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Von der Vergeblichkeit von Träumen und ihrer gleichzeitigen Notwendigkeit

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02.11.2001
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Von der Vergeblichkeit von Träumen und ihrer gleichzeitigen Notwendigkeit

Sie sitzt an der Bar, raucht, verschmierte Lippen, die Fingernägel gelb vom Nikotin, schwere See im Bauch. Ein krankes Tier. Wirres Haar in der Stirn. Sonne war darin, ist nicht geblieben. Schwarzer Glanz, der nicht glänzen wollte. Untergegangen. Die Liebe oder was war das sonst gewesen? Aus. Ende. Ganz schnell an einem kurzen Abend. Ihr Blick schweift nirgendwo hin, hängt sich selbst zum Hals heraus. Alles ist ihr unerträglich. Sie selbst sich am allermeisten. Das Sein, das Warten, die zerrissenen Strümpfe, der Schmerz, der durch ihr Herz rast. Der Schmetterling mit den Seidenflügeln ist verglüht.

Vergeblichkeit:

Das Gespräch war außer Kontrolle geraten. Danach war erst recht nichts mehr wie vorher. Vorher: Liebe mich, hatte sie geflüstert. Egal wo. Aber jetzt gleich. Ja?

Ja, ist ja gut, ja.

Er bekam den Geschmack von Asche nicht aus seinem Mund. Es half nichts. Sie wartete. Er schlug ihr die Unterhose ins Gesicht, warf sie aufs Bett, nahm sie, schob sie über die Kante, den Teppichboden entlang, gegen den Türrahmen, gegen die Fliesen, gegen das Porzellan des Waschbeckens.

Er schob sie durch sein Leben, um nicht ganz alleine zu sein.

Instinktive Bedrohung. Drohende Einsamkeit.

Das eine spürte er, vor dem anderen hatte er Angst. Wenn er in ihre Düsternis eindrang, war die Angst weggeschoben.

Tiefer, bettelte sie.

Immer tiefer in die Sackgasse, in die verkrüppelte Allee aus Ursache, Wirkung, Gnade und Zwang. Wie lange? Noch einmal: Sein Leben lang. Was für ein Leben? Er meinte, keines zu haben, nie eines gewollt zu haben. Also: Gegen sein Leben, das ihm Hindernis war, bedeutungslos. Für das er sich nicht verantwortlich fühlte, das ihn nichts anging, das er wie eine Maschine betrieb, aber nicht liebte. Sein Maschinenleben im neonbeleuchteten Untergeschoss. Er, der Roboter, der ihr seine Stahlrute ins Fenster stellte. Trug er das Kleinhirn wirklich im Hodensack spazieren?

Sackgasse?

Nicht daran denken, was nach dem Waschraum kam und nach Frau roch. Oder was wäre, wenn es den Feierabend nicht gäbe, die Luft, die nach Akazien duftete, die Sterne, die CD von Neil oder Jimmy oder Frank im Player seines Wagens. Die Jungs von früher mit ihren Gitarren. Das war der Grashalm, an den er sich klammerte. Sie jedoch war sein Berg, auf dessen Hängen er sich empor rappelte und dabei spürte, dass er letztendlich scheitern würde.

Sie mit ihren Ideen. Eine ihrer Ideen war er. Sie schrieb ihn als Idee nieder, verflocht ihn mit ihren Geschichten, machte ihn darin zur allein gültigen Aussage. Er wusste nicht, woher er die Kraft nahm aufzustehen, weiterzumachen. Er wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, bei ihm zu sein und ihn noch dazu zu mögen. So zu mögen. Zu lieben? Sie war schnell mit Worten. Ja, vielleicht Liebe. Vielleicht auch das.

Sie hatte einen Schmetterling gebastelt. Aus Draht und violetter Seide. Auf die Flügel hatte sie mit Goldfarbe Tupfen gemalt. Er hatte den Schmetterling neben dem Guckloch von Ofen Drei befestigt. Manchmal sah es aus, als ob das Seidentier leben würde, kurz vor dem Abheben war. Der Schmetterling hatte Seele. Die Vibration des Ofens während der Aufheizphase brachte Leben in die Flügel. Das letzte Zeichen einer davon flatternden Seele. Wie schmerzlos Abschied inmitten des Maschinengedröhnes sein konnte. Dann sein Haken auf der Namensliste. Das unglaubliche Frieren des Herzens begann nach der Verabschiedung. Schwarz gekleidete Menschen stiegen in ihre Wägen und fuhren mit verheulten Augen ins Leben zurück. Er blieb und brachte es tatsächlich zu Ende. In den Öfen herrschte Eiseskälte bei über tausend Graden. Särge zerfielen und Brustkörbe platzten wie Tomaten auf. Es blieb die Mechanik der Maschinen. Oft auch Metallschrott, den sie aus der Asche kratzten.

Er wusste, dass es bessere Plätze für selbst gebastelte Schmetterlinge gab. Nur: Er hatte keinen anderen gefunden. Keinen, an dem er ihm näher sein konnte, während er arbeitete. Pia wusste von seiner Arbeit. Sie meinte aber, keinen anderen Mann zu finden, dessen Nähe sie so sehr mochte wie die seine. Es war zu exotisch geworden, zu pervers, als sich selbst darüber zu bedauern.

Wenn er sprach, konnte sie so etwas wie Hass in seinen Worten spüren. Es war nicht für sie gedacht. Sie wusste es. Es war etwas anderes. Sie überhörte es einfach. Sie wusste ja, wen sie wie mit ihrer Liebe hielt. Er wusste nicht einmal, dass es so etwas gab, meinte sie außerdem zu wissen.

Es gibt Besseres als dich, sagte er, als er heftig atmend von ihr ließ. Nicht im Bett, aber draußen vor der Tür. Es gibt Ehrlicheres. Maschinen zum Beispiel. Du verdienst die Welt, wie sie ist. Es ist nichts los mit dir und der Welt, in der du herumkriechst. Manchmal kommst du mir vor wie....Wenn du Emotionen hast, sind es versaute. Ich kann dich leiden, Pia. Aber ich.... Du liebst mich, weil du die Asche riechen willst. Wie ich dich satt habe.

Er klatschte ihr die flache Hand auf die Arschbacke.

Du tust mir weh, sagte sie.

Er starrte zur Decke. Er wusste, dass ihr seine Schläge gefielen. Das auch.

Wie erregend muss für sie ihr Ekel vor mir sein, dachte er.

Was, wenn ich aufstehe und gehe?

Pia schrieb Kurzromane.

Manche meinten, dass sie noch länger auf den Durchbruch würde warten müssen. Sie allerdings fand sich gut, so wie sie Tom gut fand. Sie hatte ihn nie gefragt, was er davon hielt. Sie beobachtete seine Stille, ließ ihn in ihren Texten zu Wort kommen, weil er für sich selbst nur wenige Worte zuließ. Dafür, dass er ein Mann war, hörte sie ihm zu, wenn er schwieg. Von seiner Aufrichtigkeit wusste sie. Seine Aufrichtigkeit und seine Stille hatten sie zu ihm gebracht. Er brauchte über nichts zu sprechen. Sie liebte ihn so sehr, dass sie das Durchbrechen seiner Stille als unaufrichtig empfunden hätte. Sie beließ es dabei. Wenn er schlief, hatte er die Augen eines Wolfs. Wenn er lachte, hatte er die Augen eines glücklichen Wolfs.

Das reichte ihr, denn sie war anspruchslos, was die Art von Stille betraf.

Sie beschrieb ihn ohne zu urteilen. Er war ihr Protagonist. Sie meinte, in ihrem Wahn alles zu wissen und hätte sich die Seele aus dem Leib geschrieen, ihn zu halten. Ihre Schreibwelt war die, in der sie herumkroch. Die, in der sie ihn gefunden zu haben glaubte. In der sie vermeinte, ihn halten zu können.

Der Schmetterling war Teil ihrer Doppelmoral.

Notwendigkeit:

Als das Tief Jennifer Mitteleuropa mit Kälte überzog, hatte Tom die siebzehnte und letzte Kremation an diesem Tag zu machen. Draußen fuhren Straßenbahnen knapp aneinander vorbei. Die Wirtshäuser versprachen Wärme. Man betrank sich schon früh, hing an den Tresen, verlor sich im Dunst stickiger, dunkler Nischen. Der Westwind graste mit heftigen Böen das Wolkenfeld ab, wischte den Leuten die Hüte von den Köpfen, zog an grauen Bärten, riss Seelen entzwei. In der Stadt war es nie anders gewesen. Der Kontrast von hell und dunkel spielte mit den Gassen, den Kirchtürmen, den Fernsehantennen, den Gesichtern von Frauen und Männern. Es wurde geboren, geliebt, gehasst und gestorben. Manche landeten bei Tom. Manche kamen in Teilen. Manche machten auch da noch Schwierigkeiten. Im Untergeschoss war es unerträglich heiß. Die Öfen dröhnten. Sie waren über der Zeit.

Die Woche zog sich in die Länge. Heute hatten sie zwei Defekte an der Aschenmühle zu beheben gehabt. Ein Titanteil war aus einem Kniegelenk gebrochen und hatte dabei die Rüttelmechanik blockiert. Sie schufteten fast eine Stunde, um den Metallsplitter herauszubekommen. Dann lagen die Walzen endlich frei. Es hatte Tage gegeben, an denen sie mit Stabmagneten ganze Hüftgelenke herausholten. Tage, an denen nichts mehr ging, die Öfen abgedreht werden mussten und der Wartungstrupp mit Spezialwerkzeug anrückte. Die Angaben der Spitäler waren oft ungenau. Von den Anatomien kam mehr, als erlaubt war. Sie ließen die Kisten geschlossen und hofften, dass im Ofen alles gut ging.

Pia wusste vom Untergeschoss, von den Öfen, den Namenslisten, die davor hingen.

Feierabend. Eine Wohnung im vierten Stock.

Ich gehe, Pia.

Sie starrte ihn an. Was ist los, Tom? Tom, ich….

Lass es gut sein, Pia. Es ist nicht Liebe.

Pia begann hysterisch zu werden, schlug Tom ins Gesicht.

Das geht so nicht, schrie sie. So nicht...

Tom hielt sie bei den Handgelenken, redete auf sie ein, versuchte sie zu beruhigen.

Es reicht, Pia. Ich möchte nicht mehr.

Pia riss sich los, verschwand in der Küche, kam nach Sekunden zurück, stellte sich vor Tom, stieß das Messer in Toms Bauch und drehte dabei den Griff hin und her. Für Pia war das notwendig geworden. Pia, die Träumerin. Toms Augen waren groß, fast schwarz, erstaunt über Pias Tränen. Dann sank er auf den Teppich, griff mit seinen Händen in feuchte Darmschlingen, die aus dem Bauch hingen. Das sah er aber nicht, weil er Pias Tränen anstarrte. Ein Ozean ergoss sich über Pias Gesicht. Tom spürte nichts, versuchte zu verstehen, warum Pia weinte. Warum weinst du, Pia, wollte er fragen. Es waren Zischlaute, die er hervorbrachte. Es wurde mühsam. Er merkte, dass es jetzt begann und zu Ende ging. Er versuchte, sich mit der rechten Hand aufzustützen, glitt in der Blutlache aus, fiel vornüber, das Gesicht unablässig zu Pia gewandt.

Pia war weggelaufen.

Auch alleine gelassen hatte Tom nicht die geringste Mühe mit dem Tod. Er hatte sich nichts darunter vorstellen können, weil Gucklöcher nur eingeschränkte Blickwinkel zuließen. Aber es schien ihm, als ob er das nicht zum ersten Mal erleben würde. Das letzte Zittern seines Herzens glich dem Zittern seidener Schmetterlingsflügel. Wenn es tatsächlich ein romantisches Sterben gab, dann hatte es Tom. Wenn Tom nicht hätte fortgehen wollen, wäre Pia mit ihrem Protagonisten noch im Bett. Die Sache mit Pia und Tom wäre fürs Erste einfacher geblieben, doch danach in all ihrer bleiernen Schwere noch erdrückender geworden.

Sie sitzt an der Bar, raucht, verschmierte Lippen, die Fingernägel gelb vom Nikotin, schwere See im Bauch. Ein krankes Tier. Wirres Haar in der Stirn. Sonne war darin, ist nicht geblieben. Schwarzer Glanz, der nicht glänzen wollte. Untergegangen. Die Liebe oder was war das sonst gewesen? Aus. Ende. Ganz schnell an einem kurzen Abend. Ihr Blick schweift nirgendwo hin, hängt sich selbst zum Hals heraus. Alles ist ihr unerträglich. Sie selbst sich am allermeisten. Das Sein, das Warten, die zerrissenen Strümpfe, der Schmerz, der durch ihr Herz rast. Wenn sie mich holen, werde ich nicht davonlaufen. Einer Geschichte läuft man nicht davon.

Kennst du die Geschichte von Tom und Pia, fragt Pia den Wirt.

Ist es eine schöne, antwortet der.

Pia beginnt zu erzählen:

Die glutrote Sonne hat sich verschämt hinter den Bergen auf und davongemacht. Die Welt ist voll von Abenteuern. Zu all denen will die Sonne. Die Welt ist meistens hässlich, meistens schmutzig. Es ist nichts los mit ihr. Macht ist das Zauberwort. Die Liebe, die in den Warenkörben liegt, wird irgendwann gekauft werden. Asche schmeckt süß. Der Schmetterling mit den Seidenflügeln wollte abheben und ist dabei verglüht.

Wer bastelt den nächsten?

 

hallo Aqua!

Schön, wieder von Dir zu lesen!

Du ziehst einen durch die Beschreibungen in den Bann, allein das Eingangsbild macht neugierig, lässt einen weiterlesen.
Sehr gelungener, schwarzer Text wiedermal. Wie Du die Beziehung bzw das, was für sie als Beziehung funktioniert oder auch nciht funktioniert beschreibst ist große Klasse. Hass, Liebe, Bedürfnis, Ekel, alles dabei. Und sobald Tom davon ausbrechen will, kommt es zum Zusammenbruch. Ich hätte mich gewundert, wäre es anders ausgegangen.
Diese Einwürfe: Notwendigkeit/Vergeblichkeit haben mich stuzen lassen. Das kommt ihm Test selbst raus, also Überschrift in dem Sinn hat es mich allerdings fast aus dem Lesefluss gerissen.
Klasse Aqua. Hoffentlich bald wieder mehr von DIr.

Lieber Gruß
Anne

 

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