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Vom Vergessen
Vom Vergessen
Irgendwie war ihm grün zumute. So verließ er das Zimmer, um dieser nicht zu beschreibenden Begierde nachzugeben. Langsam bewegte er sich den Flur entlang, den kalten, langen Flur mit dem olivefarbenen Streifen auf halber Höhe der Wand. Bei der Treppe angelangt, verharrte er einen Augenblick.
„Nein“, ermutigte er sich selbst, „dieses Mal kehrst du nicht um, dieses mal setzt du dich nicht auf die oberste Stufe. Nein, heute nicht!“
Was gäbe es von hier Neues zu entdecken. Wie oft hatte er hier gehockt, die zwölf Stufen gezählt, die in einem leichten Rechtsbogen hinunter zur Eingangshalle führten, und die er nie gewagt hatte zu betreten. Der messingglänzende Handlauf ruhte nach wie vor auf dem filigranen Geländer, dessen künstliche Patina an vielen Stellen abgeblättert war. So Vielen hatte es Halt gegeben. Jetzt würde es ihn stützen.
Bedächtig, Stufe für Stufe, kam er der Halle näher, ohne den Blick von seinen Füßen und der nächst folgenden Stufe zu wenden. Tief atmete er ein und aus, als er den Mosaiksteinboden betrat und sich seine Hand vom Geländer löste. Jeglicher Zweifel war verflogen, lange nicht gefühlte Euphorie stieg in ihm auf. Schritt für Schritt näherte er sich dem Ausgang, dem Portal. Die eine Hälfte stand nach innen offen und gab den Blick frei auf die kopfsteingepflasterte Auffahrt. Er hörte die Frage nach seinem Wohlbefinden, die Floskel, bei jedem Vorübergehen in interesseheischendem Singsang vorgetragen. Gerne würde er das verdutztes Gesicht sehen, würde er denn die Frage beantworten, mit ‚schlecht’.
Doch, nur nicht auffallen, da draußen wartete etwas auf ihn.
Stark, ohne Straucheln, meisterte er das feucht glitschige Pflaster und bog in den Gehweg ein, an dessen Ende die ihn begleitende Mauer mit einem Kreuz in einer Nische versehen war. Dort endete ihre entmündigende Führsorge, die bezahlte Aufmerksamkeit. Dort würde er verantwortlich sein, er allein, er allein für sich.
Den Stock, den er locker täuschend unter dem Arm getragen hatte half, nun unbeobachtet, seinen entkräfteten Körper zu stützen. Er durchbrach den Kreis des Beherrschtseins, und nach wenigen, weiteren Metern machte er Rast, für Minuten benommen von der ungewohnten Anstrengung.
Die Plastikbank war gelb und kalt, mit Sprühlack schwarz beschmiert. Am grauen Mast, schräg ab ein Aufleuchten. Rot, gelb und grün in kurzem, periodischem Wechsel. Das Grün zu kurz, nicht wirklich warm, Gefühle zu erinnern.
Zurück? – Nein!
Sein Weg führte ihn weiter in das Zentrum des Städtchens, in dem er aufgewachsen war, das er nie verlassen hatte. Doch seine Erinnerung konnte nichts mit dem verbinden, was er sah. Das Klingen aus dem Glockenturm ließ die Mauern der Kirche verschwimmen, machten sie transparent. Sie lösten sich vollends auf und gaben den Blick frei auf das Haus dahinter, auf sein Haus, auf das seiner Kinder und Enkel. Was die wohl machten?
Ein gnädiges, schrilles Hupen verwischte die Bilder. Eine führende Hand geleitete ihn von der Mitte der Straße zur sicheren Seite. Er fühlte Müdigkeit. Schlurfend tastete er über schwarzblaue Pflastersteine, den Blick nach unten gerichtet. Das Leben hatte seinen Rücken gebeugt. Über den Rand seiner Hornbrille blickte er nach oben.
Ein leuchtendes Blau lockte, lud ein. Die gläserne Tür öffnete sich automatisch und leise. Viel totes Grün, hundertfach in den Regalen. Nach langem Suchen dann, das folienglänzende, grüne Päckchen, das musste es sein.
Endlich wieder draußen, stopfte er es verschämt in den grünen Papierkorb am Laternenpfahl, hatte er sich das Rauchen doch schon vor Jahrzehnten abgewöhnt.
Nur wenige Meter entfernte ein Blumenkübel und eine Sitzbank. Ein lohnendes Ziel; es versprach Erholung.
Nein, er hatte sich nicht überschätzt. Raus hatte er gewollt, raus aus dem aufgezwungenen zu Hause, die langsam verblassenden Bilder in sich aufzufrischen. Der Weg war ein schwerer Weg gewesen, und er dachte an die, die er liebte. Es wurde dunkel, und nun, nach vielen Jahren zum ersten Mal, lächelte er wieder: „Ihr tragt keine Schuld, meine Lieben, vom Vergessen weiß nur der Vergessene."