Vorstellungen
Er kam aus seiner vereinsamten Wohnung und lief rastlos hastend dem Bus hinterher. Sein frisch gebügeltes, weißes Hemd triefte bereits und er war so außer Atem, dass der Zusammenbruch nicht mehr weit war. „Früher war es um dich besser bestellt“, dachte er, während er wild winkend zum finalen Sprint zur nächsten Haltestelle ansetzte. Dieses Mal würde der Bus ihm nicht wegfahren. Er erreichte keuchend die geöffnete Tür des Busses und schwang sich mit letzter Kraft hinein. Ermattet schlurfte er den Gang entlang und ließ sich auf einen der wenigen freien Plätze fallen. Den Bus hatte er erreicht, ob er es rechtzeitig schaffen konnte, wusste er nicht. Die Panik kroch in ihm hoch.
Die Personalchefin fauchte ihre Sekretärin an. „Was ist das für eine Plörre? Brot kann schimmeln, was können sie? Wenn selbst Kaffee kochen sie überfordert?“. „Wenn die nicht im Personalrat wäre, wär die längst weg!“, dachte sie bei sich und schlug die Tür zu. Was für ein mieser Tag. Es war schon morgens brütend heiß gewesen und in ihrem Büro waren die mickrigen Pflanzen genauso dehydriert, wie sie sich fühlte. Ihr Mann hatte die Dinge, die sie ihm am Wochenende extra auf eine Liste geschrieben hatte, damit er nichts vergaß, zu genau null Prozent erledigt und sie hatten sich, wie immer in letzter Zeit, heftigst gestritten. Gott, wie leid sie das war. Und dann auch noch der Job, ein Vorstellungsgespräch nach dem anderen den ganzen Tag lang. Ihre Laune hätte kaum mieser sein können.
Gähnend langsam bewegte sich der Bus in Richtung Innenstadt. „Warum hält der eigentlich überall, auch wenn da gar keiner steht?“, dachte er und ärgerte sich maßlos über die Fahrerin. In seinen Augen gehörten Frauen nicht ans Steuer, schon gar nicht an das eines Busses. Aber so war die Welt nun einmal geworden. Er schaute auf die Uhr und rutschte unruhig auf seinem unbequemen Sitz hin und her. Plötzlich blieb er am Sitz hängen und bemerkte das nächste Desaster. Das frische Kaugummi, das nun auf seiner Hose klebte, gab ihm den Rest. Der Bus hielt vor dem Hochhaus, in das er wollte, 10.01 Uhr, er war eine Minute zu spät.
Sie schaute auf die Uhr. „Was fiel dem Kerl eigentlich ein, sie hier jetzt auch noch warten zu lassen?“ Sie hatte üble Lust, ihrer Sekretärin zu sagen, sie solle ihn gleich wegschicken, aber sie suchten dringend geeignetes Personal und seine Daten und Referenzen sahen zumindest akzeptabel aus. Ein Bild hatte er nicht mitgeschickt, das war anscheinend so in Mode, um Aufmerksamkeit zu generieren. Früher wäre das gar nicht gegangen. Nervös knibbelte sie an ihren frisch manikürten Nägeln herum, eine Eigenschaft, die sie selbst bei anderen verabscheute. „Mach jetzt hin oder ich vergesse mich!“, schrie sie innerlich, als es endlich klopfte.
„Herein!“, hörte er schweißgebadet und völlig abgekämpft eine genervt klingende Frauenstimme rufen. Auch das noch…so eine verkrustete Emanze, die sich einbildet, ihm als Mann Kompetenzen absprechen zu können. Schlimmer hätte es nicht kommen können und jetzt war er auch noch zu spät. Am liebsten wäre er im Bett geblieben.
„Herein“, hörte sie sich selbst sagen und war stolz auf sich, dass sie ihren Grad der Genervtheit komplett in die Stimme gelegt hatte. Der Kerl wird was erleben.
Er öffnete die Tür und sie verloren ihr Herz für immer in den Augen des anderen.