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Wintergeschichte

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20.10.2004
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Wintergeschichte

Jetzt, in den ersten Tagen des neuen Jahres, fehlte ihm plötzlich die Hektik, mit der die Leute ihn vor Weihnachten und Silvester so genervt hatten. Ihm fehlten die Menschenmassen, die an ihm vorbeidrängten, während er hier stand, seinen Glühwein trank oder eine Wurst aß. Ihm fehlten die plärrenden Kinder, die ihre Eltern, Großeltern oder andere hierhin und dahin zu ziehen versuchten, wo es mögliche Geschenke, erbettelbare Süßigkeiten und sonstige ersehnte Dinge gab.
An manchem dieser Kindergesichter war er für Sekunden hängengeblieben, hatte ihnen durch den Dampf seines „Christkindlmarkt-Glühweins“ zugelächelt, einen Moment lang bereit, sich von der allgemeinen Glückseligkeit oder dem, was er dafür hielt, aufnehmen zu lassen. Doch während er vorm nächsten Schluck über die Wölkchen blies, war das Kind im Gewühl verschwunden, in der Menge der stoßenden, ihre Einkäufe fest umklammernden Leute untergegangen.

Dann wandte er sich wieder Sabine, der Imbissverkäuferin, zu, zwinkerte sie an, als hätten sie miteinander eine heitere Vertrautheit. Diese bestand letztlich nur darin, dass er sie duzen, ja, sogar „Bine“ nennen durfte, und sie immer wieder auf seinen Standardscherz einging, doch endlich aus „Rosi’s Imbiss“ „Bine’s Imbiss“ zu machen: „Ja, wenn die Rosi mal tot ist, hängt am nächsten Tag hier draußen „Bine’s Curry-Saloon“ dran, ich werde die Chefin sein und du hinterm Tresen stehen, wirst sehen!“
Eine Weile versuchte er, darauf noch originelle Erwiderungen rauszuhauen, aber seit er begriffen hatte, dass er bei ihr nicht ankommt, waren diese Versuche seltener geworden und
verloren mit der Zeit jede Spritzigkeit. Er hatte sogar schon überlegt, sich eine neue Wurstbude zu suchen. Doch überall, fand er, war irgendwas an den Würsten oder am Bier oder an den anderen Kunden auszusetzen. Und das Personal wechselte auch spätestens nach zwei Monaten. Ist keine Kontinuität drin, keine Kontinuität, dachte er und lachte. Irgendwas war lustig daran, als er das Wort kennengelernt hatte. Er amüsierte sich über dieses Wort Kontinuität immer noch, konnte aber längst nicht mehr sagen, was es damit auf sich hatte. Kontinuität...

Bine nickte ihm nur kurz zu, als er sich mit einem leichten Schlag auf den Tresen von ihr und den anderen verabschiedete. Das verfolgte ihn noch ein Stück. Wie eine Kränkung, die er erst hinunterschlucken musste. Es machte ihn richtig aggressiv. So sehr, dass er genau in der Mitte des Fußwegs die Marktstraße hinunterging. Sollte doch einer was zu ihm sagen, sollte er doch! Er war in der richtigen Stimmung, jedem ein paar aufs Maul zu verpassen, der es nur wollte.
Aber die Leute, die ihm entgegenkamen, ältere Paare und ein Mädchen mit Geigenkasten, spürten an seinem Blick und dem federnd schwankenden Gang eines betrunkenen Bären, dass mit ihm nicht zu spaßen war und jede Geste, jedes Wort Provokation genug sein konnten, ihn herauszufordern.
Also umgingen sie ihn schnell und möglichst geschickt, wechselten die Straßenseite, huschten eilig in noch offene Läden oder grüßten gar imaginäre Personen in seinem Rücken, um ihn so über ihre Ängstlichkeit hinwegzutäuschen. Schließlich wurde es ihm langweilig, jeden Entgegenkommenden scharf anzustieren und er begann, theatralisch Dialoge vor sich hin zu reden: „Jesundes neues Jahr, Frau Kunze! – Ja, Jesundes Neues auch, wie jeht’s denn so, was macht’n Ihr Mann, war der nicht im Krankenhaus über de Feiertage? Ach, jeht wieder, ja? Na, is ja auch noch nich so alt, was? Jaja, werden alle nich jünger..."

Er stieß mit dem Fuß gegen einen schmutzigen Haufen klumpig gefrorenen Schnees, bereute es aber sofort. Für die Schuhe hatte er ein volles Jahr lang gespart. Jedes Jahr spart er, um sich zu Weihnachten ein neues Paar leisten zu können. In diesem Jahr fand er besonders günstige im Angebot. Knapp fünfzig Mark kosteten sie, wogegen er sonst immer um die achtzig bezahlen musste.
Echte Cowboyschuhe. Vorn spitz, hinten ziemlich hohe Absätze. Gurt über den Spann, matt glänzende Silberschnalle, nicht zu groß. Einmal hatte er ein Paar erwischt, bei dem die Schnalle eher riesig war. Das ganze Jahr fühlte er sich in den Dingern wie ein Clown. Und je mehr er sich wie ein Clown fühlte, umso komischer lief er in den Schuhen. Fast wäre es ihm im Frühjahr noch gelungen, bei den Pennern in der Laubenstraße sein Paar in eins zu tauschen, das ihm besser gefiel, wenngleich es schon abgelaufener war. Aber einfach echter. Richtige Rodeoschuhe. In denen der richtige Kerl die heißesten Kühe reiten könnte. Aber bevor sie die Hände auf das Geschäft einschlugen, hatte es sich der Typ anders überlegt. Einer seiner Kumpels quatschte immer dazwischen: „Lass dir noch ’n Zehner drauflegen, oder ’ne Pulle!“ Nee, das wäre Beschiss gewesen. Verärgert trug er seine Schuhe die restlichen acht Monate des Jahres, bis wieder Weihnachten war und er sich das nächste Traumpaar leisten konnte. Und die waren dann wirklich okay. Nie wieder wollte er übereilt seinen Schuhkauf machen. Gibt doch alles! Mit ein wenig Glück schon unter fünfzig Mark.

* * *

Er reibt den Schuh, mit dem er den Schnee fortgetreten hatte, am anderen Jeansbein ab. Plötzlich wird ihm klar, wie besoffen er schon wieder ist. Es wird Zeit, nach hause zu kommen.
Als er beim Überqueren der nächsten Straße leichtfüßig über hoch zusammengeschobenen Schnee springen will, rutscht er aus und knallt steif wie ein Brett auf den Rücken. Und als er sich wieder aufrappeln will, ist ihm, als habe er ein paar Momente das Bewusstsein verloren. Hände greifen von hinten unter seine Arme. Er will sie abwehren, aber eine angenehm klingende Frauenstimme sagt: „Seien Sie vorsichtig, wenn es nicht geht, rufe ich den Notarzt.“
„Ach, wird schon“, brummt er. Nun lässt er sich doch helfen, wieder auf die Beine zu kommen. „Man ist eben nicht mehr der Jüngste“, grunzt er und versucht ein locker wirkendes Lachen. Es gelingt ihm nicht. Statt dessen gibt er beim Luftholen ein hörbares Fiepen von sich.
„Schmerzen?“
Nee, ’n Orgasmus, will er antworten, wie es die Kumpels bei „Rosi’s Imbiss“ im allgemeinen zu Hustenanfällen, Lachkrämpfen und ähnlichen Anlässen tun. Doch er verbeißt sich den groben Scherz. Er kennt die Frau nicht, die hier seine Lebensretterin spielt. Er mustert sie verstohlen, während er sich den Schnee von den Klamotten zu klopfen versucht. Wie alt mag sie sein, denkt er. Dreißig? Vierzig? Er konnte noch nie das Alter einer Frau schätzen. Blond ist sie, die Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden.
„Nich ’n bisschen kalt, so ohne Mütze?“, fragt er sie.
„Ach, ich hab doch nur schnell ein paar Einkäufe gemacht. Fürs Abendessen.“
Jetzt sieht er den Korb neben ihr stehen. „Sie woll’n sicher weiter. Danke, dass Sie...“
„Ich kann Sie doch jetzt nicht allein so weitergehen lassen. Wo wohnen Sie denn?“ Er nennt ihr ohne zu zögern die Straße. „Oh, das ist ja noch ein ganzes Ende! Ich wohne hier gleich um die Ecke. Wollen Sie nicht...“ Sie zögert.
Er hofft, dass sie weiterspricht. Dass sie ihn einlädt.
„Soll ich Ihren Korb nehmen?“
Sie lächelt. Sagt: „Danke, das ist nett. Aber haken Sie sich bei mir unter! Ihre Lunge fiept ja immer noch.“
Er fühlt sich albern, als sie ihre Arme ineinander haken. So laufen doch bloß Achtzigjährige rum. Aber irgendwie gefällt es ihm auch.
Es sind dann tatsächlich nur ein paar Schritte bis zu ihrem Haus. Mh, gut sanierter Altbau, denkt er abschätzend, als sie die Treppe hinaufsteigen. Dieser Blick auf die Qualität eines Hauses war eine alte, nicht verloren gegangene Angewohnheit aus besseren Tagen.
Im ersten Stock lenkt sie ihn zur linken Tür. Schließt auf, bittet ihn, ihr zu folgen.
Der Geruch einer ordentlichen, sauberen Wohnung empfängt ihn.
Während sie ihre Stiefel abstreift und den Mantel auf einen Bügel hängt, wartet er, unschlüssig hinter ihr stehend.
„Möchten Sie ihre Jacke nicht ablegen?“, fragt sie ihn. „Oder tut es noch weh?“
„Was soll denn... ach so, der kleine Sturz vorhin. Nee, das ist schon vergessen.“
Sie hilft ihm aus der Jacke und hängt auch diese ordentlich auf. „Kommen Sie, setzen Sie sich ins Wohnzimmer. Ich mach uns was zu essen, denn ich habe einen Riesenhunger, fast immer, wenn es so kalt ist. Sie bleiben doch eine Weile?“
„Wenn ich so nett eingeladen werde, kann ich ja schlecht nein sagen!“ Die Worte klingen irgendwie ungeübt höflich.
Sie drückt ihn in einen Sessel. „Ich bin gleich wieder hier!“

Er schaut sich um. Nette Bude, findet er. Sogar ein Klavier. Darauf Fotos von verschiedenen Personen. Ein Trockenblumenstrauß. Gediegene, gepflegte Möbel. Ein Regal mit Musikanlage, Büchern, Schallplatten. Wie lange schon war er nicht in solch einer Wohnung...
Er steht auf und geht zum Klavier. Betrachtet die Fotos. Ein Mann, vielleicht ihr Mann. Vielleicht auch ein Schauspieler. Er trägt waschechte Westernklamotten. Inklusive Stetson. Kinderfotos.
„Meine Familie“, sagt sie, als sie mit einer dampfenden und duftenden Pfanne hereinkommt. Er wendet sich zu ihr. Sieht erst jetzt, dass auch sie eine Art Westernkleid trägt. Ein blau-grün-kariertes Kattunkleid. Fast wie aus „unsrer kleinen Farm“ entsprungen.
„Ich lebe allein. Mein Mann ist vor zwei Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen. Und die Kinder sind schon aus dem Haus.“ Mh, was soll er dazu sagen. „Das tut mir leid, also, ich meine, mit Ihrem Mann.“
„Ach, ich bin über das Schlimmste hinweg. Das Leben muss schließlich weiter gehen. So habe ich Gelegenheit, Sie kennen zu lernen. Und – ein wenig erinnern Sie mich an meinen Mann.“
„Ich?“, fragt er irritiert und schaut zu seiner verwaschenen Jeans hinab. „Was gibt es an mir denn kennen zu lernen? Ich sag’s Ihnen ehrlich: Ich lebe faul in den Tag. Ich habe seit Ewigkeiten nicht gearbeitet. Ich lebe von der Stütze und versaufe das meiste! Am liebsten bin ich tagsüber an meiner Imbissbude. Die am Markt, Rosi’s.“
„Ich weiß, ich hab Sie dort gesehen.“
Sie holt Teller aus dem Schrank, verteilt alles rasch auf dem Tisch.
„Kommen Sie, setzen wir uns. Ich möchte einfach mal wieder nicht allein essen müssen. Tun Sie mir doch den Gefallen.“ Sie zögert einen Moment mit dem Weitersprechen. Während sie ihm dann auftut, sagt sie: „Es waren zuerst die karierte Jacke und Ihre Schuhe, die mir auffielen. Und irgendwann schauten Sie mich kurz an, als ich an Ihnen vorüberging. Ihr Blick... – aber Sie essen ja gar nicht!“
Ihm stehen Tränen in den Augen, die er ungeschickt fortwischt. Wie lange hat er solche Sätze nicht gehört, wie lange hat sich kein Mensch so für ihn interessiert?
Zaghaft stochert er auf seinem Teller herum.
„Mein Mann war in so einem Country- und Western-Club. Deswegen habe ich mich daran gewöhnt, diese Sachen zu tragen.“
Sie musste zwischendurch Musik aufgelegt haben, denn plötzlich hört er Johnny Cash singen. Ihm ist irgendwie märchenhaft zumute. Als sie ihn nach dem Essen zu sich aufs Sofa bittet, wird ihm schwindlig. Er sitzt einen Moment reglos neben ihr und fragt sie plötzlich, einfach seinem Gefühl folgend: „Wie heißen Sie eigentlich?“ Dabei greift er nach ihrem Arm und schreckt zurück. Er schaut in seine Hände und sieht schmutzigen Schnee. Ein paar Kinder mit einem Schlitten stehen um ihn herum.
Ein Mädchen fragt: „Sollen wir Ihnen hoch helfen?“

* * *

 

achtzehn Beiträge, zehn Geschichten?

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Hallo Sim,
imgrunde gebe ich dir Recht.
Irgendwie fehlt mir im Moment nur ein Quentchen mehr Zeit, mich intensiver in die Diskussionen einzubringen.
Mal sehen, wie es in Zukunft so wird.

 

Zao, hehee,
welche Säuferklischees?
Und hast du die Schlusswendung nicht mitbekommen, die aus der Geschichte mit der Cowboywitwe einen reinen Traum macht? Es gibt die Frau nicht, es gibt die Begegnung nicht. Seine Sehnsucht ist der Rest Romantik, die letzte Glut, die vielleicht, unter anderen Umständen, ein sinnliches Feuer entzünden könnte. Aber eben nicht unter seinen Lebensumständen, befürchte ich.

 

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