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Winter
Bedächtig, theatralisch, im Bewusstsein der Schwere seiner Schritte sank er den Waldweg herab. An diesem Platz wendeten sich seine Erinnerungen in reales Empfinden wie nirgendwo sonst. Warum er ihn wieder und wieder aufsuchte, wusste er selbst nicht. Wahrscheinlich gaben die ihn übermannenden Gefühle ihm die Sicherheit zurück, überhaupt noch am Leben zu sein.
Dies war ihr Ort. Er hatte den weichen Waldboden noch genau vor Augen, er konnte das Sonnenlicht, das sanft und warm durch die Baumkronen floss, noch spüren, er meinte, noch eine Prise des süßlich-fauligen Dufts morscher Baumstämme wahrnehmen zu können, und es war, als würden zwischen Blätterrauschen über seinem Kopf wieder die selben Vögel höhnen, wissend, dass kein Moment ewig währt. Und für einen Augenblick fühlte er ihre Hand in seiner und wollte nie wieder loslassen...
Es lag eine solch aufdringliche Stille in der Luft, dass man zwischen dem Brechen der Schneehülle unter den Schuhen sogar seinen Atem vernehmen konnte, der für kurze Zeit einen Schleier in der Luft bildete und dann gen Himmel stieg um sich den weißgrauen Wolken anzuschließen. Zu beiden Seiten des Weges bildeten kahle Baumstämme ein lebloses, schwarzes Dickicht, das den Kampf gegen den blendend weißen Untergrund verloren zu haben schien und bedrohlicher wurde, je weiter er seinen Blick in das verschlingende Nichts eindringen ließ. War dies ihr Ort? Ihm schwante, dass es noch so war, mehr als jemals zuvor.
Die Kälte, die ihn seit Jahren wie eine Mauer umgab, filterte alle emotionalen Reize, die von der Außenwelt an ihn herangetragen wurden, heraus. Nur gegen ihren eigentlichen Feind, gegen die Erinnerungen an sie, war diese Festung machtlos. Seine Gleichgültigkeit, seine völlige Leere, seine Antriebslosigkeit wich langsam der gewaltigen inneren Aufwühlung und Anspannung, die ihn immer dann ergriff, wenn ein Bild, ein Name, ein Musikstück oder nur die Beobachtung einer zärtlichen Geste sie unmittelbarer, näher und klarer vor seine Augen erscheinen ließ, als irgendetwas außerhalb seines Schutzwalls je vordringen könnte.
Den Blick senkend und schneller werdend lief er weiter und stand bald vor einem zugefrorenen Teich in einer Senke. Er hielt inne. Wie viel Zeit hatten sie hier verbracht? Er kannte die Macht der Verklärung und konnte es nicht mehr einschätzen. Sie hatten stundenlange Gespräche geführt und waren dabei so weit in die Seele des anderen vorgedrungen, wie es möglich war. Selbst Unterhaltungen über banale Themen gab sie mit ihrer Stimme, mit ihrer liebevollen Art und ihrem Blick eine persönlichere Note, als er jemals zuvor, geschweige denn jemals danach, erlebt hatte.
Am tiefsten hatten sich jedoch die Momente eingebrannt, in denen sie schweigend nebeneinander saßen, in dem Wissen sich gefunden zu haben und in der Sicherheit nichts mehr sagen, denken oder tun zu müssen um geliebt zu werden. Dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens.
Manchmal war sie dann aufgestanden und hatte versucht Steine über das Wasser an das gegenüberliegende Ufer springen zu lassen, stets erfolglos zwar, aber mit einer raumfüllenden Begeisterung, die er nur von ihr kannte. Wie alles, was sie tat, arbeitete sie an diesem Ziel mit einer Hingabe, Ernsthaftigkeit und Überzeugungskraft, die bei jeder anderen Person lächerlich oder gestellt gewirkt hätte. Bei ihr jedoch war sie echt… Die stechende Erinnerung an diese Episoden, die wie aus einem früheren Leben waren, ließ die ihn verzehrende Wehmut zu einer ungekannten Intensität anschwellen. Alles täte er, um diese Momente noch einmal erleben zu dürfen, die alles andere nichtig erscheinen ließen. Alles gäbe er, um sie noch einmal mit seinen Lippen ihre berühren zu dürfen. Er schlug die Hände vor die Augen um seine Tränen innerhalb der Mauern zu halten, doch die Sehnsucht hatte sie längst niedergebrannt.
Von lauten, schmerzerfüllten Rufen angelockt sah ein Spaziergänger aus sicherer Entfernung, wie ein Mann auf einem zugefrorenen Teich inmitten der malerischen Winterlandschaft tobte. Wie besinnungslos trat er auf das Eis, das jedoch viel zu lange gefroren hatte um ihm nachzugeben. Er zertrat die Schneedecke am Ufer, die die Landschaft in eine geradezu pittoreske Schönheit hüllte. Während er Steine auf das Eis warf, zerschnitten seine Schreie die kalte Stille. Erst, als ein schwerer schwarzer Felsbrocken die Eisdecke unter dem Mann lautlos bersten ließ, erst, als das brennende Eiswasser seinen Körper umschmeichelte, meinte der Spaziergänger gesehen zu haben, wie aus den Augen des Fremden alles Blanke, Verletzliche wich und sich eine geheimnisvolle Maske über sein Gesicht zu legen schien, die ihn mit dem See, dem Wald, dem Schnee und der Ruhe verschmelzen ließ.