Was ist neu

Zahlenspiel

Mitglied
Beitritt
15.11.2003
Beiträge
13

Zahlenspiel

Zahlenspiel.
Eine Kurzgeschichte.

"Na dann erzählen Sie mal, was sie auf dem Herzen haben", sprach der Pfarrer einfühlsam aber mit einem forderndem Ton. Er blicke geradeaus durch auf die hölzerne Tür des Beichtstuhls, in dem er saß und vermied jeden Blick auf das kleine Gitter, hinter welchem sich die Kammer befand, in der die Leute saßen, die beichten wollten. Er hielt es für diskreter, wenn er gar nicht versuchte, sie anzusehen, auch wenn das Gitter sowieso zu kein war, um ein Gesicht wirklich zu erkennen.

"Wissen Sie, Vater, ich habe die wahrscheinlich schlimmste Sünde begangen, die es gibt. Und nein, ich rede hier nicht von irgendeiner antiken Todsünde oder einem Verstoß gegen die zehn Gebote, ich rede viel eher von einer Sünde, welche nahezu unvorstellbar ist. So unvorstellbar, daß sie im Allgemeinen gar nicht so in Ihren Schriften erwähnt wird, weil wohl niemand auf die Idee kam, daß es einem Menschen überhaupt möglich wäre, sie zu begehen. Ich meine ...", der Mann stockte kurz, bevor er fortfahren konnte und atmete tief durch. Der Pfarrer wollte zunächst eine Bemerkung machen, um ihn zu ermutigen, doch er erkannte an seinem Ton, daß der Mann ganz von selber weitermachen würde. Und so nickte er nur in Richtung Beichtstuhltür, auch wenn er genau wußte, daß der Mann ebenfalls nicht durch das Gitter sah und diese Geste daher gar nicht erkennen konnte.

"... also ich meine, ich habe im Prinzip eine Antwort auf alles gefunden. Und ich meine, auf wirklich alles. Egal, welche Frage Sie haben, ich kann Sie Ihnen beantworten. Selbst Fragen nach dem Wesen von Ihrem Gott oder nach dem Sinn des Lebens. Oder die Frage nach den Lottozahlen für nächsten Sonnabend. Das ist alles kein Problem, das kann ich Ihnen alles sagen. Diese Antworten sollte aber gar kein Mensch kennen, verstehen Sie? Obwohl, eigentlich ist es nur eine Antwort. Stellen Sie Sich das vor: es gibt auf alle Fragen, die jemals gestellt wurden und jemals gestellt werden und auch auf die, die niemals gestellt werden sollten oder gestellt werden dürfen, eine einzige Antwort. Eine Antwort, die alles beantwortet. Das ist doch ziemlich verrückt, wenn man mal so darüber nachdenkt, finden Sie nicht? Ich meine, wenn einer allwissend ist, stellt er sich dann nicht auf eine Stufe mit Ihrem Gott? Und das darf man doch nicht, oder? Worauf ich hinauswill ist, daß ich das Ganze ja nicht mit böser Absicht getan habe, ganz im Gegenteil. Ich wollte den Menschen ja helfen und so weiter. Heilmittel gegen Krebs oder AIDS oder Ebola, ich könnte Ihnen sagen, wie Sie das alles herstellen können, wenn Sie wollen. Aber das Problem ist, daß leider mit den Antworten auf diese Fragen auch die Antworten auf einige weniger beantwortungswürdige einhergehen, wenn Sie verstehen, was ich meine."

Der Pfarrer keuchte hörbar und wußte zunächst nicht, was er dem Mann sagen sollte. Erst hielt er ihn für verrückt, da er wohl glaubte, Allwissend zu sein. Dann aber, nach einiger Zeit des Überlegens, sagte er die üblichen Worte. "Gott wird Dir verzeihen, mein Sohn. Wenn Du eines Tages in sein Reich einkehrst, wird er Dir Deine Sünden vergeben."

"Nein", sagte der Mann mit besorgter Stimme. "So einfach ist das ja nicht. Wissen Sie, ich habe alle Antworten auf alle Fragen dieser Welt, egal welche. Und meine Neugier hat mich dazu getrieben, selbst dieses Gespräch schon im Voraus zu kennen. Ich weiß, was Sie sagen werden und ich wußte schon vorher, was Sie gesagt haben. Und ich weiß auch, daß Ihr Gott mir nicht verzeihen wird. Was ich nicht weiß, und darüber bin ich so im Nachhinein auch ganz froh, ist, ob Ihr Gott überhaupt existiert. Verstehen Sie das jetzt nicht falsch, ich will weder Sie, noch Ihren Glauben oder Ihre Kirche beleidigen, aber ich hätte auch wissen können, welche Religion denn die Wahrheit sagt, wenn ich es hätte gewollt. Aber ich hatte wohl zuviel Angst, daß meine Überzeugungen als Atheist dahinschwinden."

"Aber wie ich sehe, hat Gott Dich erleuchtet", sagte der Pfarrer in einem ruhigen Ton, da er sich jedes Wort genau überlegen mußte. "Auch wenn Du nicht an Gott glaubtest, so hat es Dich doch her zu mir gezogen, um das Gespräch zu suchen."

"Ich bin hier, weil meine Eltern mich christlich erzogen haben und ich weiß, daß sie eine Schweigepflicht abgelegt haben. Ich hätte auch mit einem Arzt reden können, aber der wäre mir zu teuer gewesen. Außerdem wußte ich, daß Sie besser zuhören. Ich meine, ohne nach fünf Minuten anzufangen ...", und in dem Moment sah der Mann auf seine Uhr und erkannte, daß diese fünf Minuten gleich vorbei sein sollten, "... mich für verrückt zu erklären."

Wieder schwieg der Pfarrer für einige Sekunden, bevor er ein einfühlsames "Fahre fort" von sich gab.

"Nun", sagte der Mann nun sichtlich nervöser. "Wir haben uns doch alle schonmal gefragt, wo wir herkommen und was wir hier sollen. Im philosophischen Sinne, meine ich. Und andererseits will ich als Wissenschaftler natürlich auch den Menschen helfen, darum habe ich meinen Beruf ja überhaupt nur gewählt. Ich wollte immer irgendwas bahnbrechendes erfinden oder entdecken, aber ich war kein Einstein, kein Newton und kein Millikan. Eigentlich war es auch eher Zufall, daß gerade ich diese Idee hatte. Ich meine, auch irgendein Typ in Kanada hätte darauf kommen können. Oder ein chinesischer Militärsoldat. Oder ein Reisbauer aus Korea. Oder ein Grundschüler aus Frankreich. Das war keine Leistung in dem Sinne, ich hab einfach nur etwas genauer hingesehen. Und das nichtmal mit Absicht, sondern eher, weil mir langweilig war. Stellen Sie Sich das mal vor, Vater: Sie sitzen nach dem Abendessen auf dem Sofa, das schmutzige Geschirr noch auf dem Eßtisch, wollen Sich gerade einen Film im Fernsehen anschauen und plötzlich starren Sie auf eine Wand, weil Sie sonst ja nichts zu tun haben und Ihnen werden auf einmal alle Antworten auf alle nur möglichen Fragen, gestellt oder noch nicht gestellt, quasi vor die Füße geschmissen. Dann wären Sie doch sicher auch erstmal ein wenig perplex."

Der Pfarrer wußte nicht, was er sagen sollte. Das Szenario, welches der Mann ihm beschrieb, schien ihm zu abstrus. "Gott versteht Deine Sorgen, mein Sohn", sagte er schließlich und hoffe, daß der Mann keine komplexere Antwort erwarten würde.

"Ja, vielleicht tut er das, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht ... und eigentlich weiß ich es doch. Oder vielmehr könnte ich es wissen, wenn es es nur wissen wollte. Erkennen Sie das Dilemma, in dem ich stecke. Ein Allheilmittel zu suchen ist ja schön und gut und wenn ich nur eine Frage hätte beantwortet kriegen können, dann wäre das toll gewesen. Vielleicht im Stil von Aladdin und seiner Wunderlampe. Drei Fragen, drei Antworten und damit würde der Spuk vorbei sein. Aber alle Antworten auf alle Fragen ... irgendwann verfällt man dem Drang. Ich wollte sagen, stellen Sie sich vor, sie treffen eine schöne Frau. Ich weiß ja, daß Sie keusch leben müssen und so weiter, aber stellen Sie es sich mal aus meiner Sicht vor. Ich würde schon vorher wissen, ob aus uns was wird, oder nicht. Ich gebe ja zu, daß mir das einige Abfuhren ersparen könnte, aber werden zwischenmenschliche Beziehungen nicht unnötig, wenn man alles vorraussagen kann? Oder Schulexamen. Gut, ich gehe nicht mehr zur Schule, was vielleicht auch besser so ist, denn sonst hätte ich quasi einen unendlichen Spickzettel. Mal abgesehen davon, daß das unfair wäre, würde ich nichts lernen. Wobei ich ja auch eigentlich gar nicht mehr lernen müßte, weil ich schon alles wissen würde. Das klingt jetzt wahrscheinlich ganz schön komplex, finden Sie nicht? Aber auf jeden Fall, und darum bin ich hier, ist es sicherlich nicht in Ordnung vor Ihrem Gott und den Menschen. Und wer weiß, wenn er wirklich existiert, dann kann er mir vielleicht einen Rat schicken. Ich meine, wenn diese Antworten aus einer Kristallkugel kämen oder auf einem Zettel standen, dann könnte ich das Ding ja einfach wegwerfen, aber leider sind sie in meinem Kopf. Und wenn ich nur eine Sekunde zu lange über etwas nachdenke, dann kenne ich alle Antworten zu diesem Thema. Und sich zu wenig zu konzentrieren macht einfach keinen Sinn, finden Sie nicht?"

Der Pfarrer wollte gerade etwas sagen, als ihm der Mann nach einer kurzen Pause ins Wort fiel. "Ja, ich weiß, Sie verstehen. Und Gott wird mir verzeihen und ich werde im Himmel landen und Absolution erhalten und alles was sonst noch dazugehört. Vielleicht eine tolle Willkommen-im-Paradies-Werbetasse für den Kaffee da oben. Übrigens, wo wir gerade bei Kaffee sind, nächste Woche gibt's einen Skandal bei den örtlichen Kaffeewerken. Eine ganze Tonne Bohnen ist mit irgendwelchen Bakterien befallen und muß aus dem Umlauf gezogen werden."

Die letzten Teile des Satzes sprach der Mann nahezu völlig emotionslos dahin, als ob diese Meldung etwas selbstverständliches war. "Und nebenbei finde ich es schon fast zynisch, sich über Kaffeebohnen zu unterhalten, wenn in siebzehn Jahren der dritte Weltkrieg ausbrechen wird. Dabei wollte ich gar nicht wissen, wann das passiert. Aber irgendwann hab ich mal einen Bericht über die schweizer Armee gelesen und mich gefragt, ob die eigentlich jemals zu Einsatz kommen, wenn sie nicht gerade Ihren Papst beschützen, meine ich natürlich. Das machen sie übrigens ganz toll, ja. Aber dann fiel mir ein, daß ja in siebzehn Jahren WK-Drei anfängt und auch die Schweiz mitmachen muß, weil irgendein amerikanischer Spaßvogel seine Bomben über Zürich fallen läßt. Was für ein Trottel dieser Blake Riley ist... und das nur, weil so verstört ist, daß ihn seine Freundin mit seinem Bruder betrogen hat und er völlig konfus und wütend in seinem Kampfflieger sitzt. So jemanden läßt man auch nicht mit schwerer Kriegswaffen hantieren, sage ich. Aber die Army ist da ja schon immer recht rigoros gewesen."

Langsam wurde dem Pfarrer unwohl. Er wußte nicht, ob er den Mann für völlig verrückt halten sollte oder ob doch ein wenig Wahrheit in dem steckte, was er sagt. Er schwieg und wollte weiter dem lauschen, was der Mann zu erzählen hatte, doch der hielt eine Weile inne. Nach einer etwas längeren Zeit der Stille räusperte sich der Mann auffallend laut. "Nein, eigentlich bin ich nicht verrückt. Es sei denn, ich sitze in einer Irrenanstalt und bilde mir das hier nur ein, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich. Und Sie sicher auch, da das bedeuten würde, daß Sie gar nicht real wären. Wobei ich jetzt übrigens die Antwort auf die Frage weiß, ob Ihr Gott existiert. Aber Sie wollen die sicher gar nicht hören, oder? Ich behalt's mal für mich, ist vielleicht besser für Sie und Ihre Kirche. ich wolle es ja eigentlich auch nicht wissen, aber permanent an andere Dinge zu denken ist schwer. Vor allem, weil das Kirchenambiente hier mich immer daran erinnert. Wissen Sie, ich nehm's ihnen auch nicht übel, daß sie schonmal heimlich masturbiert haben, das ist ja auch schon zwanzig Jahre her. Ich meine, ein Priester ist ja auch nur ein Mensch. Und immerhin hat der Erzbischof aus der nächsten Stadt zwei Pornofilme zu Hause. Aber selbst das ist ja auch nur menschlich, wenn man mal die riesige Sammlung an Hardcore-Streifen bedenkt, welche beim Präsidenten im Keller liegen, ohne daß seine Frau oder die Wähler was davon wissen. Wobei seine Frau eh demnächst mit dem Flugzeug abstürzen wird und er daraufhin seelisch zu geschafft sein wird, um seine Legislaturperiode zu beenden. Wollen Sie wissen, wer die nächste Wahl gewinnt? Nein ... auch gut. Kann ich auch verstehen, ich mag Überraschungen eigentlich auch lieber. Wobei ich mir noch nicht ganz überlegt habe, ob ich wirklich so überrascht tun soll, wenn meine Mutter mir die nächsten vier Jahre wieder nur häßliche Wollhemden zu Weihnachten schenken wird."

Der Mann stand langsam auf und streckte sich, wobei er ein leises Gähnen von sich gab. Er öffnete die Tür des Beichtstuhls und ging hinaus, bevor er sich noch einmal zurückdrehte, um sich zu verabschieden. "Danke für's Zuhören, Vater. Und nein, sie müssen nichts sagen. Es tat einfach gut, mal mit jemandem zu reden."

Der Mann schritt langsam in Richtung des Ausgangs der Kirche und der Pfarrer verließ den Beichtstuhl, um einmal tief luftzuholen. Er seufzte und dachte an die verschiedensten Dinge, ungeordnet. Kurz bevor er sich auf eine der Bänke setzen wollte, um etwas auszuruhen, rief der Mann von der Tür noch einmal zurück.

"Die Zahl Pi, Vater. Aber Sie werden Sich gleich wünschen, nicht gefragt zu haben."

Und er verließ die Kirche.

 

Hallo Ranmaru

Beinahe hätte ichs nicht gelsen, weils schon so spät ist, aber ich muss sagen: eine exellente Geschichte :thumbsup:

Amüsant, interessant und verwirrend. Grandiose Idee, toll umgesetzt. Ich fühlte mich teilweise, wie der arme Pfarrer, vom geheimnisvollen Mann und seiner Geschichte überrollt.

Kleines Manko: Im letzten und vorletzen Abschnitt wiederholst die ziemlich oft das Wort "Wobei".

Außerdem ist mir der Schluss nicht ganz klar: Wollte der Pfarrer nach PI fragen, oder ist sie die Antwort auf alle Fragen?


mfg Hagen

 

Danke für die Kritik. Es freut mich, daß Dir die Geschichte gefallen hat und daß sie ihr Ziel erreicht hat, und verwirrend war. Das wollte ich erreichen.

Kleines Manko: Im letzten und vorletzen Abschnitt wiederholst die ziemlich oft das Wort "Wobei".
Das werde ich dann nochmal überfliegen und eventuell ein paar Synonyme verwenden.

Außerdem ist mir der Schluss nicht ganz klar: Wollte der Pfarrer nach PI fragen, oder ist sie die Antwort auf alle Fragen?
Letzteres. Die Idee dazu kam mir übrigens im Informatikunterricht, wo wir darüber sprachen, daß in der Zahl Pi (oder auch e und sonstige irrationale Zahlen, aber Pi ist wohl am bekanntesten) alle Dinge enthalten sind, die es gibt und jemals geben wird (wenn auch als Zahlencode verschlüsselt). Denn schließlich ist die gute Pi ja unendlich lang und wiederholt sich auch nie. :)

 

eine schöne, durchdachte geschichte:) wobei ich das ende auch nich so ganz verstanden hab :shy:
aber das ist auch nich so wichtig, was die antwort ist, finde die thematik super!!! :D

ein, zwei kleine fehlerchen:

"Gott versteht Deine Sorgen, mein Sohn", sagte er schließlich und hoffte, daß der Mann keine komplexere Antwort erwarten würde.

Langsam wurde dem Pfarrer unwohl. Er wußte nicht, ob er den Mann für völlig verrückt halten sollte, oder ob doch ein wenig Wahrheit in dem steckte, was er sagte.

Langsam wurde dem Pfarrer unwohl. Er wußte nicht, ob er den Mann für völlig verrückt halten sollte, oder ob doch ein wenig Wahrheit in dem steckte, was er sagt.

mehr hab ich grad nich gefunden, aber des is ja auch nich so wichtig! :D

sehr gern gelesen!!!

liebe grüße
frotte

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom