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Warum?

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02.05.2003
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Warum?

Warum leben Menschen? Warum laufen sie auf dieser Erde herum, so frei und unbedarft als hätten sie nichts, was ihnen Sorgen bereitet, so als sei alles in bester Ordnung, obwohl sie doch tief in sich drin ahnen, dass nichts in Ordnung ist?
Er stellte sich diese Fragen. Schon immer. Hatte damit angefangen, als er noch ganz klein gewesen war und hatte nie damit aufgehört.
Er liebte diese Fragen, so sehr und innig, dass ihn manche als verrückt abtaten und ihm vorwarfen, er lebe nicht in dieser Welt, sondern in einer, weit weg von hier, einer Welt, in der Wirklichkeit und Realität sich die Hände geben und Wahrheit und Lüge ineinander verschmelzen. Das war jedoch Unfug. Er war nicht verrückt, nicht im klassischen Sinne zumindest, so sagte er sich selbst immer wieder.
Er war schon immer gehänselt worden. Hatte sich nie gut mit den Kindern aus seiner Kindergartengruppe oder seiner Klasse verstanden. Vielleicht weil sie ihn nicht verstanden, vielleicht weil er sie nicht verstand, vielleicht beides. Er wusste es nicht und er wollte es auch nicht wissen. Damals, als sie ihn in die Mitte des Klassenzimmers gestellt hatten und alle Finger auf ihn gerichtet waren, da waren die Gedanken zum ersten Mal aufgetaucht. Da waren sie zum ersten Mal in seinen kleinen Kopf geschlüpft und hatten sachte und leise an die Tür seines Verstandes geklopft. Er hatte sie damals nicht gemocht, sie waren ihm aufdringlich erschienen. Mit der Zeit jedoch, fing er an, sich an sie zu gewöhnen. Er befasste sich mit ihnen, durchforschte seinen eigenen Kopf und kam nicht selten zu gar erstaunlichen Ergebnissen. Wie sehr er sich doch als kleines Kind selbst missverstanden hatte! All das erschien ihm heute unglaublich lächerlich und nicht der Rede wert. Allerdings war es in seinem Kopf und dort saß es bis zu seinem Ende. Seinem bitteren Ende.
Warum lebten sie?

Er schüttelte ihr die Hand und zeigte ihr die Scheine.
„Ist das genug?“
Sie lächelte charmant, jedoch gekünstelt, wie er sofort feststellte und zog ihn zu sich heran.
„Das wird reichen, denke ich, Liebling.“
Sie legte ihre Arme auf seine Schultern und begann sich an ihm zu reiben. Sanft küsste sie sein Gesicht und ließ ihre Finger gekonnt nach unten gleiten.
Sie hatte das schon oft gemacht, das wusste er. Er konnte sich geradezu vorstellen, wie sie einem anderen vor einer Stunde die Scheine aus der Hand gerissen hatte und ihn genauso bearbeitet hatte wie ihn selbst nun. Warum?
Er ließ sich darauf ein, erwiderte ihr Küssen und genoss es hörbar, als sie sich an seinem Gürtel zu schaffen machte.

Eine gute Stunde später zog er sich denselben Gürtel durch die Laschen und blickte ihr dabei nichtssagend in die Augen.
„Sehe ich dich nächste Woche wieder?“
„Wann immer du willst, Liebling.“ Es hörte sich abwesend an, so als sei sie mit etwas ganz anderem beschäftigt. Nichts war mehr in ihrer Stimme von dem Verführerischen, das vorher noch da gewesen war. Sie waren nur noch Geschäftspartner, die einen Deal geschlossen hatten, der nun ausgeführt worden war. Sie war schon längst wieder angezogen, wenn man es denn so nennen konnte und auch die obligatorische Zigarette steckte in ihrem Mund.
Er reichte ihr die Scheine und küsste sie auf die Stirn. Sie ließ es widerwillig geschehen.
Dann drehte er sich um und war weg.

Die Straße war leer heute nacht. Die wenigen Penner, die sich in den Hausecken verkrochen hatten, bemerkte er gar nicht und auch ihre Kolleginnen, die ihn bezirzten, waren für ihn weit weg.
Irgendwo da draußen waren sie alle. Irgendwo da, wo seine Gedanken ihn hinführten, wenn er es zuließ. Von dort flüsterten sie ihm zu, schrieen sie ihre Parolen, die sie immer schrieen und flüsterten, wenn sie es wollten. Er hasste dieses Schreien und Flüstern, aber was sollte er tun? Sich selbst konnte man nicht bekämpfen.
Er hatte es versucht, viel zu oft versucht und hatte doch nie etwas erreicht. Niemand wusste, wie es war. Wie es war, ein Gefangener zu sein. Die Gedanken nicht aufhalten zu können, nicht mehr zu wissen, wer man war, was man tat. Die Finger waren auf ihn gerichtet und sahen ihn aus grässlichen Fratzen an. Sie zeigten ihn an, sie beschuldigten ihn. Er hatte doch nichts getan, was wollten sie denn von ihm? War er denn anders? War er denn nicht wie alle anderen auch? Er lebte, so wie alle, so wie die anderen. Warum lebte er? Sie wussten es, sie wussten immer alles. Schrieen es ihm zu, wenn sie es wollten oder flüsterten, wenn er nicht hinhören wollte. Weit weg waren sie, diese Gedanken, diese Finger, die auf ihn zeigten und ihm klarmachten, wie dumm und verrückt er doch war.
Er zitterte vor Kälte und blickte zurück zu ihrem Haus. Warum taten sie so etwas? Warum mussten sie ihn verachten, ihn auslachen, mit dem Finger auf ihn zeigen?
Er hasste sie, er hasste sie abgrundtief. Allerdings konnte er jetzt nichts mehr tun. Jetzt war es zu spät, jetzt war er erwachsen und hatte sein ganzes Leben hinter sich. Er hörte noch die Worte seiner Mutter in seinem Ohr: „Hör auf zu denken, Junge. Hörst du nicht, hör auf zu denken, es macht dich kaputt!“
Doch er hatte nicht gehört. Er hatte zugehört, doch er hatte nicht gehört. Sein Kopf war anders, als der von anderen. Er dachte und wenn er dachte, dann war es, als würde die Welt nicht mehr Welt heißen, sondern seltsame, komische Namen annehmen und ihn verzaubern mit seltsamen Dingen und Geschichten von denen er noch nie gehört hatte.
Er hatte nicht gehört. Noch nie.
Mutter war gestorben, eines Tages. Schrecklicher Unfall mit dem Küchenmesser.
Er hatte nicht geweint.

Ihr Haus schien zu ihm zurückzublicken. So als wollte es ihm etwas sagen, ihm eine Botschaft schicken, er solle noch nicht gehen. Solle noch bleiben, noch wenigstens für ein paar Minuten und sich gedulden.
Er schüttelte den Kopf, es ging schon wieder los. Gedanken waren etwas Furchtbares, er wollte sie nicht haben, er wollte überhaupt gar nichts haben.
Seine Mutter hatte gestaunt, sehr gestaunt über ihn. Aber er hatte nicht geweint, oh nein, er hatte gelacht. Gelacht hatte er über ihr erschrockenes Gesicht, als er das Messer aus der Schublade genommen hatte und lustig damit vor ihrem Gesicht gefuchtelt hatte. Da hatte sie ihn nicht mehr ausgelacht, nicht mehr gehänselt, wegen seines Kopfes. Nein, da hatte sie nichts mehr gesagt.
Nie mehr.
Er zögerte einen Augenblick, dann drehte er sich um und ging zurück zu ihrem Haus. Die Penner und Nutten um ihn herum sollten ihn später als geistesgegenwärtig beschreiben, aber für ihn waren sie nur Gedanken. Nur körperlose Gebilde, die irgendwo herumschwirrten und ihn bedrängten, an ihm nagten wie an einem Stück Brot. Ihn mürbe machten, ihn in eindrangen und drohten ihn von innen heraus zu verschlingen. Er wollte sie nicht mehr haben, er wollte, dass sie gingen. Er wollte sich selbst nicht mehr.
Warum gingen sie alle umher, so als sei nichts? Warum taten sie so, als sei die Welt in Ordnung, wenn sie es doch nicht war? Er war anders als die anderen, er hatte schon immer gewusst, dass er nicht normal war.
Aber sie hatten mit dem Finger auf ihn gezeigt, hatten ihn getreten, mit Füßen und Worten.
Und mit Gedanken, ja vor allem mit Gedanken waren sie auf ihn losgegangen und hatten ihn geschlagen, misshandelt und gefoltert. Er hatte es hingenommen. Wollte, konnte sich nicht wehren.
Aber das war in Ordnung, nun war es egal, nun würde er es beenden.
Er klingelte an ihrer Tür. Sofort ging sie auf und sie stand in einem Hauch von Kleid, eingehüllt in eine Wolke aus Parfum in der Tür und starrte ihn an.
„Was willst du denn noch?“ fragte sie.
Er legte den Kopf schief und schob sie ins Haus. Sie wehrte sich, doch er war bärenstark. Noch nie hatte sich jemand gegen ihn widersetzen können, er hatte sie alle getötet. Egal wie groß, klein, schwach oder stark sie gewesen waren. Seinen Spaß hatte er mit ihnen gehabt, doch getötet hatte er sie immer.
Er zuckte nicht mal mit den Augenbrauen, als er das Messer in ihren Unterleib stach.
Sie war furchtbar schön.
Ein Mensch. Wieder mal einer. Einer, der lebte. Der herumlief und es sich gut gehen ließ. Der ihn verspottete für seinen Kopf, der ihn auslachte, mit dem Finger auf ihn zeigte.
Er sah sie wieder, diese Finger, diesmal jedoch hatten sie keine Fratzen, diesmal waren sie ausdruckslos. Sie waren ernst und sahen auch etwas besorgt aus.
Er keuchte schwer und ließ sie einfach da auf dem Boden liegen. Noch bevor der nächste Freier ihren Tod der Polizei melden konnte war er schon weit weg und lebte.
So wie immer, so wie Menschen schon immer gelebt hatten. Ganz einfach weil sie es immer schon getan hatten und es so gewollt war.
Er war nur einer, doch es gibt noch viel mehr.
Die Finger sind da, überall hocken sie und lauern auf ihr nächstes Opfer, das sie verschlingen und aussaugen können. Man muss sich vor ihnen in Acht nehmen.Die Finger hatte ihn damals angestarrt, als er schnaufend über seiner Mutter gestanden hatte. Sie waren ernst gewesen, so ernst wie bei ihr. Auf ihren Gesichtern lag die Frage, die einzig wahre und eindeutige Frage, die doch niemand beantworten kann und trotzdem jeder stellt. Er hatte sie noch nie gemocht. Die Finger schon.
Warum?

 

Hallo Ben,

die Namen in der Liste unten bedeuten nur, dass jemand die Seite mal angeklickt hat, nicht, dass er sie auch gelesen hätte.
Ich kann mir vorstellen, dass viele deine Geschichte nicht zu Ende gelesen haben, denn dein Beginn fängt den Leser nicht unbedingt ein.
Ich mag es grundsätzlich sehr, Geschichten durch Fragen voranzubringen, greife auf dieses Mittel aber lieber in Ich-Erzählungen zurück. Dann haben die Fragen nicht gleich so ein "Welt-Gewicht"
Im ersten Absatz beschreibst sehr viel sehr allgemein. Dein Prot ist immer gehänselt worden, man hat mir Fingern auf ihn gezeigt. Das geht vielen Kindern so und ist für jedes von ihnen eine schmerzhafte Erfahrung, aber es ist zu allgemein, um die spätere Geschichte daraus abzuleiten.
Auch verwirrst du hier mit Ursache und Wirkung. Mal liest es sich so, also zeigten die Kinder auf ihn, weil er wegen seiner Gedanken komisch ist, dann wieder kommen die Gedanken, weil sie mit den Fingern auf ihn zeigen. Das ist im Erleben deines Prot auch ganz sicher nicht mehr so eindeutig zuzuordnen, insofern konsequent. Wir haben als Leser aber keinen Anhaltspunkt, was an deinem Prot für seine Umwelt nicht stimmen könnte.

dass ihn manche als verrückt abtaten und ihm vorwarfen, er lebe nicht in dieser Welt, sondern in einer, weit weg von hier, einer Welt, in der Wirklichkeit und Realität sich die Hände geben und Wahrheit und Lüge ineinander verschmelzen.
Abgesehen von dem Zeitfehler durch die Vermeidung des Konjunktiv habe ich mit diesem Satz zwei weitere Probleme.
Wirklichkeit und Realität sind die selben Dinge. Es ist also kein Kontrast, wenn sie sich die Hand geben. Wahrheit und Lüge verschmelzen immer miteinander, da sie auch immer vom Erleben des Einzelnen abhängig sind. Der Vorwurf, den die anderen deinem Prot machen wäre mit diesem Bild alse eher, dass er in ihrer Welt lebt, nicht in einer fernen.

In dem eher uneindeutigen Beginn deiner Geschichte liegt für mich ein bisschen eine Schwierigkeit mit der Glaubwürdigkeit des weiteren Geschehens. Grundsätzlich sind die Taten deines Prot glaubwürdig, durch die unspezifizierte Schilderung dessen, was er erleben musste, schaffst du es aber leider nicht, über die psychologische Basismöglichkeit "schlechte Kindheit - Hass auf die Welt - Mörder" hinaus zu gehen, son intensiv diese Passage auch geschrieben ist. Die "Wahngefühle" deines Prot kommen in dieser Passage gut rüber, sie ist sitlistisch sehr viel besser, als der Anfang, aber sie leidet noch unter ihm.

Lieben Gruß, sim

 

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