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Vom Einzelgänger

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14.02.2004
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Vom Einzelgänger

Eins


An einem Freitagabend im frühen Herbst 2004 sitzt er in seinem Stammcafé und trinkt Espresso. Neben der Tasse und ihrem Untersatz liegt ein aufgeschlagenes, dünnes Büchlein. Er kommt oft hierher um sich Ruhe zu gönnen und ein bisschen zu lesen oder der Sonne beim Untergehen zuzusehen. Das moderne Café befindet sich im Stadtzentrum und liegt über einer Boutique. Wenn er aus dem Fenster sieht, kann er die bummelnden Leute beobachten. Das lenkt ihn ab.
Als er seine täglichen fünfzig Seiten gelesen hat, packt er das Buch zurück in seinen Rucksack und holt eine Zeitung heraus. Sie heißt 20min und erscheint jeden Tag und ist gratis, weil sie derart viel Werbung macht, dass es nicht mehr nötig ist, die Zeitschrift selbst als Einnahmequelle zu benutzen. Er überfliegt das Wesentliche, da er es bereits gelesen hat und gibt sich deshalb seinem Horoskop hin:

Zwillinge 22.5. – 21.6.

Ein Kollege möchte gerne Ihren Posten übernehmen. Seien Sie auf der Hut. Und nutzen Sie den Abend, um jemanden, der sowieso ständig von Ihnen träumt, näher kennen zu lernen. Es wird klasse.

Eigentlich glaubt er nicht an Horoskope. Er liest sie nur, weil er Gefallen an der Ironie des Schicksals findet; sein Arbeitskollege würde niemals seinen Posten haben wollen, denn sein Posten ist der eines Auszubildenden. Und: Er kann gar niemanden näher kennenlernen, weil er all seine Bekannten sehr gut und schon seit langer Zeit kennt. Kurz gesagt: Die Prophezeiungen tut er sich nur an, um sich selbst die Augen zu öffnen, um sich daran zu erinnern, dass sein Leben niederschlagend und langweilig ist; es steht nichts Neues am Start. Die Aussichten auf das Morgen oder das Wochenende beflügeln ihn nicht gerade. Nicht, dass er keine Freunde hätte – denn die hat er – aber mit ihnen kann er nicht das erleben, wonach er sich sehnt. Wahrscheinlich liegt das daran, dass sie anders als er sind. Zwar könnte er nicht sagen, worin sie sich von ihm unterscheiden, doch weiß er, dass da eine gewaltige Ungleichheit zwischen ihnen waltet. Wenn er es sich genau überlegt, dann möchte er einfach mit Leuten zusammen sein, die darüber reden, was er dauernd unausgesprochen mit sich herumträgt: Innere Leere.
Er weiß ganz genau, woher sie kommt. Wie kann man sich denn erfüllt fühlen, wenn die Träume, die man hat, nie Realität zu werden scheinen? Wie kann man glücklich sein, wenn man ständig das Gefühl hat, der Einzige zu sein, dessen Gedanken kein Gehör erlangen? Er ist sich ziemlich sicher, dass es sich mit diesen Dingen so verhält, weil er nie jemanden gesehen hat, dem es wie ihm geht. Die anderen, die achtzehn sind, haben ein sich ständig bewegendes Leben. Sie gehen auf Partys und lernen Tag für Tag neue Leute kennen. Die ganze Woche hindurch werden sie von ihren Kumpels angerufen und gefragt, ob sie denn Lust hätten, am Wochenende dies oder das mit ihnen zu unternehmen. Und wenn ihnen danach ist, gehen sie einfach los und machen hemmungslos Bekanntschaften mit Frauen, die sie entweder gleich flachlegen oder sich für bedürftigere Zeiten aufsparen. Er hingegen musste sich bisher mit lächerlichen zwei Ex-Freundinnen behaupten, von denen er nur eine ins Bett gebracht hat.
Das Horoskop hat seinen Zweck erfüllt; er legt die Zeitung vor sich auf den Tisch und nimmt einen Schluck seines Espressos. Ein Mädchen, das einen Platz sucht, erblickt die Zeitschrift und kommt zu ihm herüber. »Darf ich?«, Er nickt und macht mit seiner Hand eine gleichgültige Bewegung. Als sie sich gegenüber ihm hinsetzt, bemerkt er ihren raschen, glühenden Blick, doch es passiert nichts. Nachdem sie ihre Bestellung gemacht hat, schlägt sie die Zeitung auf und liest darin eine Weile, bis sie ihn anspricht. Da sie das Thema bereits ausgesucht hat – ein neuer Kinofilm, wohl, weil 20min davon berichtet – kommen sie relativ schnell ins Gespräch. Außerdem interessiert er sich ohnehin stark für Filme und kann deshalb auch gut mitreden. Dass auch sie den besagten Film bescheuert findet, verstärkt bei ihm den Eindruck, sie sei eine nette Persönlichkeit. Draußen wird es bereits dunkel und da ihnen allmählich der Gesprächsstoff ausgeht, fragt er sie, ob sie nicht einmal zu ihm nach Hause kommen wolle, er besäße einen Haufen DVDs. Grundsätzlich hat er seine Frage nicht auf heute bezogen, aber sie fasst es allem Anschein nach so auf und weil er sie sowieso mag, spielt er einfach mit.
Zuhause zeigt er ihr stolz seine Sammlung und sieht sich anschließend »Tank Girl« mit ihr an. Es ist eigentlich nicht seine Art, aber das ist ihm ausnahmsweise egal und so bietet er ihr roten Wodka an, was sie sofort und mit einem heiteren »Ja!« gutheißt. Er selbst verträgt davon ziemlich viel. Des Spaßes wegen aber, trinkt er derart viel davon, dass sie nach dem Film beide betrunken sind und miteinander schlafen.

Am nächsten Morgen fragt er sich, welche Folgen die vergangene Nacht für ihn haben würde. Er fragt sich, ob damit die Ära der Trostlosigkeit ein Ende gefunden hat und, ob er nun jederzeit eine Frau kennenlernen und flachlegen kann. »Ist das die Wende meines Elends?«
Das Mädchen – der Name ist ihm entfallen, falls sie ihn überhaupt erwähnt hat – hat sich schon früh von ihm verabschiedet. Sie hat nichts dagelassen, weder eine Notiz, wann und wo sie sich das nächste Mal treffen, noch eine Telefonnummer. Was hat er falsch gemacht? Ist er nicht gut gewesen? Das glaubt er zwar nicht, aber eine klare Antwort darauf bekommt er nie, soviel ist sicher.
Rückblickend darauf, hat er keine Ahnung, was er von diesem Vorfall denken soll, nur, dass er seinen ersten One-Night-Stand hinter sich gebracht hat. Trotzdem kann er keineswegs nachempfinden, was alle anderen daran so besonders finden. Im Gegenteil, er findet es eher tragisch, weil er dieses Mädchen mochte und gerne mehr Zeit mit ihr verbracht hätte.


Zwei


Das Wochenende ist vorüber. Er sitzt im Bus und hat seine Kopfhörer auf, die viel zu laut rebellische Punklieder wiedergeben. Früher hat ihn diese Musikrichtung glücklich gemacht, weil sie sich nach Spaß und Unabhängigkeit angehört hat. Heute kann er daraus nur noch entnehmen, wie viel es an der Welt doch zu bemängeln gibt. Zwar spricht er es nie aus, ist sich dessen vielleicht noch nicht einmal wirklich bewusst, doch in seinem Innersten sagt eine wütende und frustrierte Stimme: »Die Welt ist scheisse.« Deshalb ist es ihm auch egal, ob die anderen Leute im Bus seine Musik vernehmen und sie als störend empfinden - weil sie die Welt zu einem schlechten, freudlosen Platz machen. Eine gewisse Atmosphäre macht seinen Unmut sogar ziemlich deutlich; alle sagen guten Morgen und unterhalten sich miteinander, nur er nicht. Und dabei sitzt er nun schon seit über zwei Jahren jeden Tag mit denselben Menschen in diesem Bus.
Etwa elf Kilometer von seinem Wohnort entfernt, in irgendeinem Kaff bei einer Poststelle hält der Bus an und er steigt mit gesenktem, müdem Blick aus. Ihm friert. Vor ein paar Wochen wäre es um diese Zeit noch hell und warm gewesen. Jetzt weht ihm der kühle Wind ins Gesicht und macht ihm noch die letzten fünf Minuten zu seiner Arbeitstelle schwer. Als er an der großen Tafel mit der Aufschrift »Architekturbüro R.« vorbei geht, bellen ihn die zwei Hunde seines Arbeitgebers an. Die Bemühungen sie zum Schweigen zu bringen, hat er längstens aufgegeben, also geht er unberührt ins Haus hinein, wo er seine Jacke in die Garderobe hängt und dann ins Büro tritt. Er ist wie jeden Morgen eine Viertelstunde zu früh und verbringt die kurze Einsamkeit damit, seine Tuschstifte, die über das Wochenende eingetrocknet sind, wieder zum Laufen zu bringen. Danach legt er seinem Arbeitskollegen eine 20min in die Schublade und wartet stillschweigend bis dieser und Herr R. eintreffen.

Sein Job nennt sich Hochbauzeichner und befasst sich im Allgemeinen damit, Pläne zu zeichnen, welche die Arbeiter auf den Baustellen praktisch ausführen. Neuneinhalb Stunden lang ist er damit beschäftigt Linien zu ziehen, Masse mit Hilfe von Schablonen einzutragen und mit einer Rasierklinge die Fehler auf dem Transparentpapier wegzukratzen. Er hat nichts gegen diese Arbeit, so eintönig der Aufenthalt im Büro ihm manchmal auch vorkommen mag, nein, in Wirklichkeit ist er sogar ziemlich zufrieden damit.
Damals, vor zwei Jahren, als Herr R. ihm diese Lehrstelle anbot, konnte er es kaum glauben. Nicht, weil all seine Freunde bereits ihre Lehren begonnen hatten, sondern weil damit sein kaum noch erträgliches Leiden endlich ein Ende gefunden hatte. Niemand hat es leicht, wenn man der einzige in der Klasse ist, der noch keine Stelle gefunden hat, wenn einem dauernd gesagt wird, wie und was man tun soll, um bei den Arbeitgebern guten Eindruck zu schinden. Besonders geplagt hat ihn die Angst davor, schlussendlich als arbeitsloser Versager dazustehen, der kein eigenes Geld verdient und dazu verdammt ist, sein Leben lang auf Andere angewiesen zu sein. Das wollte er einfach nicht. Er wollte nicht, dass man ihm half. Er wollte nicht, dass die Vermutungen seiner Mitschüler sich erfüllten, die besagten, ein antigesellschaftlicher Trottel wie er würde niemals zum Erfolg kommen. Dies durfte einfach nicht passieren, denn dann hätte er versagt – für immer. Dass er diese Stelle nur mit sehr viel Glück bekam, das weiß und akzeptiert er. Er ist ehrlich genug, sich das selbst einzugestehen.

Während der Arbeit träumt er meistens. Das Zeichnen ist in den vergangenen zwei Jahren zu einer Routine geworden, die es im erlaubt, mit den Gedanken an den verschiedensten Orten zu sein. Aber eigentlich denkt er seit gut vier Monaten nur noch an sie, an seine Ex-Freundin, die er verlassen hat, trotz der Liebe, die er noch für sie empfand.
»Wieso habe ich sie überhaupt verlassen?«, fragt er sich. Natürlich weiß er es, wünscht sich jedoch, es gäbe einen anderen, authentischeren Grund dafür, als der, dass sie einfach nicht zusammenpassten, dass er sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Chemie, keine Zukunft mit ihr vorstellen konnte. Außerdem nagt die Gewissheit an ihm, dass sie gut mit ihrer Trennung klar kommt, dass sie bereits wieder unter den Glücklichen und Munteren weiht. Bedeuten ihr die ganzen Erlebnisse, an welchen sie mit ihm teilhaben durfte nichts? Sind eineinhalb Jahre nicht genug, für eine ernstzunehmende Beziehung? Er jedenfalls, vermisst sie und trauert um das verlorene Glück. Immer wieder kommt in ihm die Frage auf, wie sie bloß so kühl bleiben und mit ihren Kolleginnen völlig unbekümmert abends umherziehen kann, von Lokal zu Lokal. Einmal hat er sie mit irgendeinem Kerl draußen vor einem Restaurante sitzen gesehen. Sie sah aus, als hätte es ihn für sie nie gegeben, als wäre dieser Zauber zwischen ihnen niemals da gewesen. Seither ist er verletzt und auch ein bisschen mit Hass erfüllt, aber er bemüht sich wirklich, das alles zu vergessen. In dieser Sache würden ihn seine Gefühle ja nichts mehr nützen.

Wenn sein Arbeitgeber gerade nicht anwesend ist, unterhält er sich mit seinem Arbeitskollegen. Sie schlagen die Beine übereinander und lassen von der Arbeit ab. Sein Mitarbeiter, K., ist dreiundzwanzig und wird demnächst heiraten. Deshalb handeln ihre Gespräche zurzeit vorwiegend von Frauen, von Familie und von Treue. K. scheint gerne mit ihm zu reden. Wahrscheinlich, weil seine Weltanschauung und seine ethischen Grundsätze den seinigen sehr ähneln, und, weil er für sein Alter schon sehr erwachsen denkt, wie K. immer meint. Manchmal reden sie stundenlang und können gar nicht mehr aufhören. Nur die Mittagspause oder der Feierabend ist ihnen dann noch heilig.
Er geniest K.s Anwesenheit und ist dankbar dafür. Ohne ihn würde er gedanklich nur noch bei seiner Ex-Freundin sein und auf die Dauer würde ihn das bestimmt zerstören.

Um 18:00 kommt er mit dem Bus am Bahnhof an. Als er aussteigt knistert das eingetrocknete, naturfarbene Laub unter seinen Schritten. Das Wetter hat sich kaum verändert; der Wind weht noch genauso kalt daher, nur ist es nicht mehr dunkel, so wie heute Morgen. Zielstrebig eilt er nach Hause, geht an den plaudernden und beschäftigten Jugendlichen vorbei, die zwar genau wie er Feierabend haben, jedoch um nichts in der Welt schon zurück in ihre Bleibe wollen.
Sein Heimweg führt eine lange, öde Strasse hinter einem Industriegebiet entlang, wo er gelegentlich auf einen stummen, mürrischen Passanten trifft, der ihn weder anschaut, noch grüsst. Eigentlich ist ihm das egal, denn er würde seinen Gruß ohnehin nicht erwidern. Dazu fühlt er sich diesen Menschen gegenüber einfach zu fremd.

Zuhause ist das Erste, das er tut, den Computer einzuschalten. Danach wirft er seinen Rucksack in irgendeine Ecke seines Zimmers und geht in die Küche, um dort aus einer 1½-Liter-Flasche zu trinken. Sein Vater liegt wie immer auf der Couch im Wohnzimmer und sieht auf einem türkischen Kanal fern. Die schroffe und unschöne Sprache des Nachrichtenmoderators dröhnt zu ihm herüber und er kann es kaum glauben, diesem Volk anzugehören. Weder versteht er Türkisch, noch hat er jemals wie ein Muslim gelebt. Nicht einmal sein Aussehen verrät etwas von seiner wahren Herkunft; sein kindliches Gesicht, seine schwarzen, zerzausten Haare, seine lockere Kleidung. Wer ist er eigentlich? Hat sein Inneres überhaupt eine Identität? Nach langem Nachdenken, hatte er sich einst dazu entschlossen, jener zu sein, der er sein wollte: ein heimatloser, volksneutraler Junge.
Zurück in seinem Zimmer, setzt er sich vor den Computer und startet Word, um eine Kurzgeschichte zu schreiben, die er nach Fertigstellung im Internet in einem Schreiberforum veröffentlichen wird. Bisher hat er keinen besonders großen Erfolg damit gehabt. Einige andere Mitglieder scheinen ihn sogar zu verachten. Vermutlich weil er ihre Ratschläge alle in den Wind schießt und die Fehler in seinen Texten unkorrigiert lässt. Er hat einfach keine Lust dazu, auf sie zu hören, so gut sie es auch meinen.
Das Schreiben praktiziert er nun seit ungefähr drei Jahren. Er glaubt ein Talent dafür zu besitzen, schafft es jedoch nicht, es ganz und gar aus sich herauszuholen. Freilich gibt es Leute, die behaupten, er wäre gut darin, doch zählen ihre Beurteilungen nicht, da sie auf diesem Gebiet zu wenig involviert sind.
Seine Geschichten handeln meistens von ihm selbst. Er beschreibt einen Charakter nach seinen eigenen Eigenschaften und lässt ihn handeln, wie er selbst in jener spezifischen Situation handeln würde. Was dabei herauskommt ist grob betrachtet immer dasselbe: Kritik an der Gesellschaft und ihrer Welt.


Drei


Es ist Mittwoch und das Wetter gibt noch die letzte, mickrige Energie des Sommers her. Ein mildes Lüftchen geht und treibt ihm die abgestorbenen Blätter entgegen, als er zum Bahnhof läuft. Im noch jungen Morgendämmern blitzen schwach die Sterne am Himmel. Aus seinen Kopfhörern dringt die friedliche, leicht melancholische Musik von Nikola Sarcevic.
Am Bahnhof angekommen, setzt er sich auf eine grüne, morsche Bank beim Gleis 1 und wartet bis der Zug eintrifft. Zehn Minuten später drängt er sich mit ungefähr dreißig anderen Leuten durch den Einstieg in einen Nicht-Raucher-Wagon, wo er sich sehr wählerisch einen einigermaßen ruhigen Platz aussucht und sein Büchlein aus dem Rucksack nimmt, um darin zu lesen. Es handelt sich dabei um Hermann Hesse’s »Klingsors letzter Sommer«, das er bereits einmal gelesen hat. Ihn fasziniert des Autors geniale Wortwahl, mit der er es zustande bringt, den wahren, prächtigen Sommer im Leser aufleben zu lassen. Doch rührt ihn auch Klingsor selbst, dieser alter, armer Herr mit seinem tiefgründigen und talentierten Wesen. Hesse ist eindeutig sein Lieblingsautor, nicht nur weil er seinen tristen Schreibstil mag, sondern auch, weil ihm gewisse, stark ergreifende Szenen lange in Erinnerung bleiben.
»Nächster Halt: St. Gallen – Endstation.«, teilt eine weibliche Stimme den Fahrgästen mit und der Zug kommt langsam zum Stehen. Er packt sein Büchlein wieder ein und stellt sich in die Schlange, die nur ruckartig vorankommt, weil immer bloß Einer auf einmal aussteigen kann. In der Unterführung mischt er sich unter die noch halb schlafenden Menschen und lässt sich vom Strom bis zum Bahnhofsvorplatz treiben, wo ihm der Duft von warmem Gebäck in die Nase steigt. Er würde sich gerne die Zeit nehmen und nachsehen, woher er kommt, doch er muss zur Berufschule.
Das Schulhaus ist ein altes, hässliches Gebäude, dessen Fassaden aus kargem Sandstein und großen Fenstern besteht. Seine Inneneinrichtung wurde vor einiger Zeit renoviert, ist dabei aber nicht sehr viel ansehnlicher geworden. Sein Schulkamerad M. hat einmal angemerkt, für wie Fragwürdig er es halte, dass Hochbauzeichner in einem Haus unterrichtet werden, dessen Wände schief in die Räume hängen. Der Lehrer erwiderte, das sei gut so, man müsse auch ältere Gebäude nutzen und nicht immer gleich abreißen lassen. Er selbst konnte beide Meinungen gut nachvollziehen, tendierte aber eher zu der M.s.
M. sitzt schon am Pult und zeichnet irgendwas auf ein Blockpapier, so wie immer. Sie grüssen einander und das Erste, was M. wissen will, ist: »Na? Wie geht es dir?« Im Grossen und Ganzen geht es ihm so, wie es ihm seit Jahren geht: er fühlt sich ausgestoßen und missverstanden, ist gelangweilt und seines Lebens müde. Doch der Abwechslung halber formuliert er seinen Zustand stets ein wenig anders. Einmal ist er ganz okay, beim nächsten Mal völlig empfindungslos, ein andermal etwas betrübt usw. Jedenfalls, damit beginnt jeden Mittwochmorgen ihre allererste Diskussion und obwohl er eigentlich gar nicht über seine Probleme sprechen möchte, kann er M.s Fragen nicht mit Verschlossenheit trotzen. Wieso, weiß er nicht.
Während dem Unterricht hören sie dem Lehrer kaum zu. Sie möchten die LAP (letzte Abschlussprüfung) schon bestehen, können sich aber einfach nicht unterstehen, einander sofort von den Ereignissen der vergangenen Woche zu berichten. Oftmals passiert es dann, dass ihre Gespräche in totalem Unsinn ausarten, was zur Folge hat, dass sie manchmal mitten in den Erläuterungen ihres Dozenten laut auflachen. Wenn man ihnen Aufgabenblätter reicht, die sie während der Stunde lösen sollen, dann werden diese meistens links liegengelassen und erlangen höchstens dann ihre Aufmerksamkeit, wenn der Lehrer mit scharfem, kontrollierendem Blick an ihnen vorbeigeht.
Seine restlichen Kommilitonen sind die typischen, schweizerischen Jugendlichen. Spaß geht bei ihnen über alles und dennoch bleiben ihre schulischen Leistungen vertretbar. Wie machen sie das nur? Wahrscheinlich arbeiten und büffeln sie den Tag durch und streifen abends zusammen mit ihren Kameraden durch die Kneipen, um sich zu betrinken – zumindest stellt er sich das so vor. Er wünscht sich, er könnte es ihnen gleich tun, aber dazu fehlen ihm die geeigneten Freunde. Wer will sich schon alleine amüsieren?
In der Mittagspause besuchen M. und er meistens die Bücherei im Stadtzentrum von St. Gallen. Dort gehen sie zwischen den Bücherregalen umher und ziehen gelegentlich ein Buch heraus, dessen Titel sie gerade anspricht. Aber meistens ist es nicht das, was sie lesen wollen.
Seit M. ihm davon erzählt hat, dass er sich für Philosophie interessiert, hat er sich überlegt, ob ihn vielleicht dergleichen nicht auch angeht, wo er doch sowieso in seiner ständigen Einsamkeit über alles Mögliche nachdenkt und nach Antworten hinter dem Offensichtlichem sucht. Er entschließt sich dafür, eines dieser winzigen, gelben Büchlein vom Verlag Reclam zu kaufen. Da er schon oft von Nietzsche gehört hat, begnügt er sich mit dessen »Zur Genealogie der Moral«.
Nach etwa einer halben Stunde verlassen sie das Geschäft wieder und laufen etwas zögernd weiter – wohin wollen sie denn noch gehen? Sie wissen beide ganz genau, dass sie in den letzten zwei Jahren alles in dieser Stadt gesehen haben, was sie auch nur annährend begeistert, also machen sie sich auf, wieder in die Schule zu gehen. Falls sie noch nichts gegessen haben – und das ist die Regel – kauft M. ihnen noch etwas zu essen. Es gefällt ihm nicht, dass sein Kumpel ihm ständig alles zahlt, aber ob er will oder nicht, wie M. immer sagt, kaufen würde er ihm ohnehin etwas; es bleibt ihm also keine Wahl.
Das nächste Fach wird Allgemeinbildung sein. Da die Berufsschule nicht genügend Zimmer für alle Klassen entbehren kann, hat man sich aus unerfindlichen Gründen dazu entschlossen, dieses Fach in einem anderen Schulhaus zu unterrichten. Es ist eine BMS (Berufsmittelschule), ein genauso scheußliches Gebäude wie das Eigentliche, mit dem Unterschied, dass es hier sehr viel mehr Ausländer und spießige Frauen gibt. Wenigstens mag er den Lehrer; ein zwar strenger, doch sehr korrekter Mensch.
Jede zweite Woche müssen sie nach der Allgemeinbildung noch zum Sportunterricht. Er mag Sport nicht und versucht sich deshalb so gut es geht, sich vor allzu großer, körperlicher Betätigung zu drücken; bei Mannschaftsspielen wie Fußball oder Uni-Hockey gibt er sich freiwillig als Torwart her und macht dabei seine Sache noch nicht einmal so schlecht.
Wenn die Schule aus ist, lädt M. ihn manchmal noch ins Kino ein. Er willigt dann meist nur mit einem unsicheren »Ja« ein, weil er sich irgendwie mies vorkommt. Warum gibt M. immerzu sein Geld für ihn aus? Hat er derart viel davon, dass es ihm egal sein kann? Die Antworten auf diese Fragen würde er niemals erfahren, selbst wenn er M. darauf ansprechen würde; seine Finanzen seien seine Sache.
Das Kino zeigt hauptsächlich englischsprachige Filme mit deutschen Untertiteln. Sie lieben das. Man interpretiert die Atmosphäre in einer Szene oder die Emotionen einer Rolle bei den Originalfassungen ganz anders, als bei einer synchronisierten – man interpretiert sie richtig.
Heute sehen sie sich »Young Adam« an. Der Saal ist so gut wie leer. Abgesehen von ihnen sind da nur noch eine Frau und ihre Tochter hinter ihnen und ein paar Typen in den mittleren Reihen. Sie haben keine Ahnung, worum es in diesem Film geht. Ewan McGregor halten sie zwar für einen guten Schauspieler, doch ist das ja nicht gleich eine Garantie für ein gelungenes und spannendes Werk.
Als sie aus dem Kino kommen, hat es angefangen zu regnen. Er nimmt seinen schwarzen Regenschirm aus seinem Rucksack und öffnet ihn. »Und, hat er dir gefallen?«, will M. wissen, währenddem sie durch die nasse Strasse zum Bahnhof schlendern. Doch er weiß nicht, was er von diesem Film halten soll. Düster, gewagt und am Ende ziemlich unmoralisch – seiner Meinung nach, alles äußerst positive Eigenschaften. Trotzdem will er noch kein Statement dazu abgeben; er muss den Film zuerst einmal verarbeiten.

Ungefähr eine Stunde später steht er zuhause vor der Eingangstür und freut sich auf die vermisste Ruhe. Aber als er die Klinke nach unten drückt und hineingeht, gellt ihm sofort das Geschrei seines Vaters ins Ohr. Anscheinend streitet er sich wieder mit seiner Freundin. Das ist nichts Neues für ihn. Das stört ihn nicht. So geht das seit er lebt. Egal ob sein Vater mit seiner Mutter zusammen ist oder mit einer anderen Frau, gestritten hat er sich immer. Jeden Tag. Er ist sich also daran gewöhnt und beschwert sich nicht. Sind ja nicht seine Angelegenheiten. Und seine Ruhe? Darauf muss er heute Abend wohl verzichten und weil es nicht das erste Mal ist, zuckt er einfach mit den Schultern; Hauptsache er wird nicht miteinbezogen.
Sonderbarerweise kann er nicht mit dem Computer arbeiten, wenn ihn Lärm (Geschrei) umgibt, lesen jedoch schon. Vielleicht weil er sich beim Lesen in eine Sache vertiefen kann und das um ihn herum somit in den Hintergrund seiner Wahrnehmung tritt. Also liest er. Da er »Kingsors letzter Sommer« auf seinem Heimweg im Zug zu Ende gebracht hat, nimmt er sein neustes Büchlein hervor und setzt sich an seinen unaufgeräumten Schreibtisch, schaltet die Tischlampe ein und beginnt damit, es zu lesen. Bald begreift er, dass es zum Verständnis solcher Schriften einiges Können abverlangt; er kapiert es nicht. Es ist einfach zu komplex und anspruchsvoll geschrieben. Dennoch gibt er nicht auf und liest noch an demselben Abend die ersten fünfzig Seiten, so wie er es sich zum Brauch gemacht hat. Alles was er zu verstehen glaubt, markiert er mit einem gelben Leuchtstift, um es später nochmals zu studieren.
Als er dann also nochmals durchblättert, was er gelesen hat, wird ihm klar, dass er nicht einmal die Hälfte davon als einleuchtend empfand. Aber was soll er da machen? Eigentlich hat es ihm bisher gut gefallen und solange er wenigstens ein paar Dinge erfasst, dann ist das doch immerhin etwas!
»Jeder ist sich selbst der Fernste«, wiederholt er eine vermerkte Textstelle in seinem Kopf und fragt sich dabei, ob Nietzsche wohl genauso deprimiert war, wie er es zuweilen ist. Aber inmitten seines Nachdenkens wird er von einem seltsamen Gefühl unterbrochen: Stille herrscht. Der Streit ist vorüber, vielleicht schon seit Stunden. Es ist derart ruhig, dass er sich alleine fühlt. Aber er weiß, er ist nicht alleine. Sein Vater und dessen Freundin sind noch da. Nur: Was tun sie gerade, jetzt nach ihrem Zwist? Irgendwie kann er es sich vorstellen. Wahrscheinlich sitzen sie im Wohnzimmer auf der Couch und starren auf den Fernsehermonitor, ohne wirklich dessen Wiedergabe mitzubekommen. Er schlägt das Büchlein zu, um sich zu ihnen zu gesellen und die Stimmung etwas aufzulockern, doch er nimmt so ganz plötzlich wahr wie unglaublich müde er ist. Wenn er jetzt zu ihnen gehen würde, wäre es dann ihr letzter Streit gewesen? Bestimmt nicht, also spielt es genau genommen auch keine Rolle.
Als er im Bett liegt, eingekuschelt in seiner warmen Decke und in die Dunkelheit spähend, fragt er sich, wie lange das Alles eigentlich noch so weitergeht. Die Tage sind ihm zu Alltagen geworden. Nichts verändert sich. Er ist stehen geblieben und will weiterlaufen. Mit dem einen Bein hat er bereits zum nächsten Schritt angesetzt, aber das andere scheint wie versteinert. Hat er Angst? Fürchtet er sich vor Veränderungen, obwohl es ihm danach dürstet? Klar ist: Er hat Sehnsucht nach dem Glück und will, dass es zu ihm zurückfindet. Oder muss er es finden? Und: Ist der Erfolg dieser Suche abhängig von Fortschritt, also »Wandel«?


Vier


Er sitzt im Zug. Der Herbst hat sich verabschiedet. Draußen vor dem Fenster schweben langsam weiße Flocken zu Boden. Das Tageslicht ist fahl und grell. Er hasst den Winter und seine Kälte. Alles sieht gleich aus. Alles ist nass. Wenn er könnte, würde er zuhause bleiben, bis der ganze Schnee geschmolzen und die Natur wieder frei von ihm ist. Aber das kann er nicht. Er muss zur Arbeit oder zur Berufsschule, so wie er es heute musste.
Langsam kommt der Zug ins Rollen. Verstimmt lässt er vom Fenster ab und lehnt sich zurück, um die Augen zu schließen. Irgendwie fühlt er sich müde, obwohl er sich heute gar nicht anstrengen musste. Ihm kommt der Gedanke, dass sich vielleicht seine innere Mattigkeit nun auch physikalisch zu äußern beginnt. Ist das realistisch? Oder fängt er jetzt an zu spinnen? Er glaubt nicht, dass er spinnt. Das Problem ist nur, er hat einfach viel zu viel überschüssige Zeit, und um diese totzuschlagen, stellt er Hinterfragungen an, wo es nur möglich ist.
Nach einer Weile schupst ihn die alte, dürre Dame gegenüber ihm vorsichtig an und bittet ihn darum, seine Musik doch ein wenig leiser zu machen. Er tut es mit Widerwillen und schaltet den Minidiscplayer nach einer gewissen Zeit ganz ab, weil die Geräusche seines Umfeldes sich ständig in die Songs von The Dandy Warhols mischen, was die Tonqualität enorm verringert. Er kann Musik nicht genießen, wenn deren Klang nicht klar und rein ist. Dummerweise hat er auch noch sein Buch zuhause vergessen. Also schaut er wieder schweigend aus dem Fenster, so sehr ihn der Anblick dieser öden Welt auch anwidert. Doch plötzlich wird er auf zwei viel zu laut schwatzende Mädchen auf der anderen Seite des Wagons aufmerksam. Die eine habe einen neuen Freund und sei richtig verliebt: »Es ist wirklich nicht zum Aushalten, weißt du? Gestern, beim Volleyballspielen, war ich Schiedsrichterin und konnte nicht einmal mehr die Punkte zählen; ich musste ständig an ihn denken!« Sie kichern und er schüttelt genervt den Kopf. Trotzdem kann er nicht aufhören, sie heimlich zu beobachten und ihnen zuzuhören. Er findet beide nicht besonders attraktiv, kann sich jedoch gut vorstellen, dass sie sich selbst für ausgesprochen gutaussehend halten; ihr gesamtes Outfit besteht aus teuren Markenklamotten, ihre Gesichter glänzen von der übertriebenen Menge an Schminke und an jedem ihrer Ohren hängt je ein riesiger, silbriger Ring. So was sehen die Leute doch tagtäglich im Fernsehen, auf Modeschauen, in Kleidungsgeschäften oder in Nachtbars. Wo ist da noch der Reiz? Wieso sehen die Männer solchen Frauen überhaupt noch nach? Ihn kotzt dieser Gesellschaftstyp an. Er hat ihn satt.

Als er aussteigt spürt er ein schwaches Verlangen danach, sich wieder einmal zu betrinken. In letzter Zeit hat er das sehr selten getan. Früher war das anders. Mit vierzehn verbrachte er beinahe jedes Wochenende mit seinen Klassenkameraden auf lächerlichen Jugendpartys und schüttete Unmengen von Alkohol in sich hinein. Damals liebte er sein Leben. Es war die glücklichste Phase seiner Jugend. Er war jung und voller Energie. Ja, heute ist er auch noch jung, aber so fühlt er sich nicht und die einstige Energie ist wie ausgestorben. Worte wie »ausgelaugt« oder »abgenutzt« kommen ihm in den Sinn, wenn er darüber nachdenkt. Er hat einfach zuviel verpasst, als dass er sich wie achtzehn vorkommen könnte.
Beim Heimgehen ringt er mit der Entscheidung, ob er noch kurz bei der Tankstelle vorbeigehen und dort eine Flasche Red Bull Wodka kaufen soll. Seinen Trübsinn auf diese Weise zu besiegen, ist ziemlich unklug und stümperhaft, dessen ist er sich völlig bewusst. Und Alkohol hatte für ihn doch seit eh und je mit Spaß zu tun, nicht mit der Flucht vor Problemen! Soll sich das jetzt für immer ändern? Ist es ihm das Wert? Er hält der Versuchung stand und geht direkt nach Hause.

Wieder dröhnt ihm Gebrüll entgegen als er durch die Eingangstür kommt. Sein Vater streitet sich wieder, jedoch nicht mit der Freundin, sondern mit seinem kleineren Bruder B., der am anderen Ende der Telefonleitung ist. Seit ungefähr einem Jahr ist auch das nichts Sonderliches mehr. Irgendwie kann er verstehen, dass sein Bruder seinen Vater verachtet. Er will ja nur seine Mutter beschützen. Daran ist doch auch nichts verkehrt, aber merkt er denn nicht, dass es nichts bringt, dass es gewissermaßen sogar dumm ist? Weder seinen Vater, noch seine Mutter würde er unterstützen. Beide sind Idioten. Beide reden aneinander vorbei. Seit achtzehn Jahren. Sind das Erwachsene? Nein, und das ist ihm schon vor einiger Zeit klar geworden. Der einzig Erwachsene in dieser Familie ist er selbst und das nicht, weil er das dazu gesetzliche Mindestalter erreicht hat, sondern weil er auf bestem Wege ist, nicht nach seinen Eltern zu geraten. Er lebt sein eigenes Leben, macht seine eigenen Prinzipien. B. sollte das auch tun. Aber das wird er nicht. Dafür ist er einfach nicht intuitiv genug. Im Grunde genommen haben sein Bruder und er nicht das Geringste gemeinsam. Trotzdem vertragen sie sich ausgezeichnet. Es macht ihn traurig, dass er ihn nur alle zwei Wochen sieht. In seinem Innersten wünscht er sich seinen Bruder an seiner Seite. Er möchte für ihn da sein und ihn eine bessere Lebensphilosophie lehren, als die seiner Mutter, bei der er lebt. Er vermisst ihn.
Das Telefonat ist zu Ende; B. will seinen Vater nicht wieder sehen. Nie wieder. Es überrascht ihn nicht. Das hat er schon vor langer Zeit kommen geahnt. Jetzt haben ihn seine Vorkenntnisse eingeholt und er nimmt es ganz gelassen; er begibt sich in sein Zimmer und setzt sich vor seinen Computer. Weil er gerade nichts Wichtigeres zu tun hat, besucht er das Schreiberforum im Internet und prüft nach, ob seine letzte Geschichte endlich ein Feedback erhalten hat. Fehlanzeige. Seit nun mehr als zwei Monaten vegetiert sie da vor sich hin und er fragt sich plötzlich, ob er das Schreiben wohl nicht besser aufgeben sollte. Auf seiner Festplatte warten etwa sechs verschiedene Geschichten auf ihre Vollendung und er findet einfach nicht die Lust und Inspiration dazu, sich ihrer anzunehmen. Ihm dämmert, er ist womöglich doch kein so guter Autor. Überhaupt nicht. Aber er hat nicht vor zu kapitulieren, bloß weil er eventuell doch kein Talent dazu besitzt. Schreiben ist doch eine künstlerische Beschäftigung! Ist man denn kein Künstler, nur weil man dessen Handwerk nicht perfekt beherrscht? Oder ist er vielleicht das Opfer von kenntnislosen und kurzsichtigen Kritikern, so wie viele andere große Persönlichkeiten es waren? Musste Van Gogh nicht auch Verspottung und Nichtachtung ertragen, ehe man seine Malerei zu schätzen begann? Er will natürlich keineswegs behaupten, Van Gogh ebenwürdig zu sein, sondern nur auf die Logik dieses Beispiels hinweisen. Andererseits fehlt es ihm an einem äußerst typischen Gepräge, mit welchem alle wahren Künstler geschlagen sind: die Gabe, Frauen für sich zu gewinnen. Lodert in ihm dieses Feuer nicht? Ist es gar das, was ihn vom Erfolg abhält? Das Liebesleben als Maßstab für künstlerische Befähigung?

Am daraufhin folgenden Samstagnachmittag schneit es nicht mehr. An den Straßenrändern hat sich schmutziger, wässriger Schnee angehäuft und ein eisigkalter Wind weht. Er befindet sich auf dem Beifahrersitz im Auto seines Vaters und blickt griesgrämig aus dem Fenster zu den vorbeirauschenden, kahlen Bäumen hoch. Auf dem Rücksitz des Vater’s Freundin (ihm wird schlecht, wenn er hinten sitzt) und dessen sechsjährige, verwöhnte Tochter. Sie sind zusammen auf dem Weg seine kleine Schwester abzuholen. Als er seiner Mutter eine SMS schickt und ihr mitteilt, in einer halben Stunde anzukommen, schreibt sie in mürrischer Art zurück, dass sie keine Lust hätte solange zu warten, sie würde jetzt einkaufen gehen. Also ruft er sie an und bittet nochmals höflichst darum, sie solle doch noch ein paar Minuten warten. Nein, sagt sie, aber wenn es denn unbedingt sein müsse, lasse sie halt seine kleine Schwester zuhause. Er willigt ein, behält jedoch im Geheimen, für wie verantwortungslos er diese Idee hält; ihr das zu sagen, würde nur zu unnötigen Streitigkeiten führen und davon hatte er mit ihr in der Vergangenheit wirklich schon genug. Nach der Scheidung seiner Eltern lebte er nämlich noch ungefähr drei Jahre bei ihr und das obwohl sie sich gegenseitig überhaupt nicht ausstehen konnten. An einem Mittwochabend mitten im Frühling eskalierte dann die Situation: Sie rief seinen Vater an und meinte, dieser könne ihn abholen kommen. Er war stocksauer und schrie nicht nur seine Mutter, sondern auch seinen Vater an, weil der versuchte eine friedliche Trennung daraus zu machen. »Tu’ nicht so, als wäre alles in bester Ordnung! Hör auf hier rumzuschleimen, ich will hier endlich weg!«, hat er gerufen und begann ganz plötzlich zu weinen. Es war ihm alles eindeutig zuviel auf einmal. Auch seinem Vater kamen die Tränen. »Wieso man ihm das antue? Sein eigenes Fleisch und Blut lehne sich gegen die Familie auf!« Seine beiden Geschwister machten ebenfalls einen gerührten Eindruck. Es ging noch lange, bis er mit seinem Vater zusammen losfuhr. Schlussendlich hatte er sich mit seiner Mutter doch wieder versöhnt, spürte jedoch keinen Trost darin. Zu B. sagte er, er müsse jetzt auf seine Schwester aufpassen, er wünsche ihm alles Gute. Ihn erfasste ein Gefühl, als würde er sie alle nie wieder sehen. Das war natürlich Schwachsinn. Bestimmt würde er sie wieder sehen, sogar wann immer er wolle, hat ihm sein Vater versprochen. Doch in seinem neuen Zuhause würde etwas anders sein, das wusste er. Er würde seinen Geschwistern fern sein. Er würde alleine sein.
Als sie ankommen, springt ihnen auch schon seine siebenjährige Schwester entgegen. Er steigt aus, nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Ob sein Bruder noch da sei. Ja, gibt sie mit ihrer kindlich hellen Stimme zurück und rennt schnurstracks ins Auto zu der Freundin seines Vaters und ihrer Tochter, die sie beide sehr mag. Eigentlich möchte er seinen Bruder dazu überreden, mitzukommen, aber als er auf die Eingangstür zugeht, eilt dieser auch schon mit bösem Blick zu ihm heran und übergibt ihm eine DVD, die er ihm vor langer Zeit einmal geliehen und die er völlig vergessen hat. Er weiß, dieser Gesichtsausdruck gilt nicht ihm, sondern seinem Vater. Trotzdem fühlt er sich irgendwie betroffen. Er ist baff. Sie stehen sich einfach so gegenüber und scheinen beide nicht recht zu wissen, was sagen. Der eisige Wind bläst ihnen ins Gesicht. Das Wetter ist wirklich grässlich. Aber sie tun nichts. Sie stehen da als wären sie einander fremd. Ist das noch der Bruder, dem er vor drei Jahren alles Gute gewünscht hat? Ist das Band zwischen ihnen noch ein geschwisterliches?
»Geht es dir gut?«, fragt er seinen kleinen Bruder dann.
»Klar, und dir?« Er lügt und sagt, es ginge ihm ebenfalls gut. Das war’s. Die Situation ist derart unangenehm, dass sie sich verabschieden und er wieder ins Auto steigt, währenddem B. sein neues Moped aus dem Schuppen neben dem Haus herausholt. Sein Vater sieht ihm durch das Fenster noch nach und meint dann, er hätte sein Motorrad ziemlich schön gespritzt. Zum ersten Mal tut ihm sein Vater wirklich leid. Vierzehn Jahre lang war dieser Junge da sein Sohn und jetzt ist alles, was er über ihn noch sagen kann, er habe ein schön lackiertes Motorrad.


Fünf


Mit einem letzten, langatmigen Schneesturm beendet der Winter das Jahr. Es ist Silvesterabend und er sitzt zuhause an seinem Schreibtisch und liest Imre Kertész’s »Ich – ein anderer«. Der Rest seiner Mitbewohner hat es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht und sieht gespannt den Neujahrs-Countdown erwartend fern. Auf dem kleinen, rechteckigen Glastisch stehen elegante, kristallklare Weingläser mit alkoholfreiem, goldenem Champagner gefüllt. Eigentlich sollte er bei ihnen sein und sich ebenfalls freuen. Aber er kann nicht. Er erinnert sich daran, wie seine Ex-Ex-Freundin vor genau zwei Jahren mit ihm Schluss gemacht hat, drei Stunden vor Mitternacht. Dass er sich nicht zu ihnen wagt, wo er sowieso schon so wenig mit ihnen unternimmt, tut ihm leid. Seine Selbstverachtung könnte gar nicht größer sein. Er ist ein Feigling und will den Anschein erwecken, als würde ihn Silvester nicht interessieren. Und als Hilfsmittel dazu benutzt er dieses Buch, das von einem Literaturnobelpreisträger stammt. Wie tief muss man gesunken sein, großartige Werke wie jenes mit in den eigenen Dreck zu ziehen?
Noch zehn Minuten. Sein Vater ruft ihn, aber er gibt keine Antwort. Sie sollen denken, er höre ihn nicht. Plötzlich vibriert sein Handy, das neben dem Büchlein liegt. Er sieht nach; eine SMS von M.:

Ich wünsche dir ein frohes, neues Jahr! Da fällt mir gerade ein, du hast mir immer noch nicht gesagt, was du von »Young Adam« hältst!
Alles Gute,

M.

Und auf einmal huscht ihm ein Lächeln über das Gesicht. Von ihm hätte er das nun wirklich nicht erwartet. Normalerweise lässt M. nie etwas von sich hören. Er existiert im Grunde genommen nur an ihren Mittwochen, wenn sie zusammen in die Berufsschule gehen. Dankbar schreibt er ihm zurück, wünscht ihm ebenfalls ein gutes Jahr 2005 und teilt ihm mit, dass er »Young Adam« im Nachhinein als genialen Film betrachtet und dass er auch Ewan McGregor grandios gefunden hat. Er schlägt das Buch zu, erhebt sich und legt das Album »The Melancholy Collection« von Millencolin in seinen radioähnlichen CD-Player, den er vor ein paar Jahren von seiner Mutter auf Weihnachten geschenkt bekam. Rasch dreht er die Lautstärke weit auf, setzt sich wieder auf seinen Stuhl und schlägt seine Beine über den tiefen Hocker, der bisher nur unnütz im Zimmer herumstand. Das ist er vor vier Jahren; ein kleiner, rebellischer und aufgeweckter Junge, der sich durch nichts die Laune verderben lässt. »Meine Güte, das waren Zeiten…«, denkt er und muss seiner Erinnerungen wegen Tränen unterdrücken. Die Musik dröhnt und er lächelt. Nach einer Weile kommt sein Vater ins Zimmer, in der Hand ein Glas unechter Champagner. »Kommst du jetzt? Du hast das Neujahr schon verpasst!« Er käme gleich, und sein Vater verschwindet. Ihm ist klar: dieses Gefühl wird nicht ewig währen. Morgen wird es bereits wieder vorbei und von seinen seelischen Qualen weggefegt sein. Aber bis dahin würde er es bis zum letzten Moment auskosten.

Der erste Januar 2005 ist ein Samstag. Irgendwie stört ihn der Schnee, der draußen auf den Strassen und auf den Wiesen liegt nicht mehr, denn er weiß, lange wird er nicht mehr halten. Kurz vor dem Mittag ruft er noch seine restlichen Bekannten an und wünscht auch ihnen alles Gute im neuen Jahr. Eigentlich möchte er mit seinen Freunden zusammen etwas unternehmen, aber das geht nicht. Es ist ein Feiertag und Feiertage müssen sie mit ihrer Familie verbringen. Bei ihm ist das anders. Sein Vater macht sich nichts aus solchen Feierlichkeiten. Was soll er also tun, so ganz auf sich selbst gestellt? »Alleine kann man sich nicht amüsieren.« Diese Lektion hat er schon vor langer Zeit gelernt. Er späht zu seinem Bücherregal hinüber und akzeptiert sein Schicksal. Das Wochenende mit Lesen zu verbringen ist kein Highlight. Es ist auch keine richtige Beschäftigung. Es ist eine zwangsläufige Lösung, die er hinnimmt, um seine Vereinsamung zu verleugnen.
Nachdem er in fünf verschiedenen Büchern je fünfzig Seiten gelesen hat, ist es Sonntagnachmittag geworden und er kann nicht mehr. Ihm tut der Kopf weh und er fühlt sich krank, weil er nicht ein einziges Mal raus an die frische Luft gegangen ist. Vor ihm auf dem Schreibtisch liegen über die ganze Fläche hinweg Lektüren verteilt und wo er auch nur Hinsieht: überall Worte, überall Sätze, überall Buchstaben. Wenn das so weitergeht, wird er eines Tages tatsächlich noch verrückt. Vor einiger Zeit hat er sich das Dasein eines Einzelgängers lebendig und abwechslungsreich vorgestellt. Er hat sich sogar gewünscht, einer zu sein und jetzt, da es ihn so ganz unbewusst dorthin verschlagen hat, würde er am liebsten einfach davonrennen. Ihm war nicht bewusst, dass auch Einzelgänger Gesellschaft brauchen. Freunde kommen nicht einfach zu einem, nur weil man ohne sie den Lebensstil nicht auszuleben fähig ist – das hat er nun verstanden.
Er entschließt sich, auf den Balkon hinauszugehen und sich dort etwas abzukühlen, was um diese Jahreszeit ja kein Problem darstellen sollte. Der Wind ist noch immer kalt, aber man merkt schon, dass der Winter im Sterben liegt. Über dem Horizont hat sich der Himmel in ein klares Hellblau verfärbt. Der Frühling hat ihm noch nie etwas bedeutet, aber dieses Mal, so dünkt ihn, ist das anders. Keine Kältezeit hat ihn jemals derart schlecht beeinflusst wie die Vergangene. Dieses Frühjahr ist ihm gerne Willkommen.
Den Rest des Tages verbringt er damit, sich »Fight Club« anzusehen. Eigentlich kann er gar nicht genug davon kriegen. Kein anderer Film hat ihn je auf dieselbe Art und Weise beeindruckt oder berührt. Es dreht sich dabei um einen freudlosen Bürolisten, der an Schlaflosigkeit leidet und im Verlaufe der Geschichte einen seltsamen Typen kennenlernt, mit dem er sich sogleich anfreundet. Um ihren Frust und ihre Aggressionen gegenüber ihrer monotonen Welt abzubauen, gründen sie zusammen einen Schlägerkreis, der sich schon bald als Teil eines apokalyptischen Plans herausstellt. Die Bedeutung dieses Filmes interpretiert er als Analogie der Lebensträgheit seiner Generation. Aber ob das der Wahrheit entspricht, daran zweifelt er; Wäre er dann einsam? Inwiefern hätte seine gesellschaftsfeindliche Haltung dann überhaupt noch Substanz?

Als der Montag ihn endlich von der Qual des Wochenendes befreit, sitzt er wie gewohnt im Büro und arbeitet. Sein momentaner Auftrag besteht darin, einen Küchenplan zu zeichnen. Ein Kinderspiel. Er weiß nicht, wie viele er davon in den letzten zwei Jahren schon gemacht hat. Mittlerweilen kennt er jedes klitzekleinste Detail auf diesem Gebiet. Die Unbedarftheit dieser Aufgabe tut ihm nicht gut. Es bleibt ihm zu viel geistlicher Platz für sein Privatleben. Das Nachdenken und die daraus resultierende Hoffnungslosigkeit sind ihm langsam zu einer Krankheit geworden. Immer öfters sucht er nach dem Ursprung seines Unheils und verfällt dabei der Nostalgie. Zu Recht, wie er findet, denn früher war wirklich alles besser. Möglicherweise auch nicht, aber um das wahrzunehmen hatte er damals noch nicht den Feinsinn eines erfahrenen Menschen entwickelt. Wie ist es eigentlich dazu gekommen? Wer oder was hat ihm die Augen geöffnet? Er ist sich nicht sicher und gesteht sich auch ein, dass es ihm letztlich egal ist. Aber eine winzige Ahnung hat er; seine Ernüchterung ist sein eigenes Verschulden. Für diese Welt ist er einfach nicht geschaffen. Er denkt zuviel. Er ist ein Denkerwesen und das ist in diesem Zeitalter vollkommen fehl am Platz. Plötzlich erinnert er sich an Nietzsche: »Oh wie wir glücklich sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen!« Ja, dieser Gedanke erscheint ihm irgendwie einleuchtend, obwohl er eine gewisse Schwierigkeit damit hat, zu glauben, er sei ein Erkennender; das geht ihm eindeutig zu weit. Zu erkennen bedeutet zu verstehen, und den Hintergrund des Lebens zu entziffern war ihm bisher noch nicht einmal ansatzweise gelungen. Kurz gesagt: Er sieht keinen Sinn im »Sein«, zumindest nicht in dem seinigen. Neugierig späht er zu K., seinem Arbeitskollegen; ein junger, glücklicher und zufriedener Mann, der vor kurzem geheiratet hat. Wenn K. sich auf ein derartiges Wagnis einlässt, auf die »Ehe«, dann wird er den Sinn seines Lebens doch erkannt haben… oder ist er egoistisch und gleichgültig genug, eine Frau und eine zukünftige Familie, mit in eine sinnlose Existenz zu reißen? Seiner Art würde das jedenfalls keineswegs entsprechen.
Im Bus auf der Heimfahrt rätselt er um die Enthüllung des Bestehens; wie erfährt man den Sinn der Schöpfung? Muss man danach suchen oder offenbart es sich irgendwann von selbst? Ihm kommt die Idee, dass der Sinn möglicherweise mit dem Wort »Zweck« und dessen Bedeutung verwandt ist, und dass also somit »Zweck« im Zusammenhang mit dem Leben ferner auch als Schicksal aufgefasst werden könne. Vielleicht denkt er da aber schon wieder zu weit, das kann er nicht wissen. Außerdem bestand seine bisherige Bestimmung darin, unglücklich zu sein. Seiner Theorie nach, wäre der Sinn seines Lebens also, Kummer zu leiden. Dieses Gewissen will er nicht.


Sechs


Es ist Sommer geworden. Ein schönes Rot weiht über der Erde und die Sonne taucht alles in goldenes, warmes Licht, währenddem sie langsam untergeht. Er sitzt wieder in seinem Stammcafé über der Boutique. Alles erinnert ihn an den letzten Herbst; die bummelnden Leute; der Espresso; das aufgeschlagene Büchlein vor ihm. Nur mit schwer erkämpftem Selbstzwang schafft er es, seinen Blick von der Welt außerhalb des Fensters abzuwenden und die letzten Zeilen von J.M. Coetzee’s »Die jungen Jahre« zu lesen. Noch einmal atmet er tief ein, dann schlägt er das Buch zu und schiebt es beiseite. Jetzt hängt alles nur noch an einem seidenen Faden. Mit flauem Gefühl holt er eine 20min hervor und legt sie mitten auf den Tisch. Er späht zum Eingang, aber es passiert nichts; es kommt kein Mädchen, um mit ihm zu schlafen und ihm das Leben zu retten. Niemand kommt. Sein ganzes Dasein ist eine Enttäuschung und aufgrund der Endgültigkeit dieses Moments akzeptiert er das jetzt. Er ist nun bereit; rasch packt er zusammen und verlässt das Café.
Einige Minuten später steht er auf dem Friedhofsplatz. Die Abenddämmerung ist beinahe schon Nacht. Ein sanftes, stilles Lüftchen geht und fegt ihm durch sein Haar, das sich gefügig wiegen lässt. In seiner rechten Hand liegen viele Schlaftabletten. Er hat sie aus dem Medikamentenschrank zuhause. Die neulich gelegentlichen Schlafstörungen der Freundin seines Vaters kommen ihm gerade recht. Ihm ist klar: das ist feige und dumm, aber er hat einfach keine Lust mehr. Er erträgt das nicht mehr. Die ständige Einsamkeit. Diese Melancholie, die sich nicht losschütteln lässt. All diese Erlebnisse, die ihm nicht mehr aus dem Kopf wollen und ihn mit Traurigkeit erfüllen. Er würde jetzt gerne noch ein letztes Mal seinen Bruder sehen. Nach ihrem Zusammentreffen im vergangenen Winter sind sie sich nur noch selten über den Weg gelaufen. »Mach dir keine Sorgen um mich. Ich weiß schon, was ich tue.«, will er ihm sagen. »Grüsse unsere kleine Schwester von mir, ja?« Aber in Wirklichkeit brächte er in dieser Situation kein einziges Wort heraus. Er wäre stumm, weil er das seinem Bruder nicht antun könnte und sich schämen würde, da jemandem die Dummheit seines Vorhabens widerfahren ist. Nebst dem Gedanken an seinen Bruder, plagt ihn jetzt plötzlich auch das verschwommene Bild seiner längst vergessenen Ex-Freundin wieder. Wieso, kann er nicht ausmachen. Er hat sie seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Wie es ihr wohl geht? Wohin hat die Zeit sie verschlagen? Ist sie glücklich? Tränen rinnen ihm die Wangen hinunter. Genug, sagt er sich, bring es endlich hinter dich! Er starrt auf die Tabletten, jeder Augenblick als Möglichkeit der Besiegelung seines Schicksals. Ein kleiner Ruck und alles wäre vorbei. Die Hand mit den Medikamenten zittert. Nein, er kann es einfach nicht. Er hat Angst. Besiegt kippt er den Inhalt seiner Handfläche ins Nichts hinaus. Die Tabletten fallen zu Boden und er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen. Es ist niemand da, der ihn beim Weinen sehen könnte, aber das ist ihm egal. Er fühlt sich einfach zu schwach, um jetzt auch noch auf solche Kleinigkeiten Acht zu geben. Er hat nicht mehr die Kraft dazu, sich gegen seine Emotionen aufzulehnen. Sollen sie die Oberhand gewinnen, ihm ist es gleich.
Irgendwann hat er sich wieder gefasst. Mit entblößtem Gesicht steht er im Tor zum Friedhof und blickt zurück; Efeuranken sind die Gemäuer emporgewachsen. Moos hat sich an den Grabsteinen gebildet. Es ist ein ausgestorbener Ort und hier hätte er sterben sollen. Wieso eigentlich? Hat er etwa geglaubt, man könne ihn dann gleich - auf der Stelle begraben? Und wenn er wirklich sterben wollte, wozu hat er dann im Café noch die Zeitschrift und sein Buch eingepackt? Erst jetzt lastet die gesamte Lächerlichkeit seines Plans auf ihm und ihm scheint, er habe bereits einen weiteren Anlass zum Suizid. Aber er wird es nicht wieder versuchen. Zu oft schon hat er versagt. Und so geht er nach Hause. Dort wird er die Tabletten, die er demütig wieder aufgelesen hat, zurück an ihren gerechten Platz tun und das Bett aufsuchen, um einzuschlafen. Dann wird er am nächsten Morgen wieder aufwachen und weiterleben.

Einige Wochen später bekommen er und sein Arbeitskollege ein paar Tage frei, weil Herr R. mit seiner Familie nach Spanien in die Ferien fährt. Er hat nichts dagegen. Im Sommer ist das Wetter in der Schweiz gar nicht mal so schlecht. Aber als er den Telefonhörer in den Händen hält, um jemanden anzurufen, wird ihm klar: all seine Freunde arbeiten. Er legt den Hörer also wieder auf und steht da. Was jetzt? Soll er sich wieder hinter seinen Büchern verschanzen, tagelang? Nein: er ruft ein Mädchen an. Sie heißt P., ist ein knappes Jahr jünger als er und sieht sehr hübsch aus und ist arbeitslos. Er hat sie zusammen mit M. vergangenes Jahr im Frühling kennengelernt, als sie in St. Gallen in einem heimeligen Restaurante betrunken waren und derart laut redeten, dass alle sie hörten und angafften. Unter den Gaffern war auch P. Nachdem sie ihr Glas Weißwein mit einem Schuss Zitrone ausgetrunken hatte, stand sie auf, eilte zu ihnen hin, warf zwei lächerliche, selbstgemachte Visitenkärtchen hin und ging. Sie grinsten und steckten die rechteckigen Zettelchen in ihre Portemonnaies. Nicht viel später saßen sie zu dritt in einer Bar und betranken sich zusammen weiter. Er fand sie sehr nett und hätte sie gerne flachgelegt, bekam aber nicht die passende Gelegenheit dazu. Seit diesem Abend hat er sie nicht wieder gesehen.
Als er sie am Apparat hat, herrscht für einen kurzen Augenblick stumme Verlegenheit. Doch dann schafft er es mit viel Mühe und vorgetäuschtem Interesse, irgendwie die abgebrochene Verbindung wieder herzustellen. Zwar dauert das Gespräch ziemlich lange, doch am Ende arrangiert er eine Verabredung mit ihr. »Bis nachher«, sagt er, henkt ab und macht sich zum Bahnhof auf.
Sie treffen sich in St. Gallen, weil das in der Mitte ihrer Strecke liegt. P.s zartes Gesicht ist in den kühlen Schatten eines gelb-rotgestreiften Sonnenschirms getaucht. Auf der Terrasse zwischen den vereinzelten Tischen stehen überall große, betonierte Pflanzentröge in denen prächtige, bunte Blumenbeete blühen. Sie haben sich je eine Cola bestellt und unterhalten sich über die Zeit, in der sie sich nicht gesehen haben. P. erkundigt sich auch nach M., aber ihm fällt außer ihren Mittwochen und den Kinobesuchen nichts Expliziteres ein. Bald und ihnen geht der Gesprächsstoff aus. Sie sitzen schweigend da, die noch halbvollen, zylinderförmigen Gläser mit den aufgesteckten Zitronenscheiben vor ihnen. Nach einer Weile beginnt sie sich nervös umzusehen und mit ihrem halblangen, hellbraunen Haar zu spielen. Er sieht ihr dabei zu und fragt sich plötzlich, ob er sie tatsächlich kennt. Wer ist für ihn? Ihr Name ist P. und sie ist ein gutaussehendes, arbeitsloses Mädchen – dessen kann er sich besinnen. Doch mehr scheint da nicht zu sein. Im Grunde genommen hat er sich mit einer Fremden verabredet. Ist das ein »Blind Date«? Und wenn ja, was muss er jetzt tun? Worin besteht überhaupt dessen Zweck? Etwa Freundschaft? Sex? Oder gar eine Beziehung? Er ahnt, er hat wieder einmal keine Ahnung. Gleich wird sie eine Ausrede bringen und verschwinden. Einfach so. Und weg wäre sie. Sollte er ihr davon erzählen, dass er vor nicht allzu langer Zeit versucht hat, sich umzubringen? Ist das interessant genug, um eine völlig unbekannte Person zu unterhalten? Bisher hat er es für sich behalten. Ihm scheint, der Tod ist ein zu abschreckendes Thema. Niemand will etwas mit ihm zu tun haben.
Nach einer Weile sieht P. auf ihre Uhr und meint, sie müsse langsam gehen. Okay, sagt er. Sie trinkt noch kurz aus, verabschiedet sich von ihm und geht dann zwischen den Tischen und im milden Sonnenlicht davon. Er versucht zu widerstehen, sieht ihr aber trotzdem nach. Als sie hinter einer Heckenwand verschwindet, hat er das Gefühl der einzige Mensch der Welt zu sein. Er kommt sich zurückgelassen und hilflos vor. Andererseits ist er ganz froh, dass er sie wieder los ist. Sie hat ihn mit ihrer oberflächlichen Art sowieso genervt. Oder hat ihn das viele Denken einfach nur zu tiefsinnig für ein gewöhnliches Gespräch gemacht?

Weil er merkt, dass er in nächster Zeit keine Chance mehr dazu kriegen wird, seine Zunge zu nutzen, geht er am nächsten Morgen in die Stadt zu der bescheidenen Bücherei und kauft sich noch mehr von diesen kleinen, gelben Philosophiebüchlein. Er gedenkt sie überall hin mitzuschleppen, damit er sie in einsamen Momenten hervorholen und so tun kann, als wäre er jemand, der nie dazu verdammt ist, tatenlos herumzustehen. Außerdem könnte es doch gut sein, dass ihn eine Person auf diese Sorte von Literatur anspricht, und dass er so neue Leute kennenlernt. Das ist natürlich alles sehr erbärmlich und auch ein wenig unwahrscheinlich, aber das Experiment will er nicht unversucht lassen.
Es ist ein Reinfall. Wenn er seine Demonstration vollzieht, erntet er dieselbe Ignoranz wie sonst auch. Doch die Enttäuschung ist nicht groß. Eine leise, innere Stimme hatte ihm dieses Ergebnis prophezeit. Der Durchschnitt interessiert sich nicht für das Lesen - geschweige denn für philosophische Gedanken - und schenkt ihm deshalb auch keine Beachtung. Was er sucht, sind also Leute, die sich von der Masse abheben… oder eben in ihr untergehen. Aber wo und wie begegnet man diesen Menschen? Wird man durch die Geistesverwandtschaft zu ihnen geleitet? Seine Zuversicht ist gering.

Plötzlich steht der 1. August vor der Tür. Das ist der schweizerische Nationalfeiertag. Früher, als kleines Kind, hat er sich immer auf dieses Ereignis gefreut. Es bedeutete, länger aufbleiben zu dürfen, Feuerwerkskörper anzuzünden und deren atemberaubende Explosionen in der tiefen, nächtlichen Dunkelheit zu beobachten. Überall sind Leute, Fremde oder Bekannte und haben dieses Festfieber. Überall stehen kleine Verkaufstände, die entweder pyrotechnischen Schnickschnack oder feine Bratwürste mit einem Stückchen Brot verkaufen.
Dieses Mal freut er sich aber nicht. Warum, kann er nicht genau feststellen. Irgendetwas stört ihn einfach, wenn er den kauflustigen Massen beim Hammstern von Raketen und kleinlichen Knallsachen zusieht. Kapieren sie denn nicht, dass sie ihr Geld in die Luft sprengen?
Als es soweit ist, sitzt er zuhause zusammengekauert auf seinem Bett im abgedunkelten Zimmer und starrt vor sich hin. Von draußen her donnern die Sprenglaute zu ihm ins Ohr und zuckend blitzt hie und da ein Licht in der Ferne auf und erleuchtet für Sekunden den leblosen Raum. Sein Vater hat sich diesen Event ausnahmsweise zu Herzen genommen und ist mit seiner Freundin und dessen Tochter feiern und ebenfalls einige Feuerwerkskörper anzünden gegangen. Er ist also alleine, so wie seither. Die ständige Einsamkeit hat nun allerdings endlich ihren bitteren Beigeschmack verloren; es macht ihm nichts mehr aus. Das ist kein Weltuntergang für ihn. Er kann damit leben.

Allmählich geht der Sommer seiner Neige zu. Das Wetter ist zwar noch angenehm warm, macht sich das Kürzerwerden der Tage jedoch langsam bemerkbar. Wenn er morgens auf die Strasse tritt, ist es noch dämmerig, Wolkenfetzen schweben am Himmel und eine leichte Brise prickelt auf seiner Haut. Das Ende dieser Jahreszeit hat eine ganz bestimmte Bedeutung für ihn; er ist jetzt im vierten und damit letzten Lehrjahr seiner Hochbauzeichnerlehre; in einem Jahr ist die LAP.


Sieben


Seine Prüfungsangst schlägt ein, wie eine Bombe. Er weiß, er hat während der ganzen bisherigen Lehre nichts gelernt. Drei Jahre hat er auf die leichte Schulter genommen, drei wichtige und unwiderrufliche Jahre. Es gibt kein Zurück und das wird ihm jetzt jäh und auf sehr brutale Weise klar. Gegen Außen zeigt er sich ganz unbeschwert und gelassen, doch in Wirklichkeit bangt er und möchte seine Lehrer auf Knien um Hilfe bitten. Aber das wäre schwachsinnig. Wie sollen sie ihm denn helfen? Alles was sie für ihn tun könnten, wäre ihm zu raten, dieses letzte Jahr zum Lernen, zum unerbittlichen Lernen zu nutzen, und soviel hat er bereits selbst in Erfahrung gebracht. Er hat also keine Wahl; er muss büffeln. Er muss büffeln wie nie zuvor.

So bricht der Herbst an. Draußen vor seinem Fenster verändert sich die Welt; sanft macht sich der erste, trockene Wind bemerkbar, den Bäumen werden die Blätter naturfarben und am Himmel ziehen dichte, graublaue Wolkengeschwader heran. Früher waren ihm diese völlig natürlichen Verwandlungen einerlei. Er zog uninteressiert und unberührt durch diesen Wandel der Natur. Doch nun kommt es ihm so vor, als würde er unermesslich viel verpassen. Jedes Geschehen findet ohne ihn statt, passiert ohne Rücksicht auf seine Beteiligung.
Er sitzt zuhause in seinem Zimmer und lernt. Es ist Sonntag, aber die Namen der Tage haben schon jetzt ihre Bedeutung für ihn verloren. Ein Tag ist wie der andere. Keiner vergeht ohne diese unablässige Qual. Sein ganzes Bestreben in dieser Zeit ist ihm ein Konflikt zwischen seinen wahren Begierden und seinem Verstand. All sein Tun widerstrebt ihm, versucht sich zu widersetzen und kämpft verbissen gegen seinen erzwungenen, schwachen Willen. Aber er wird sich nicht fügen. Er wird weitermachen. Er muss! Also beißt er seine Zähne zusammen und arbeitet sich mühsam und quirlig Seite um Seite durch seine Ordner. Besonders die Baukonstruktionen und deren fachgerechten Ablauf machen ihm zu schaffen. Wann muss die Bewehrung oben und wann unten eingelegt werden und warum? Was ist Glasgranulat und in welcher Stärke muss man es unter welchen Bedingungen einsetzen? Wieso muss man die Dampfsperre immer auf der Innenseite der Isolation anbringen? Wie wird ein Fensterbank in der Höhe versetzt? Antwort erhoffend sucht er in seinen Schulunterlagen und findet dabei nur noch mehr Fragen. Wenn er mittwochs in die Berufsschule geht, stellt er sie immer seinen Lehrern und schreibt sich dann dessen Auskunft unter Gehetze (denn er will zur nächsten Stunde nicht zu spät erscheinen) und möglichst ausführlich auf einen Notizblock. Während des Unterrichts bemüht er sich stets, nicht mit M. zu plaudern und den Vorträgen seines Magisters zu folgen. Auch auf das Stöbern in der Bücherei oder die geregelten Kinobesuche verzichtet er, denn diese Zeit hat er sich ebenfalls fürs Lernen reserviert. M. hat Verständnis. Es geht ihm ja ungefähr gleich. Er weiß das zu schätzen, findet jedoch nicht die Gelegenheit dazu, es ihm angemessen nahe zu legen. Wird diese ununterbrochene, geistliche Arbeit ihre Freundschaft in Mitleidenschaft ziehen? Werden sie sich auseinander entwickeln? Er will nicht, dass sie sich nach einem Jahr völlig verfremdet gegenüberstehen und keinen Grund mehr darin sehen, ihre Bekanntschaft ohne das unweigerliche Zusammensein in der Berufschule überhaupt noch aufrecht zu erhalten. Doch das zu entscheiden, liegt nicht in seiner Macht. Er kann nichts für ihre kollegiale Beziehung tun. Er kann nur abwarten und hoffen.

Im Winter befasst er sich hauptsächlich mit der Baustoffkunde. Die restlichen Fächer lässt er zwar nicht links liegen, widmet ihnen aber auch nicht mehr Zeit als er zur flüchtigen Repetition für nötig hält. Themen wie »Natursteine« oder »Bindemittel« prägt er sich relativ schnell ein, weil sie ihm einfach und logisch erscheinen, doch »Keramische Baustoffe«, »Textilien und Linoleum« und »Dämmstoffe« wollen sich einfach nicht beibringen lassen. Es sind unglaublich komplexe und ausgedehnte Lernbereiche und zudem fällt ihm beim Durchblättern auch noch auf, dass unzählige Unterlagen nicht vorhanden sind, wahrscheinlich weil er sie nie eingeordnet, sondern nur zwischen die Blätter gelegt hat und somit irgendwie verlor.
Außerdem findet er einige Papiere dank seiner Nachlässigkeit in völlig falschen Kapiteln vor, die manchmal zu allem Überfluss noch nicht einmal vollständig gelöst sind. Was macht er jetzt damit? Was sollen ihn diese unbeschriebenen Papiere nützen? Er sieht nun ein, dass er für seine Leichtsinnigkeit büssen muss und bereut es.
Um dennoch an die Unterlagen heranzukommen, leiht er sie sich von Mitschülern aus und kopiert sie sich im Büro während der Mittagspause. Das ist zwischendurch äußerst ermüdend, weil er ständig daran denken muss, die Blätter an den Mittwochen nicht mitnehmen zu vergessen und wenn es ihm doch mal passiert, sind ihm seine Kommilitonen immer gleich böse und fühlen sich um ihr Vertrauen betrogen. »Es war doch keine Absicht!«, ruft er dann meistens aus, aber mit diesem Protest scheint er bei ihnen nicht anzukommen; sie sind immer noch enttäuscht und behandeln ihn mit einer gewissen Ignoranz. Irgendwann hat er aufgehört darauf Rücksicht zu nehmen. Er kann bei dem ewigen Stress nicht fortwährend auf seine Kompetenz achten. Man kann nicht immer auf die Wünsche anderer eingehen. Schlussendlich kämpft jeder diesen Kampf nur für sich selbst. Man muss zusehen, dass das Ich am Ball bleibt.

Als der Frühling beginnt, hat er bereits eine Menge hinter sich gebracht, mehr als er sich in dieser kurzen Zeit zugetraut hätte. Zur Belohnung gestattet er sich eine Woche Pause.
Insgesamt sind es keine sehr erfüllten Tage, doch scheinen sie ihm trotzdem tausendmal kurzweiliger als die mit ununterbrochenem Lernen verbrachten. An den Abenden sieht er sich DVDs wie »Forrest Gump« oder »American Beauty« an und wenn ihm gerade der Kopf danach steht, liest er in Ernest Hemingway’s »Der alte Mann und das Meer«, das ihn durch den sanften Schreibstil zu beruhigen weiß, was ja bei seinen Ängsten ein großes Gut ist. Aber als er am Sonntagabend zu Bett geht, überkommt ihn doch eine gewisse Erleichterung, weil er sich der LAP-Vorbereitung gegenüber schon irgendwie verpflichtet hat.
Und so schleppt er sich mühselig durch den Frühling bis hin zum Sommer. Seine Empfindungen sind jetzt stumpf, seine wirklichen Interessen erloschen. Es macht ihm nichts mehr aus, zu lernen. Das Zwangsgefühl hat sich von ihm losgelöst und er fühlt nichts mehr, wenn er einer Beschäftigung nachgeht. Alles ist nur noch unbewusstes Tun. In seinem Innersten pocht irgendwo noch das winzige Lebensflämmchen seiner Seele, aber es hat zu schweigen und akzeptieren begonnen. Es gibt keine Freude oder Trauer mehr. Er ist eine organische Maschine, die sich gedankenlos zu irgendeinem Ziel hinarbeitet. Dass dies nicht unbedingt in allen Lebensbereichen ein Segen ist, ahnt er jedoch nicht; seine Freunde distanzieren sich nun völlig von ihm, sein Arbeitskollege und er führen kaum noch Gespräche und seinen beiden Geschwistern hat er seit Ewigkeiten keine Beachtung mehr geschenkt. Er ist blind vor Arbeit und hat jegliche Wahrnehmung verloren. Doch dann beginnt der Sommer plötzlich in sich zusammenzufallen und er erwacht. Das vierte Lehrjahr ist nun beinahe vorüber; es ist soweit.


Acht


Anfang September 2006: letzte Abschlussprüfung.
Das Geräusch seiner Tritte, wenn er das Treppenhaus im Schulhaus hochsteigt, hallt in seinen Ohren wie ein Echo. Seine Hände sind feucht und zittern. Sein Atem stockt. Das Herz in seiner Brust droht zu zerreißen. Er fühlt sich krank und schwach, weiß, sein Gesicht ist bleich.
Vorsichtig setzt er sich an einen Platz in seinem Klassenzimmer mit der Nummer 401 und versucht langsam und tief durchzuatmen. Es ist Samstag, Allgemeinbildungsprüfung. Stille herrscht. Angst liegt in der Luft. Der Lehrer geht rasch von Tisch zu Tisch und legt die Prüfungsblätter mit dem Gesicht nach unten vor sie hin. Daraufhin holt er eine Liste hervor und teilt allen Schülern nach ihren Familiennamen alphabetisch eine Erkennungszahl zu. Seine lautet »HBZ05« (Hochbauzeichner 05). Er erklärt, dass ihnen präzise vier Stunden zur Verfügung stehen, danach müssen sie ihr Schreibzeug ablegen und die Blätter ihrer Nummerierung nach aufeinander gestapelt auf das Pult legen. Nach einem kurzen Augenblick Schweigen, wirft er einen genauen Blick auf seine Armbanduhr. Dann sagt er: »Viel Glück, die Zeit gilt ab jetzt.« Er führt seinen linken Daumen und Zeigefinger zur unteren, rechten Stapelecke und dreht die Prüfungsunterlagen um. Der schwarze Stift zwischen seinen Fingern schreibt die Antworten, aber sein Kopf ist völlig leer. Alles ist taub. Alles ist Traum. Dann ist die Zeit um und er tut wie ihm befohlen. Ihm ist übel und sein Kopf schmerzt. Mit lahmen, unsicheren Schritten macht er sich auf seinen Heimweg. Er hat jetzt drei Tage frei, doch er geniest sie nicht.

Mittwoch: praktische Prüfung im Büro.
Herr R. und sein Arbeitskollege arbeiten wie gewohnt, währenddem er an seinem Zeichnungstisch wartet. Als es 07:30 ist, kommt ein Experte zu ihm und übergibt ihm einen Briefumschlag. Er nimmt ihn stumm entgegen, öffnet ihn und zieht die Aufgabenblätter heraus: er muss einen Grundriss mit all seinen Details nach den vorgegeben Angaben zeichnen. Die Benutzung jeglicher Unterlagen, Ordner und Arbeitsmittel im Büro sind erlaubt, darf ihm jedoch nicht geholfen werden. Wieder sind ihm vier Stunden gewährt. Während dieser Zeit wird der Fachmann zweimal vorbeikommen und nachsehen, wie er mit seiner Arbeit vorankommt. Um 12:00 muss er seinen Plan abspannen, auf Papier heliographieren und alles wieder zurück in das Kuvert tun. Der Spezialist wird es dann wieder mitnehmen und anhand von gewissen Kriterien bewerten (z.B. Vollständigkeit, korrekte Darstellung, Richtigkeit der Konstruktionen…).
Er fängt an. Zuerst macht er Skizzen und vergleicht sie dann mit den Plänen im Büro. Bei einigen ist er sich nicht sicher, aber er hat nicht die Zeit, sich darüber gewiss zu werden. Dann reißt er alles mit Bleistift auf dem Transparentpapier auf und zieht daraufhin die Striche mit Tusche aus. Bei der Vermassung richtet er sich nach der altbewährten Logik; welche Angaben würde der Maurer auf der Baustelle benötigen? Dabei verfährt er gleich wie beim Zeichnen des eigentlichen Objekts: zuerst Bleistift, dann Tusche. Zuletzt müssen noch die wichtigen Stellen beschriftet werden. Die Beschreibung und ihre fachgerechte Formulierung müssen gewährleistet sein, jedoch bereitet ihm das große Schwierigkeiten. Er sucht die richtigen Worte, die richtigen Ausdrücke, doch es gelingt ihm nicht. Nervosität steigt in ihm auf. Schweiß sickert aus seiner Stirn. Seine Augen beginnen zu brennen. Er möchte verzweifeln; er ist doch Schreiber! Wie kann ein Schreiber nicht die richtigen Worte finden? Ist das denn nicht überhaupt sein Talent? Aber die Fragen nützen ihm nichts. Als der Experte zurückkommt, um ihm mitzuteilen, dass die Zeit vorbei ist, sind über die Hälfte aller bezeichnungsbedürftigten Details noch ohne Daten. Er spannt das Papier ab, kopiert es und gibt dem Spezialist die verlangten Unterlagen samt der Aufgabenstellung. Eigentlich müsste er den Nachmittag im Büro ganz gewöhnlich arbeiten, aber er kann nicht. Er ist nicht mehr imstande dazu. Also holt er sich bei Herr R. mit heiserer Stimme eine Erlaubnis nach Hause gehen zu dürfen und verabschiedet sich dann.
In den daraufhin folgenden drei Tagen geht er ebenfalls zur Berufsschule und wird in drei verschiedenen Fächern geprüft (Naturwissenschaftliche Grundlagen, vier Stunden. Bautechnik, vier Stunden. Praktisches, technisches Zeichnen, sechs Detail in vier Stunden). Immer mit demselben tauben, kalten Gefühl tritt er den Heimweg an.
Am Montag, dem letzten Tag der Prüfungen, werden die Schüler von einem Experten ausgefragt. Wenn er hierbei durchfällt, ist es aus, ganz egal wie gut er bei allem anderen abgeschnitten hat. Sie sitzen sich in einem stillen Zimmer gegenüber, nur zu zweit. Der Fachmann hat die Kopie seines Plans vom Mittwoch und seinen Schulordner vom letzten Lehrjahr vor sich auf dem Tisch liegen. Zuerst faltet er den Plan auf und legt ihn dann ausgebreitet über die ganze Tischfläche vor sie hin. Er will wissen: »Warum haben sie das so gemacht?« - »Welchen Überlegungen sind sie gefolgt?« - »Ist dieses Detail auch anders lösbar?« - »Wie sieht der Bauablauf dieser Einrichtung aus?« - »Aus welchen Materialen besteht dieses Bauelement? Wie wird es hergestellt? Was sind die Nach- und Vorteile?« - »Sind sie sicher?« Der Spezialist nickt, legt den Plan wieder weg und zieht den Ordner zu sich heran. Rasch schlägt er ihn auf und bittet um Erläuterung aller darin enthaltenen Details. Er gibt sein Bestes, versucht sachlich, ruhig und kompetent zu bleiben. Dann sagt ihm der Spezialist, dass er bestanden hat, knapp. Sie geben sich die Hand, ein freundliches »auf Wiedersehen« und er geht wieder nach Hause. Sein Körper glüht.
Er bangt zwei Wochen, dann empfängt sein Chef einen Brief von der Schulverwaltung: er hat bestanden. Die Lehre ist vorbei. Er hat es geschafft.


Neun


In den folgenden Tagen hat alles einen neuen Touch für ihn. Es passiert nichts besonderes, aber er fühlt, dass etwas auf ihn zukommt: ein neues Leben.
Eigentlich unterscheidet sich dieses Leben kaum von dem alten; jeden Morgen steht er auf und geht zur Arbeit. Dort zeichnet er, macht Mittagspause und geht dann wieder weiterzeichnen. Danach geht er nach Hause und verbringt die letzten Stunden seines Wachseins so, wie er es in seiner einsamen Situation gerade schafft. Trotzdem dünkt es ihn, unter Stress zu stehen. Irgendwie muss er sich zuerst an das alles gewöhnen, an diese Veränderungen, die mehr in seinem Innersten, als in der wirklichen Welt stattfinden. Aber dieser Wandel macht ihm grundsätzlich nichts aus; von irgendwoher schallt eine vertraute Stimme und sagt: »Nur Ruhe. Alles ist gut.«
Nicht lange und plötzlich wird er von Fragen verfolgt – Fragen, die aus fremden Mündern kommen. Seine Eltern fragen ihn zum Beispiel ständig: »Was willst du nun als nächstes tun?« - »Hast du schon Zukunftspläne?« Und auch sein Arbeitskollege und sein Chef stellen ihm unablässig Fragen, die inhaltlich ungefähr auf dasselbe hinauslaufen. Was soll er ihnen denn sagen? Dass er sich darüber noch keine Gedanken gemacht hat? Er würde sich dumm vorkommen, wenn er ihnen verriete, dass er es noch nicht wüsste, also erfindet er einfach etwas. Doch er weiß auch, dass er nicht ewig lügen kann, dass er das Leben nicht ohne Plan weiterführen kann. Irgendwann würde ihn diese Leere auffressen und was dann mit ihm geschehen würde, will er lieber gar nicht wissen. Vor dieser Wahrheit fürchtet er sich.

Er sitzt zuhause und liest gerade als sein Handy vibriert. Es ist eine SMS von M.:

Wir haben es also beide geschafft. Was jetzt? Wirst du jetzt nach Basel ziehen, so wie wir es vorhatten?
Grüsse,

M.

Zwei Dinge an dieser Nachricht beginnen ihn schlagartig zu beschäftigen, nachdem er sie gelesen hat.
Erstens: Basel! Aber natürlich! Wie konnte er das bloß vergessen? Er wollte doch schon immer wegziehen, an einen anderen Ort, weg von diesem ausgehauchten Leben. M. und er hatten dauernd davon geredet. Sie wollten nach Basel und dort zusammen eine Wohnung nehmen. Dann wären sie nie alleine, die Miete kann geteilt werden, der Haushalt würde einfacher zu führen sein und auch sonst wäre einfach alles annehmlicher. Abends würden sie zusammen in den Ausgang gehen, Leute kennenlernen, sich betrinken und Spaß haben. Den Tag durch gingen sie arbeiteten, entweder in demselben Büro oder getrennt bei verschiedenen Anstellungen – was spielt das für eine Rolle? Jedenfalls hätten sie Struktur im Leben, hätten einen Plan der ihnen den Weg weist.
Zweitens: Was bedeutet das?: »Wirst du jetzt nach Basel ziehen, so wie wir es vorhatten?« Was meint er mit diesem »du«? Wenn sie es vorhatten, wieso und wozu dann dieses »du«? Er spürt, M. hat sich neue Ziele gesetzt – Ziele, die ihren gemeinsamen Weg nicht ermöglichen. Dieser Gedanke schmerzt ihn. Für Sekunden funkten schöne Erinnerungen auf und zu schnell schon nahm er wahr, dass es eben nur Erinnerungen sind. Dennoch: er will es genau wissen; er ruft M. an und seine Befürchtung bestätigt sich. M. hatte jenen Satz tatsächlich aus diesen Überlegungen so formuliert; weil er andere Pläne hat. Mit der SMS wollte er es ihm nur sagen, indirekt, denn es tut ihm leid, wie er ihm am Telefon gesteht. »Ich verstehe dich.«, sagt er und verabschiedet sich nach einem kurzen, stockenden Gespräch von M., vielleicht zum aller letzten Mal. Vor nicht allzu langer Zeit sorgte er sich noch um ihre Freundschaft, da sie sich kaum noch Aufmerksamkeit zu schenken vermochten und nun ist alles hin. Womöglich wird er ihn nie wieder sehen, womöglich wird er nicht einmal mehr seine Stimme vernehmen.
M. sagte, er wolle nach Thailand gehen. Die Schweiz langweile ihn. Er habe einfach keine Lust mehr auf dieses System, diese graue, geistlose Gesellschaft. Sein Dasein in dieser Welt würde ihn nicht mehr befriedigen. Er müsse etwas tun, etwas Grundlegendes, das ihm wieder Lebensfreude einflösse. Das war der Teil den er verstand, doch was er nicht begreifen konnte, war, dass M. ihrer Kameradschaft entsagen wollte. Aber das hat er ihm natürlich nicht gesagt; er wollte nicht, dass er mit Schuldgefühlen in einen neuen Abschnitt seines Lebens zieht.

Das ist sie also, die Hoffnung, die Idee für die Zukunft, auch wenn sie sich nun nicht mehr in ihrer Vollkommenheit ausführen lässt. M. ist nicht mehr Teil dieses Plans, nur noch er, er selbst. Somit ist er also wieder alleine und der triste Schleier seiner Vergangenheit liegt nun schwerer denn je auf ihm. Es wird Zeit, dass er sein Übel akzeptiert. Es wird Zeit, dass er das Leben als ewig einsamer Mensch hinnimmt.


Zehn


Wie im Fluge vergeht das Jahr und da beginnt der nächste Herbst. Der Himmel ist verborgen hinter dem dichten Nebel und dessen fahlem Hellgrau. Auf den nassen Strassen liegen leblos die eingeweichten und herbstfarbenen Blätter. Es ist kalt und trostlos. Schwacher Regen fällt und dringt durch sein Haar. Er steht draußen in einem Park und lehnt sich über das Geländer, vor dem sich die ganze Stadt Basel erstreckt. Stumm blickt er darüber hinweg und fragt sich, was er hier eigentlich tut. Was hat er hier überhaupt zu suchen, bei diesem Wetter und so alleine? So vieles hat sich verändert, nur dieser Umstand ist beständig geblieben. Ihm scheint, die Einsamkeit wird ihn bis ans Ende seiner Tage verfolgen. Aber er hat sich ja damit abgefunden! Es macht ihm nichts mehr aus! Was soll er den noch lange jammern, wenn es ihm nichts nützt?
Sein Nachdenken wird plötzlich vom Tappen zweier Stöckelschuhe unterbrochen. Nicht aus Verwunderung oder Interesse, mehr aus Reflex blickt er in ihre Richtung; es ist eine Frau um die Dreißig. Sie trägt einen halblangen, schwarzen Mantel, unter dem ihre schlanken, langen Beine, die in weißen Strümpfen stecken, hervorkommen. In ihrer rechten Hand hält sie einen Schirm, der den Regen davon abhält, ihr schimmerndes, schwarzes Haar zu berühren. Als er ihr nachschaut, regt sich etwas in ihm, eine Sehnsucht, ein Verlangen, etwas dass ihn lüstern macht. Er erinnert sich nicht mehr an sein letztes Mal. Er weiß nur noch, dass er das Mädchen nicht gekannt und dass er sie seither nie wieder gesehen hat. Jetzt erst bemerkt er, wie sehr er die körperliche Liebe doch eigentlich vermisst. Doch auch nach Gesellschaft verlangt etwas in seinem Innersten.
Es ist lange her, seit er sich unter anderen Menschen wohl gefühlt hat. Er ist dieser Welt fremd geworden. Manchmal scheint es ihm, als verfolge man ihn, als wäre er immer auf der Flucht. Nichts kann ihm noch gefallen. Alles hat sich grau verfärbt in seiner Umgebung. Wo er auch hingeht, überall Melancholie, überall verschlossenes Denken. In seinem Kopf schwirren böse, abtrünnige Gedanken, die ihn hassen und verachten machen. Niemanden getraut er anzusprechen, denn sind sie doch seine Feinde, die Teufel, welche in unglücklich machen! Lieber sucht er Zuflucht in den Büchern. Sie lenken ihn ab, geben ihm Antwort auf das Warum und Wieso. Nur mit ihnen kann er sein.
Und deshalb steht er alleine hier in diesem Regen, draußen in der Kälte eines weiteren tristen Herbstes seiner Existenz. Alles was er jemals wollte, hat er nun erreicht: er hat ein Hochbauzeichnerdiplom und wohnt in Basel, weit weg von seinem Heimatort, der ihm längst überdrüssig geworden ist.
Er hat eine kleine Wohnung inmitten der Altstadt, in einem älteren Gebäude, im zweiten Stockwerk. Die Fenster hat er mit dunkelfarbenen Vorhängen verdeckt, so, dass nur dämmriges, dumpfes Licht die engen Räume beleuchtet. Auf den Tischen und in den hölzernen Regalen liegen unzählige Bücher ungeordnet und unaufgeräumt herum, vergilben langsam und ziehen den Staub an. Selbst der Boden ist gepflastert mit Büchern, mit verschriebenem Papier, mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und anderen literarischen Schriftstücken. Es ist ein stilles, schweigendes Chaos voller Worte und Rede. Dies ist nun seine Welt, sein Königreich, der isolierte Planet, ein Gemach in einer anderen Dimension. Dort ist er zuhause, dort gehört er hin.
Aber es macht ihn nicht zufrieden. Es gibt ihm nicht, was er braucht und das weiß er. Er will das nicht mehr. Er möchte wieder lachen können. Noch ist er sich nicht darüber im Klaren wie, doch wird er sich dieser Problematik stellen. Vielleicht wird sich seine Einstellung gegenüber der Gesellschaft niemals ändern. Vielleicht kann er sein Ich nicht mehr umstellen, doch wird er einen Weg finden, mit sich selbst und den anderen ein Leben in Solidarität zu führen. Er will das verlorene Glück zurückgewinnen; die vergangenen sechs Jahre hat er mit Düsterkeit und Gram umgebracht. Jetzt möchte er versuchen, das Kommende leben zu lassen.

 

Hi Clyan,

ich habe mich mal deiner erbarmt und gebe dir eine Rückmeldung auf deine Geschichte. Außerdem habe ich gerade sowieso nichts vor...
Textkram spare ich mir, den willst du ja sowieso nicht.
Also, ich habe die Geschichte vor einem oder zwei Tagen gelesen, in einem Rutsch am Schirm, sie lässt sich gut lesen. Nur fällt es mir schwer, eine richtige Meinung dazu zu haben, weil ich die ganze Zeit das Bedürfnis habe, deinem Prot in den Hintern zu treten, damit er sich aufrafft. Mag sein, dass er "das Leben ist schön" nicht hören wollen würde, aber so ist es - von daher habe ich wenig Zugang zu deinem Text. Die Gefühlswelt deines Prots wird gut deutlich, was ich bei der Länge des Textes aber auch erwartet habe. Ich bin sicher, wäre ich drei oder vier Jahre jünger gewesen, hätte ich ihn sofort unterschrieben ;)
Arbeiten würde ich an deiner Stelle (abgesehen von einigen holprigen Formulierungen und dem, was ich normalerweise "Textzeugs" nenne) an der Länge des Textes. Ich denke mal, dass sie abschreckend auf potentielle Leser wirkt, und deine Fan-Gemeinde ist nicht so groß, als dass du dir so etwas leisten kannst.
Also Fazit: Der Text charakterisiert den Protagonisten sehr gut, aber wen dieser Protagonist nicht interessiert, der wird ihn nicht lesen. Wirkliche gesellschaftliche Probleme sehe ich in ihm auch eigentlich nicht angesprochen - die Perspektivlosikeit der Jugend? Dein Prot hat nur das Problem, dass ihm das Leben nicht gefällt, so, wie er es lebt.

ich denke, dass die Geschichte hier in Gesellschaft vielleicht ein wenig deplaziert ist. Immerhin beschreibt sie weniger gesellschaftliche als vielmehr alltägliche Probleme...

gruß
vita
:bounce:

 

hallo vita

zuerst einmal: danke sehr, dafür dass du dich meiner erbarmt hast (wie du es formuliertest und was wohl auch in Ungefähr zutreffen dürfte).

den "Textkram" hätte ich ehrlichgesagt gerne gehört (aber ich kann aufgrund unserer bisherigen Beziehung gut verstehen, dass du denkt, ich wollte ihn nicht hören). Andererseits stelle ich mir lieber vor, du hattest einfach keine Lust dazu, "Textkram" zu berücksichtigen (wenn man die Länge dieser Kg in Betracht zieht).
Ich muss dir leider sagen, dass es mir etwas schwer fällt, deine Argumentation dafür, dass du keine Meinung zu diesem Text hast, nachzuvollziehen. Ob du dem Prot gerne in den Hintern treten möchtest, das sei dahingestellt und hat ziemlich offensichtlich auch nichts mit "Meinung" zu tun. Diese kann man sich nämlich auch mit derartigen Gefühlen bilden. (ausserdem frage ich mich, ob ein Tritt in den Hintern wirklich geholfen hätte!?) (der Typ is eben down und da ich viele solcher Leute kenne, kann ich dir versichern, dass sie nur selbst und mit viel mühe wieder aus diesem Loch krichen können)
Natürlich kann ich nicht bestreiten, dass die Welt schön ist, aber man kann auch nicht bestreiten, dass sie ebenso traurig sein kann. Für manche Menschen gilt ersteres, für andere zweiteres.

Du meintest, da gäbe es noch holprige Formulierungen. Ich glaube dir. Aber welche? (denn da ich ja die Geschichte geschrieben habe, kann ich sie nicht mit fremden Augen lesen, was dazu führt, dass ich nichts falsches entdecken würde) (andererseits bin ich momentan nicht scharf drauf, die Fehler zu korrigieren oder Sätze anders zu formulieren *g*).
Auch mit der Äusserung, dass ich keine besonders grosse Fan-Gemeinde hier habe, hast du natürlich recht (was wohl daran liegt, dass meine Kgs nicht unbedingt gut sind) (schockierenderweise verlangt er mir aber auch gar nicht nach einer Fan-Gemeinde!?).
Die Länge des Textes ist abschreckend, ja, aber ich wüsste nicht im geringsten, wie ich diese Geschichte hätte kürzer schreiben wollen, denn ich habe ja versucht, sie so klein wie möglich zu halten. (und überhaupt lässt sich diese Geschichte nicht kleiner beschreiben) (höchstens unter gewissen Umständen, die im Endeffekt eine völlig andere Geschichte hervorbringen würden) Meine Philosophie ist: Eine Geschichte ist so wie sie ist. Sie kann nicht anders sein, denn dann wäre es nicht mehr diese eine Geschichte.

Freut mich, dass du sagst, die Gefühlswelt des Prots ist gut nachvollziehbar. (auch wenn es sehr negativ klingt, wenn du noch anfügst, dass du das bei der Weitscheifigkeit des Textes erwartet hast/"musstest?")

Bei der Auswahl der Rubriken hatte ich noch nie ein kluges Händchen - das muss ich zugeben, aber "alltäglich"?... na ja, da kann ich auch nicht zu 100% zustimmen.

nochmals vielen Dank, vita,
gruss,
Clyan

 

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