer Kurve am Waldrand, sah sie die Haltestelle der Linie "R".
"Hoffentlich gibt es um diese Uhrzeit noch eine Busverbindung zur Innenstadt!" dachte Silke. Sie wusste, nach Hause laufen, das schaffte sie nicht mehr. Da sah sie in der Ferne Scheinwerfer aufleuchten. Sie beschleunigte ihre Schritte, als der Bus an der Haltestelle zum stehen kam. Die Tür ging auf, der dicke Busfahrer nickte ihr zu und wünschte ihr einen guten Abend. Silke grüßte zurück, doch ein schmerzhafter Hustenanfall hinderte sie daran, ihr Fahrtziel zu nennen. Geduldig und voller Mitleid wartete der Busfahrer ab, bis sie zu Ende gehustet hatte. Mit einem Taschentuch vor dem Mund betrat sie das Fahrzeug und sagte: "Zur Bismarckstraße." Der Bus war leer, Gott sei Dank! Sie setzte sich auf den letzten Platz vor der Rückbank und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. Der Scheibenwischer des Busses wischte schwerfällig, mit einem schabenden Geräusch, das Wasser von der Scheibe. Im Rückspiegel sah sie den Fahrer und hörte ihn grummeln: "Ja, die Grippewelle in diesem Frühjahr ist schon eine echte Plage."

Als sie endlich bei ihrer Wohnung angekommen war, fühlte sie einen stechenden Schmerz an der rechten Schläfenseite und eine Benommenheit, die höchstwahrscheinlich vom hohen Fieber herkam. Ihre Knie waren weich und sie hatte Mühe die Treppe hinaufzusteigen.

Die Aspirintablette löste sich zischend im Wasser auf. Der Blick in ihren Badezimmerspiegel erschreckte sie sehr: Ihr mittelblondes Haar das normalerweise in einer adretten Föhnwellenfrisur auf ihre Schulter fiel, hing in nassen, wirren Strähnen ins Gesicht. Die Wangen waren fleckig rot und auf ihrer dick geschwollenen Oberlippe bildeten sich wässerige Blässchen. Ihre graublauen Augen glänzten feucht. Die schöne Urlaubsbräune aus dem Thailandurlaub war fast nicht mehr zu sehen.
"Entweder es wird besser und morgen ist vielleicht schon alles wieder halbwegs okay oder... "
Weiter wollte sie nicht denken. Stattdessen nahm sie das Kuvert mit ihren Urlaubsfotos vom Nachttisch. Diese zwei Wochen in Asien hatten ihr den nötigen Abstand gegeben, den sie brauchte, denn privat und beruflich war alles schiefgelaufen, was schief laufen konnte.
Zuerst wurde Silke ein Opfer der Sparmaßnahmen ihrer Behörde. Ihr wurde mitgeteilt, dass sie in die "PVS" kam. Das heißt konkret, sie kam zur "Personal-Vermittlungs-Stelle" und wird an eine andere Institution des öffentlichen Dienstes innerhalb des Bundeslandes Hessens vermittelt werden. Wenn nach zwei Jahren keine erfolgreiche Übernahme erfolgt sein sollte, drohte ihr leider die betriebsbedingte Kündigung.
Dann hatte sie zu allem Überfluss noch die unschöne und schmerzliche Trennung von Jürgen, ihrem Partner, zu verkraften und die war beinahe noch härter als die PVS-Meldung. Silke hätte damals merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Einmal war Jürgen, kühl und abweisend und sagte überraschend Verabredungen ab. Dann war er wiederum scheinbar überglücklich sie zu sehen und überhäufte sie mit Zärtlichkeiten. Eines Morgens fand sie auf ihrem Computer eine E-Mail. Darin teilte er ihr kurz mit, dass Schluss sei, weil er eine andere Frau kennen gelernt hatte. Mit dieser war er nun schon seit längerer Zeit zusammen, hatte aber erst jetzt sich getraut, Silke die Wahrheit zu sagen.
Zu einer letzten Aussprache lud Jürgen dann Silke in seine Wohnung ein. Er erklärte kurz den Sachverhalt, sagte ihr dass er sie immer noch sehr mochte, aber dass das mit Jenny, so hieß seine neue Freundin, "etwas ganz anderes war." Er bot Silke Chips und Cola an, schaute auf die Uhr und sagte: "Jenny wartet auf meinen Anruf."
Es war schon bitter: "Hallo Prinzessin", hatte er sie in Silkes Beisein am Telefon genannt. Ihr hatte er nie einen Kosenamen gegeben.
Silke erfuhr ein paar Wochen später, dass diese Frau wenig mit einer Prinzessin gemein hatte, zumindest war ihre Telefonstimme laut und schrill. Sie hatte in Jürgens Schreibtischschublade spioniert und ein altes Foto, auf dem Silke im Bikini abgebildet war, gefunden. Unglücklicherweise befand sich auf diesem Foto rückseitig Silkes Telefonnummer. Jenny rief sie voller Zorn an und fragte was das solle, ob mit ihr und Jürgen noch was laufe und sie hätte ihm eigentlich einen besseren Frauengeschmack zugetraut. Sie könnte nicht verstehen, was er an so einem blassen Geschöpf mit Zellulitis an den Oberschenkeln finden konnte.
Silke wollte damals nur noch weinen, teils aus Trauer, teils aus Zorn.

"Und jetzt macht Jürgen 'Nägel mit Köpfen'", dachte Silke frustriert: "Morgen will er seine Jenny heiraten. Nun bin ich krank und habe einen Grund zu Hause zu bleiben. Der hat doch tatsächlich gedacht, ich komme auf die 'Mathildenhöhe', gratuliere und trinke ein Gläschen Schampus mit, 'weil wir ja Freunde bleiben wollen.' Dieses A... ."

Silke griff nach dem Umschlag. Er entglitt ihr und die Bilder fielen auf den Boden. Ihr wurde schwindlig, als sie sich nach den Fotos bückte.
"Ach, wie schön", sagte Silke leise als sie die Aufnahmen langsam und mit Genuss noch einmal ansah: Blauer Ozean, weißer Sandstrand, wolkenloser Himmel und Palmen, dazwischen Silke mit Stefan, ihrer Urlaubsliebe. Leider hatte diese Partnerschaft keine Zukunft; Stefan war verheiratet. Vielleicht war es auch besser so, sie wollte zur Zeit keine feste Beziehung.
Silke griff zum Telefon und wählte Stefans Handynummer. Zu ihrer großen Überraschung war keine Mailbox geschaltet und er meldete sich schon nach dem zweiten Freizeichen.
"Entschuldigung Stefan, ich bin’s, die Silke. Stör ich dich hoffentlich nicht? Bist du alleine?"
"Ich bin auf dem Heimweg von einem Seminar. Wir können uns noch ein paar Minuten unterhalten, wenn du willst."
"Du Stefan, bist du gut angekommen, geht es dir gut?"
"Der Rückflug war ziemlich heftig. Da gab es ein paar richtig ekelige Luftlöcher. Aber ansonsten geht es mir super. Es war ein richtiger Traumurlaub, ehrlich. Diesmal blieb ich sogar von so einer Magen-Darm-Verstimmung verschont, die ich ansonsten immer im Urlaub bekomme. Das lag wohl daran, dass ich mich hauptsächlich vegetarisch ernährt habe. Du, ich finde die Haustierhaltung in diesem Land, insbesondere das eng zusammengepferchte Geflügel, nicht so toll!"
"Scharf gewürztes Hähnchenfleisch habe ich in Thailand immer sehr gerne gegessen", sagte Silke mit matter Stimme.
"Du, wir müssen aufhören, ich glaube jetzt kommt ein Funkloch, ich höre dich kaum noch. Wir können ja nächste Woche noch einmal miteinander telefonieren. Dann habe ich auch mehr Zeit", sagte Stefan, bevor er auflegte.

"Wenn es überhaupt noch eine nächste Woche für mich gibt", dachte Silke.

Das Telefon klingelte und Silke hob ab, in der Hoffnung, dass sich Stefan noch einmal melden würde.
"Marienhospital Darmstadt... "
Wortlos wurde der Telefonhörer auf die Gabel geknallt. Silke konnte sich gar nicht erinnern, eine Telefonnummer in dieser Klinik hinterlassen zu haben.
"Diese Halbgötter in Weiß sollen mich doch gefälligst in Ruhe lassen", dachte sie. "Schließlich ist es meine eigene Entscheidung, ob ich mich nach der Diagnose einsperren und an Apparate anschließen lasse, obwohl kaum Hoffnung auf Genesung besteht oder ich mich zurückziehe und in aller Stille aus dem Leben scheide."

Silke löschte alle Lichter und verriegelte die Tür doppelt. Sie lauschte nach draußen: Alles war still, doch in der Ferne hörte sie ein Martinshorn heulen.
Das Geräusch wurde lauter und dröhnend. Der Wagen kam zum stehen, Autotüren schlugen zu und sie hörte die hastigen Schritte zweier Männer, die zu der Haustür ihrer Mietwohnung eilten. Gleich darauf schrillte ihre Haustürglocke.
"Polizei, bitte öffnen Sie die Tür!"
Silke versteckte sich zitternd unter der Bettdecke.
"Ei, die is net daham, die suche Se umsonst. Komisch Mädche is des, immerzu unerwegs," hörte sie ihre Nachbarin aus dem Erdgeschoss in ihrem Darmstädter Dialekt nörgeln.
"Danke", hallte die Stimme des Polizisten aus dem Treppenhaus. "Aber ich darf Sie um eines bitten, falls sie zurück kommen sollte, rufen Sie mich bitte sofort an!"
Die Haustür wurde zugeschmissen und Silke hörte das sich entfernende Heulen des Martinshorns.
So wenig Silke ihre tratschsüchtige Nachbarin leiden konnte, doch in diesem Fall war die redselige Frau ihre Rettung.

Das Aspirin wirkte gegen Silkes Kopfschmerzen, aber das Fieber ging nicht zurück. Sie schaute in ihren Kulturbeutel, der sich noch in der Reisetasche befand. Unter Packungen mit Sonnencreme, Mittel gegen Magen-Darm-Katarre und Après Sonnenmilch, fand sie eine Schachtel mit hochdosierter Antibiotika. Die bekam sie immer vom Hausarzt verschrieben, wenn sie auf Fernreisen ging. Sie nahm eine der Tabletten und schaltete die Nachttischlampe aus.
"Vielleicht ist es doch nur eine harmlose, aber lästige Erkältung", hoffte sie. "Die Ärzte haben sich gründlich geirrt und ich kann morgen meine Powerpoint-Präsentation im Dezernat halten."
Diese Aufführung war ihr sehr wichtig, denn da konnte sie einigen Mitarbeitern zeigen, dass ihre fachlichen und datentechnischen Kenntnisse auf dem neuesten Stand waren.

Silke schwebte über einer Wiese mit weißen Blüten. Sie versuchte mit ihren Füßen den Boden zu berühren, was ihr aber andauernd misslang. Aus der Ferne hörte sie Glocken läuten. Unter einer Linde tanzte ein Brautpaar. Beim Näherschweben sah Silke, dass es Jürgen und seine "Prinzessin" waren. Sie tanzten nicht wirklich, sie wurden getanzt, denn sie waren Figuren auf einer Spieluhr, die sich als riesige Hochzeitstorte herausstellte. Silke streckte einen Finger aus und wollte von der weißen, sahnigen Masse etwas kosten, da öffnete sich die Torte mit einem rasselnden Geräusch. Oh Schreck, es tat sich ein schwarzer Schlund mit gierigen Zähnen vor ihr auf. Das Geräusch wurde lauter, unerträglich laut.

"Rrring", lärmte der Wecker, der von Silke mit einer heftigen Handbewegung vom Nachttisch geschleudert wurde.
Acht Uhr, nein das war viel zu früh, sie konnte jetzt unmöglich aufstehen. Ihr Rachen war ausgetrocknet und ihre Zunge sah wie rot angepinselt aus. Silke griff zum Telefon, um sich im Büro krank zu melden. Am Apparat ertönte nur das Freizeichen, offensichtlich war der Chef noch nicht da.
"F. U. You right back", sang "Frankee". Silke drehte am Lautstärkenregler des Radios, da wurde der Song mit einem Piepton unterbrochen.
"Achtung, uns hat gerade eine wichtige Eilmeldung erreicht: Eine junge Frau, mit den Symptomen der 'Asiatischen Vogelgrippe', verließ gestern fluchtartig eine Darmstädter Klinik. Die Frau ist ca. 30 Jahre alt, 1,68 m groß, schlank und hat blondes, schulterlanges Haar. Bekleidet war sie mit einem hellen Parka und olivgrünen Stiefeln. Hinweise geben Sie bitte an Ihre zuständige Polizeidienststelle."

Da wusste Silke, was sie zu tun hatte.

Sie schluckte noch eine Antibiotika-Tablette, quälte sich unter die Dusche. Frierend hüllte sie sich in ihr Duschtuch und stellte ihre Garderobe für die Powerpoint-Präsentation zusammen. Beigefarbener Kaschmir-Pullover mit V-Ausschnitt, dazu im gleichen Farbton einen knielangen Rock mit zwei hellen Samtstreifen an den Seiten. Das stand ihr gut und sie fand, sie sah sehr schlank in diesen Kleidern aus. Sie nahm ihre Perlmuttohrringe aus der Schmuckdose und suchte noch nach einem passenden Armband. Da klingelte das Telefon und die Nummer ihrer besten Freundin, Anita, erschien auf dem Display. Silke nahm nicht ab.
"Die soll mich doch mal gern haben."
Anita war nach Silkes Trennung von Jürgen andauernd bemüht, Silke zu trösten und sie mit netten Männern zu verkuppeln. Sie kannte eine Reihe "leider einsam und alleine gebliebener Junggesellen, die doch etwas für Silke wären."
"Zu spät für so was", dachte Silke. "Ich würde so einem Mann nur noch den Tod bringen." Sie hörte noch den knarrenden Ton des anspringenden Anrufbeantworters, als sie die Wohnung verlies.

Kurz nach neun Uhr betrat sie den Sitzungssaal des Regierungspräsidiums. Zielstrebig ging sie zu dem Laptop mit Overheadprojektor. Ihre Brust rasselte, ein Hustenanfall kündigte sich an. In der ersten Reihe, kurz vor dem Rednerpult, sah sie die rot-blonden Locken der Oberinspektorin Frau Schornhoff-Jäger leuchten. Mit ihr hatte Silke im letzten Halbjahr reichlich Ärger gehabt. Neben ihr saß eine schmale Frau mit langen, dünnen Haaren, Frau Heller. Diese Frau konnte Silke ebenso wenig leiden, denn sie war verlogen und hinterlistig. Silke hatte den Verdacht, dass sie diesen beiden Damen ihre "PVS"-Meldung zu verdanken hatte. Ein erneuter Hustenanfall schüttelte sie. Absichtlich hielt sie ihre Hand verspätet vor den Mund.

"Meine Güte, sind Sie aber erkältet", bemerkte Frau Heller, zuckte zurück und zog ihr fliehendes Kinn noch ein Stück näher an den Hals.
"Wären Sie doch besser im Bett geblieben, Sie werden uns noch alle anstecken", sagte Frau Schornhoff-Jäger.
Silke konnte sich ein Grinsen kaum verbeißen und begann mit ihrem Vortrag: "Motivation für die Arbeit, das fängt meist schon bei einer Dezernatsbesprechung an, geht aber manchmal dabei verloren."
Auf der Leinwand war ein "Standard-Clip-Art" zu sehen, das stilisierte Menschen an einem Sitzungstisch zeigte. Diese flüchteten anschließend, rechts und links, über den Bildschirmrand. Stolz beobachtete Silke die Wirkung des Publikums auf ihre Animation.
Nach einigen Hustenanfall-Unterbrechungen hatte sie schließlich die halbstündige Powerpoint-Präsentation hinter sich gebracht. Ihre Knie zitterten und sie wusste, sie konnte keinesfalls die vollen acht Stunden auf der Arbeit durchhalten. Sie fragte den Dezernatsleiter, ob sie nach Hause gehen könnte, sie hätte sich einen Infekt eingefangen und sie fühlte sich nicht gut. Weil sie sich gut mit ihm verstand, blieb sie weit entfernt von ihm stehen, während sie ihre Bitte vortrug. Der Dezernatsleiter nickte, und riet, die Erkältung zu Hause richtig auszukurieren.
Silke ging über den zugigen Flur. Sie hatte das Bedürfnis, sich innerlich aufzuwärmen. In der Kantine zog sie sich eine Tasse Kaffee am Automaten und setzte sich in die Nähe der Heizung. Eine Tischreihe weiter saßen plaudernd die Putzfrauen: "... und jetzt soll sogar die "Asiatische Hühnergrippe" ausgebrochen sein. Elfriede, wenn ich anfange zu Gaggern, weisst du Bescheid."
Silke überkam ein Schüttelfrost, ihre Zähne schlugen an den Tassenrand, als sie trinken wollte.
"Über so etwas darf man nicht scherzen", dachte sie.

Mit glühendem Kopf und wackeligen Knien ging Silke zum "Luisenplatz", um sich ein Taxi zur Jugendstilkolonie "Mathildenhöhe" zu nehmen. Sie musterte sich in der Spiegelung einer Schaufensterscheibe und erschrak: An ihren Händen, an den Schläfen und an ihren Wangenknochen hatten sich kleine, rote Pusteln gebildet.
"Jetzt bin ich auch noch stigmatisiert", dachte Silke, während sie auf ein Taxi zuschritt. Mit einem Taschentuch vor dem Gesicht gab sie ihr Fahrtziel an.
"Haben Sie etwas Ansteckendes?" fragte der Taxifahrer misstrauisch.
Undeutlich murmelte Silke hinter dem Tuch: "Mathildenhöhe, können Sie bitte Nähe 'Hochzeitsturm' anhalten."
Wortlos startete der Taxifahrer und fuhr im zügigen Tempo den Hügel hinauf. Als Silke ihm schließlich das Fahrtgeld zahlte, drehte er starr den Kopf zur Seite und reinigte sich anschließend seine Hände mit "Kölnisch-Wasser-Tücher".

Am sogenannten "Hochzeitsturm", ein prächtiges Bauwerk aus der Jugendstilzeit, hatte sich eine fröhliche Gesellschaft versammelt. Gläserklirren und Lachen klangen Silke entgegen. Ihr Herz schlug schnell und ihr Gesicht war stark gerötet.
"Auf den jungen Unternehmensberater, unser bestes Pferd im Stall, und auf seine schöne, junge Frau!" rief ein dicklicher Mann, dessen weißes Hemd über den Hosenbund quoll.
"Prost, prost, zum Wohl", erklang es vielstimmig.
Silke fühlte sich wie in Trance. Auf einer Mauer stand das frischgetraute Paar mit erhobenen Champagnergläsern und lächelte huldvoll in die Menge. Blitzlichter, Gläserklingen - Silke spürte einen Brechreiz und schluckte krampfhaft. Nein, das war jetzt leider kein Alptraum, das war brutale Wirklichkeit. Jenny und Jürgen, Jürgen und Jenny...
Jürgen trug sein blondes Haar noch ein Stück kürzer, als sie es in Erinnerung hatte. Dieser ausrasierte Nacken gefiel ihr nicht. Doch seine grünblauen Augen, die durch den Champagnergenuss besonders intensiv glänzten, hatten noch die gleiche Wirkung auf Silke, wie ehedem. Dann dieses strahlende Lächeln dazu, die vielen Grübchen und Lachfalten, Jürgen war schon immer ein überaus attraktiver Mann gewesen. Neben ihm stand seine "Prinzessin", Silke sah sie zum ersten Mal. Jenny war einen Kopf kleiner als Jürgen und sehr zierlich. Unter ihrem Brautschleier kringelten sich goldblonde Korkenzieherlocken. Bekleidet war sie, passend zur Lokalität, in einem schlichten weiß-samtenen Jugendstilbrautkleid, das zusammen mit der weißen Zuchtperlenkette einen schönen Kontrast zu ihrer gebräunten Haut abgab.
Silke winkte und versuchte so fröhlich wie nur möglich zu schauen.
"Hallo Silke", nun hatte Jürgen sie entdeckt. "Das ist aber schön, dass du gekommen bist." Jennys hübsches Gesicht bekam einen säuerlichen Ausdruck und sie lächelte etwas gezwungen. Silke atmete, um ruhiger zu werden, dreimal tief durch. Dann trat sie auf das junge Brautpaar hinzu und gab den Beiden schmatzende, feuchte Küsse auf die Wangen.
"Ich muss jetzt gehen, bin noch auf der Arbeit", rief sie, drehte sich um, und hielt nach einer Taxe Ausschau.
"Das Werk ist vollbracht", dachte sie, während sie sich von der fröhlichen Gesellschaft entfernte.

Von der Fahrt zurück zu ihrer Wohnung, hatte sie fast nichts mitbekommen. Ihr Fieber war gestiegen und ihr Kopf fühlte sich leer an. Sie drehte sich zur Seite und hielt dem Taxifahrer den Geldbeutel hin, damit er sein Fahrgeld herausnehmen konnte.

Silke tastete sich an der Hauswand entlang, ihr ganzer Körper war schwach und zitterig. Die Straße blieb ruhig, zum Glück war kein Polizeiauto oder Krankenwagen zu sehen. Als Silke in ihrer Wohnung angekommen war, musste sie an Stefan denken. Ob er sie vermissen würde, wenn sie nicht mehr da war. Sie holte ihr Handy hervor und tippte mühsam eine SMS: " Hi Stefan, hdl. " Ihr Kopf dröhnte, das rote Blinken des Anrufbeantworters empfand sie als quälend. Sie drückte auf den Wiedergabeknopf, und ihre Freundin begann auf dem Band zu sprechen:
"Hey Silke, ich bin's die Anita. Erinnerst du dich noch an den netten, alleinerziehenden Vater, der mich mit seinen süßen Kindern besucht hatte. Das war kurz nach deinem Thailandurlaub. Du hattest mit uns Kaffee getrunken und von deinen Reiseerlebnissen erzählt. Die Kinder fanden doch diese Aufnahmen mit den Haien so geil. Stell dir vor, beide Kinder haben jetzt Scharlach und auch dem Vater geht es inzwischen mies. Sei so gut, und lass dich bei Symptomen wie himbeerroter Zunge und unklarem Hautausschlag von einem Arzt untersuchen, denn eine Kindererkrankung im Erwachsenenalter ist nicht so ohne."

 

Manchmal ist es wirklich schade, wie einige gute Geschichten hartnäckig von Kommentaren gemieden werden. So auch hier. Von einigen Fehlern abgesehen, die beim Lesen stören, hat mir die Geschichte sehr gut gefallen.

Die Protagonistin, vom Leben enttäuscht, im Halbbewußtsein zunächst, dann mit wirklicher Böswilligkeit, auf einem Rachefeldzug, wird sehr gut dargestellt; die Mattheit, durch Krankheit und Ereignisse ihrer jüngsten Vergangenheit verursacht, ist anschaulich umgesetzt. Ihr Handeln erscheint folgerichtig und wunderbar anmaßend: Das Leben hat es nicht gut mit mir gemeint, also zahl ich es allen zurück. Aber nur denen, die es wirklich verdienen.

Die Pointe am Ende könnte man vielleicht sprachlich noch besser herausstellen; sie wirkt momentan ein wenig erzwungen (als großer Fan von "12 monkeys" hätte mir ein Viren-Inferno natürlich auch "gefallen").

Technische Anmerkungen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

  • "Asperintablette"
  • "Das heißt auf gut deutsch" - Ausdruck
  • "hätte sie keinen Nerv mehr gehabt" - dito
  • "was sie so drauf hatte" - dito
  • "verlies" - 'verließ' (kommt zweimal vor)
  • "Cashmeer" - 'Cashmere', aber weshalb nicht 'Kaschmir'?
  • "weist du"

Sehr gut fand ich die Dialektstelle:
Ei, die is net daham, die suche Se umsonst. Komisch Mädche is des, immerzu unerwegs

Sowie dieser Ausdruck:
Sie tanzten nicht wirklich, sie wurden getanzt, denn sie waren Figuren auf einer Spieluhr, die sich als riesige Hochzeitstorte entpuppte.

Wobei "entpuppte" vielleicht besser mit dem einfachen 'herausstellte' ersetzt wird; mein Urteil.

Ich denke, noch einmal über den Text zu gehen kann nie verkehrt sein. So auch hier. Aber: das Lesen hat Freude bereitet.

 
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Hallo cbrucher,

erst mal vielen Dank für Deine Kritik.
Die Fehler habe ich erst mal beseitigt. Ich hab es nicht so mit der neuen deutschen Rechtschreibung . 'smile'

Den Schluss überdenke ich mir noch einmal. Also die Prot hat in Wirklichkeit Scharlach, denn eine Übertragung der 'Asiatischen Hühnergrippe' geht zwar von Geflügel zu Geflügel, auch von Geflügel zum Menschen. Aber von Mensch zu Mensch läßt sich die Krankheit, nach neuen wissenschaftlichen Feststellung, zum Glück nicht übertragen.

LG
Leia4e

 

Mir ist heute morgen noch ein logisches Detail eingefallen: Du solltest vielleicht auch die Tür, die Du mit dem Erscheinen der Polizei aufmachst, noch schließen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,
ich habe es abgeändert.
Die Polizei hat man ja nicht allzu gerne länger im Hause. 'smile''

 

Hallo Leia4e,

auch mir hat deine Geschichte gefallen. Das Krankheitsbild und den Zustand der Frau hast du gut beschrieben, ihr Verhalten in den Stunden, die sie für ihre letzten hält, finde ich ebenfalls nachvollziehbar. Die Pointe hat mir gut gefallen. Irre ich mich oder gab es in den letzten Wochen nicht eine Meldung, dass es nun doch Indizien für eine Übertragung der Vogelgrippe von Mensch zu Mensch gibt?

Ein paar sprachliche Details sind mir noch aufgefallen, vielleicht magst du sie ausbessern:

Es war kalt, jedoch der Geruch von nassem Laub tat gut, nach diesem Äthergestank in der Klinik.
Vorschlag: das "jedoch" vor "gut" verschieben, einfach vom Gefühl her
Viel länger hätte sie es hier drinnen nicht mehr ausgehalten.
aufgrund der Vergangenheitsform würde ich das "hier" gegen "dort" eintauschen
"Hoffentlich fährt um diese Uhrzeit noch ein Bus!", dachte Silke.
Das heißt konkret, sie kam zur "Personal-Vermittlungs-Stelle" und wird an eine andere Institution des öffentlichen Dienstes innerhalb des Bundeslandes Hessens vermittelt. Wenn nach zwei Jahren keine erfolgreiche Übernahme erfolgt, droht leider die betriebsbedingte Kündigung.
Was hältst du davon, hier die Vergangenheit beizubehalten?
Jenny rief sie voller Zorn an und fragte was das soll, ob mit ihr und Jürgen noch was läuft ...
Ich würde in der indirekten Rede den Konjunktiv verwenden, also "fragte was das solle", "ob mit Jürgen noch was laufe" usw.
Der hat doch tatsächlich gedacht, ich komme auf die 'Mathildenhöhe', gratuliere und trinke ein Gläschen Champus mit, 'weil wir ja Freunde bleiben wollen.'
Schampus
Unter Packungen mit Sonnencreme, Mittel gegen Magen-Darm-Katarre und Apre Sonnenmilch, fand sie eine Schachtel mit hochdosierter Antibiotika.
Après
Dann dieses strahlende Lächeln dazu, die vielen Grüppchen und Lachfalten
Grübchen

Liebe Grüße
Juschi

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke Juschi, es freut mich, dass dir meine Geschichte gefallen hat. Ich hab noch einige Sachen verbessert. Mit der 'Zeit' hab ich so meine Probleme. :)
Gruß
Leia4e

 

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