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Wo bin Ich?
Wo bin ich?
Am Ende der Welt. Angelangt und ausgelaugt. Von allem. Von allem weg. Vor den Anderen. Geflohen. Geflohen aus den scheinbaren Beziehungen, vor trocken Brot und saurer Arbeit. Vor den normierten Standardgedanken, von den übervollen Fleischtöpfen und dem Selbstverdruss. Geflohen vor der Schrift und aus der eigenen Sprache.
Nun, nur noch: ich. Minutenlang, tagelang nur: ich. Und das Meer. Die lautlosen Wolken.
Hier gibt es nur noch eins zu tun. Warten. Warten auf den Tod, der sich jetzt schon an seinem Körper bereichert. Das war das Ziel dieser langen Reise.
Immerfort gelaufen. Raus aus dem Gleichschritt. Raus aus den Städten. Weg von den Menschen, die ihn zu kennen glaubten. Welche ein „ich“ zu kennen glaubte, das von sich selbst nichts wußte. Bis ihm auffiel, dass er ihnen nicht wirklich nahe kommen konnte. Zuviel trennte das System aus Zwängen, Konventionen und Unverbundenheiten.
Also weg. Weg von dem, was tot macht. Weg von den gigantischen Industriegeländen und den Freizeitparks, aus denen ein einsames Gelächter dröhnt, das nicht aus den Kehlen der Kinder stammt.
Immer weiter weg. Bis keiner mehr da war. Bis jetzt. Zwei oder drei Wochen ohne Nahrung. Zuletzt keine Kraft mehr, um sich zum Bach zu schleifen. Und schließlich kein Durst mehr. Nunmehr: Ein ausgemergelter Körper. Mit der Zeit kam jemand hinzu: ich.
Es wird Zeit. Zeit für den letzten Teil der Reise.
Der Wind, der durch die Hütte bläst, wird mich das letzte Stück tragen. Er wartet darauf. Mein Körper wird weiter hier liegen, mit dem selben Druck auf der erdigen Unterlage. Das ist mir ein Trost: der Körper wird wie der Sand zwischen den Ritzen sein oder wie die Brettertür. Nicht unwesentlich. Langsam wird auch das Fleisch auf eine Reise geschickt werden. In seine atomare Erlösung. Veränderung und Fortschritt. Nahrung für Pflanzen und Insekten.
Noch wartet er, wissend, dass er damit nur aufzuhören braucht. Dann wird der Tod kommen, eine Böe vom Meer her. Ein großes Wellenrauschen, dass ihn wegspült. Durch das Dach fallen Lichtstreifen herein. Seine Augendeckel heben sich. Sein Gesicht wendet sich dem Licht zu, ein weißer Sonnenstrahl bricht sich in seinen Pupillen. Er nimmt nur das gesamte Farbenspektrum wahr, sieht Wellen in lila, grün, ein warmes Orange, das zu einem Ton anschwillt. Dann fehlen die Farben und die Wellen dringen unter die Retina.
Jemand hebt seine Haut an, die sich wie von selbst löst und ihn offen und ungeschützt liegen lässt. So spürt er das Wesen der Elemente. An diesem Punkt gibt es keine Gefahr mehr, er hat nichts zu verteidigen. Nun ein Besitzloser, der alles empfangen darf. Einer, der endlich „ich“ sagen darf.