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Virus
Reboot?
Pauls Finger brauchten nicht lange zu suchen. Intuitiv wanderten sie auf der Tastatur entlang und so war es nur eine Frage von Sekundenbruchteilen, zunächst das Y und schließlich die Entertaste zu drücken.
Der mechanische Impuls wurde in der Tastatur in einen elektrischen umgewandelt, Elektronen wurden geweckt und suchten sich ihren Weg entlang der Datenleitungen ins Innere des Systems, wo sie von perfekt funktionierenden Relais in die richtigen Bahnen gelenkt wurden, komplexe Schaltungen durchquerten und schließlich am Ende ihrer ebenso langen, wie auch schnellen Reise dem Hauptkern den Befehl erteilten, den Strom für einen Moment abzustellen.
"Hat es funktioniert?"
"Das System ist ordnungsgemäß wieder hochgefahren und der Virenscanner geladen."
"Und jetzt?"
"Jetzt können wir nur noch warten, bis er den Virus lokalisiert hat."
"Wie lange wird das wohl dauern?"
"Das hängt ganz davon ab, wo der Virus sich versteckt hat. Ich habe das Programm so modifiziert, daß es das System sehr sorgfältig untersucht. Hat es einen beschädigten Teil des Codes gefunden, vergewissert er sich mit mehreren Prüfroutinen, es wirklich mit dem Virus zu tun zu haben und dann erst wird er tätig. Darum kann es etwas dauern, aber nur so können wir sicher gehen, nicht aus Versehen wichtige Daten zu verlieren."
"Sehr schön, Cole. Gute Arbeit. Dann mache ich mal Mittagspause."
"Okay, Mister Darsson. Ich könnte auch eine kleine Pause vertragen."
Paul lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und wartete, bis sein Chef das Büro verlassen hatte. Das war eine der grundlegenden Regeln, wenn man es in dieser Welt zu etwas bringen wollte: Niemals vor dem Vorgesetzten in die Pause gehen. Er schaltete den Monitor aus, tätschelte das Gehäuse seines Rechners noch einmal liebevoll und verließ dann ebenfalls das Büro.
Schnellen Schrittes durchquerte Paul die Eingangshalle von Darsson Systems, grüßte den Pförtner mit einem flüchtigen Nicken und trat hinaus auf die Straße. Er hatte es eilig, denn er war vor fünf Minuten mit Cindy zum Essen verabredet gewesen. Cindy arbeitete ein paar Straßen weiter als Verkäuferin in einem Elektronikmarkt. Sie hatten sich erst vor wenigen Wochen kennengerlernt, als er den neuen Amstral Sat4 gekauft hatte, aber Paul war sich ziemlich sicher, daß aus ihr irgendwann einmal eine Miss Cole werden könnte.
Es war eine Mischung aus euphorischer Vorfreude und beißenden Schuldgefühlen, die Pauls Schritte in den Blumenladen führte. Wenn schon Verspätung, so dachte er während er sich vom Verkäufer das Wechselgeld geben ließ, dann doch wenigstens mit einer angemessenen Entschuldigung. Als er, beladen mit einem kleinen Strauß gelber Glockenblumen - Cindys Lieblingsblumen - das Geschäft wieder verließ, wurde er von einem Passanten über den Haufen gerannt.
"Oh... ich bitte vielmals um Entschuldigung", sagte der, steckte sein Handy in die Tasche und half Paul wieder auf die Beine.
"Naja, ist ja nicht viel passiert."
"Aber Ihre Blumen..."
"Ja, die sind wohl hin."
"Ich bin wirklich untröstlich. Kann ich den Schaden irgendwie wieder gut machen? Ach, ich weiß, ich lade Sie auf einen Kaffee ein."
"Eigentlich bin ich mit meiner Freundin verabredet."
"Ach, das eklärt die Blumen." Der Fremde lächelte wissend. "Ich könnte Sie beide einladen."
"Ich glaube, Cindy und ich wären lieber..."
"Ja, ich verstehe schon. Trotzdem möchte ich Sie irgendwie entschädigen."
"Hören Sie, ich komme zu spät zu meiner Verabredung und habe es wirklich sehr eilig."
"Wissen Sie was? Ich begleite Sie einfach und unterwegs überlegen wir, wie ich mich entschuldigen kann."
"Sie haben sich doch schon..."
"Also, wo müssen Sie lang?" Paul deutete resigniert in die Richtung des Restaurants. "Na, so ein Zufall. Das ist auch meine Richtung. Kommen Sie, lassen Sie uns gehen."
Trotz aller Versuche gelang es Paul nicht, den Fremden abzuwimmeln, der eine erstaunliche Penetranz an den Tag legte. Er wich nicht eine Sekunde von seiner Seite, auch dann nicht, als sie das Restaurant erreicht hatten. Cindy war noch nicht da und darum setzten die beiden Männer sich an einen freien Tisch.
"Scheinbar hat ihre Freundin viel zu tun heute."
"Ja, das ist das Problem, wenn man sich nur in der Mittagspause treffen kann. Dann ist man froh, um jede Minute, die man ungestört ist."
"Ich habe schon verstanden. Sobald Ihre Freundin da ist, werde ich Sie natürlich in Ruhe lassen." Erneut folgte ein äußerst freundliches Lächeln. "Sagen Sie, ich möchte nicht indiskret erscheinen, aber irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Sind Sie nicht dieser Computermann?"
"Ich arbeite bei einer Softwarefirma, ja. Cole, Paul Cole." Er reichte dem Fremden die Hand und deutete eine Verbeugung an, gerade höflich genug, um seine guten Manieren an den Tag zu legen.
"Sehen Sie, mir war von Anfang an so. Ich habe Ihr Gesicht in der Zeitung gesehen. Sie haben doch dieses neue Programm entwickelt... dieses... ach, wie hieß es noch..."
"Nein, wir haben es nicht in dem Sinne entwickelt. Unsere Aufgabe besteht mehr in der Wartung des Systems. Manchmal schreiben wir ein paar kleine Programme zur Fehlerbehebung, aber das wars dann auch schon."
"Sie wirken bedrückt. Stimmt etwas nicht?"
"Derzeit haben wir ein kleines Problem mit einem... naja, nicht so wichtig."
"Verstehe schon. Firmengeheimnis. Immerhin könnte ich ja ein Konkurrent sein oder so." Der Fremde lachte. "Keine Angst, ich habe mit Computern in etwa so viel zu tun, wie sagen wir mal ein Arzt mit einer Pizza."
Die Tür des Restaurants öffnete sich und eine blonde, durchaus attraktive Frau betrat ein wenig überhastet den Raum. Sie sah sich einen Moment lang suchend um, und als sie Paul an seinem Tisch entdeckte, lächelte sie und deutete entschuldigend auf ihre Armbanduhr.
"Stehen geblieben", sagte Cindy und gab Paul einen Kuß. "Und meine Kollegen haben es natürlich nicht nötig, mir Bescheid zu sagen. Tut mir leid, Schatz. Hast du lange warten müssen?"
"Nein, ich... ich bin auch eben erst... Oh mein Gott..."
"Was hast du hast du hast du hast du"
"Du nicht auch... nein, bitte nicht..." Fassungslos sah Paul, wie Cindy zu flackern begann. Ihre ganze Erscheinung wurde unscharf, zitterte innerlich und weißes Rauschen überzog ihre Haut. Ihr rechter Arm zuckte stakkatoartig vor und zurück - die begonnene Bewegung gefangen in einer Endlosschleife. Auch die Worte aus ihrem Mund wiederholten sich immer wieder. hast du hast du hast du hast du
"Ihrer Freundin scheint es schlecht zu gehen", sagte der Fremde. Er lächelte jetzt nicht mehr, sondern sein Gesicht vermittelte eine angespannte Erregung. "Ist ihre Routine unterbrochen?"
"Das... das ist der Virus. Er legt nach und nach das ganze System lahm."
"Hat er sie erwischt?"
"Ja."
"Kommen Sie", sagte der Fremde und tippte Paul an die Schulter. "Sie hat Sie geküßt. Vielleicht ist der Virus auch auf Sie übergesprungen."
"Ich... ich... in meinem Büro habe ich ein Programm gegen..."
"Dann sollten wir keine Zeit verlieren. Kommen Sie! Bevor es auch für Sie zu spät ist."
Die beiden Männer ließen die immer noch flackernde Cindy stehen und verließen das Restaurant. Der Fremde stützte Paul, der seine Umgebung kaum wahr nahm. Natürlich war er mit den Auswirkungen dieses neuen Virus vertraut - immerhin war er für die Sicherheit im System verantwortlich und hatte seit gestern mehrere dieser Fälle mitansehen müssen - aber so nah war es ihm noch nie gekommen.
Als sie an dem Blumenladen vorbeikamen, wurde der gerade von einem Mann verlassen, der mit erstarrtem Gesichtsausdruck auf die Straße rannte. Beinahe so, als hätte er einen Geist gesehen. Ein Auto konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr den Mann an. Doch mitten im Sturz hielt der plötzlich in seiner Bewegung inne und durchfuhr sie Rückwärts, bis er wieder aufrecht stand. Dann wiederholte sich das Schauspiel in einer Endlosschleife. Immer wieder fiel der Mann auf die Straße und richtete sich wieder auf, während die Autos durch ihn hindurchfuhren.
"Der Virus verbreitet sich ziemlich schnell", stellte der Fremde fest.
"Ja, uns ist das Problem bekannt und wir lassen gerade unseren Virenscan im System durchlaufen. Ich habe das Programm heute morgen selbst modifizert und an den Virus angepaßt." Paul öffnete die Tür zu seinem Büro, nahm hektisch eine Diskette vom Schreibtisch und steckte sie in seinen Computer.
"Ja und Sie haben ganze Arbeit geleistet."Als Paul sich zu dem Mann umdrehte, drückte der ihm den Lauf einer Pistole auf die Stirn. "Ich habe den Wirt des Virus lokalisiert", sagte der Fremde und drückte ab. Die Kugel schoß glatt durch Pauls Schädel hindurch und die Wucht des Aufpralls schleuderte seinen Körper nach hinten. Noch in der Bewegung begann er sich aufzulösen und was dann schließlich auf dem Boden aufprallte, war nicht mehr als ein paar elektrische Impulse. Die Kugel prallte in die gegenüberliegende Wand und hinterließ in der virtuellen Matrix eine kleine Delle.
Kein Schaden, der sich nicht später beheben ließe, dachte der Fremde und steckte zufrieden seine Waffe ein. Der Virus war beseitigt. Woher Cole die Infektion hatte, war irrelevant. Der Mann setzte sich an den Computer auf dem Schreibtisch und richtete dem Systemkern die erfolgreiche Abwicklung der Mission aus. Nur noch eine Sache blieb zu tun.
Reboot?