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Zuhause sein
Bereits seit fünfunddreißig Minuten steht Anne auf der alten Brücke über dem Fluss, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Die Straßenbahn ist bereits viermal hinter ihr vorbeigedonnert. Ihren Blick hat sie auf die hässlichen Wohntürme gerichtet, die im Nebel liegend die friedliche Atmosphäre zerstören. Sie spürt den Widerspruch zwischen deren Starrheit und dem vom Wind bewegten Wasser unter ihr nahezu körperlich. Dissonanz, Vibration von Kopf bis Fuß. Spannung wie im wirklichen Leben. Unstimmigkeit, die der Seele ermöglicht, sich in die Landschaft zu entleeren. Ihre Gedanken verlassen ihren Kopf, breiten sich aus auf dem Wasser unter ihr und plätschern dahin. Sie beobachtet die sich prachtvoll bewegenden Schwäne, den energischen Fluss, ahnt die verdeckte aber dennoch beständige und irgendwo bald untergehende Sonne, fixiert die markanten drei Hochhäuser, um Halt zu finden. Kein Sturm kann ihnen trotzen. Im Hintergrund, nur eine Ahnung: die Berge. Es riecht nach Bier und Schokolade, was nie ein Fremder verstehen wird, der nichts weiß von den Fabriken im Übergang zwischen Wasser und Land.
Der Wind wächst zum Sturm heran, der Anne die ungewaschenen Haare unbarmherzig ins Gesicht peitscht. Es wird kühler. Anne starrt auf das zehn Meter tiefer vorbeifließende Leben, und kann nicht länger ignorieren, dass sie eine Entscheidung treffen muss. Kurz beneidet sie den Strom unter ihr, der keinen freien Willen hat, sondern dessen Vorbestimmung es ist, sich bereits in wenigen Metern mit seinem großen Bruder zu vereinigen, ob es ihm gefällt oder nicht.
„Wir lassen dieses Leben, dieses Monster von Großstadt hinter uns. Bitte Anne, lass mich jetzt nicht allein. Komm mit mir. Endlich weg von alldem. Schreiben kannst Du doch überall. Und vielleicht sucht das Ruhedorfer Echo noch jemanden wie dich.“ So Holger am Abend zuvor. Er hatte den lang ersehnten Job angefangen, letzte Woche, in der Ruhedorfer Kurklinik. Sein halbes Leben war er unbeirrbar auf dieses Ziel zugesteuert. Ruhedorf – irgendwo kurz vor der Grenze, fernab von jeder Zivilisation. In der Nähe jenes bedrohlichen Gebirges, das ihr die Kehle zuschnürt. Sie hatte die Frage, was das für ihre Beziehung bedeuten würde, stets verdrängt und gehofft, dass die 300 Kilometer zusammenschrumpfen würden wenn sie es nur wollten, irgendwie. Dann Holgers Vorschlag gestern Abend, am Ende eines ausgedehnten Telefonats, in dem sie keinen einzigen Kilometer Entfernung mehr gespürt hatte.
Wie ruhelos sie gewesen war in den letzten Jahren. Hamburg, Berlin, München – ständig auf der Reise, immer auf der Suche, ohne zu wissen wonach. Neue Menschen, neue Jobs, neue Lebensentwürfe. Und jetzt, wo sie hier heimisch geworden war, hat sie in Holger den Fixpunkt in ihrem Leben gefunden, endlich. Er hat sie ihren Frieden finden lassen.
Anne öffnet den Reißverschluss ihrer Jacke. Vielleicht würde der Wind ihre Gedanken sortieren, die Gradlinigkeit des Flusses von ihr Besitz nehmen. Sie wendet ihren Blick in Richtung Innenstadt. Diese Stadt ähnelt ihr so sehr, dem Dasein als solchen, den Menschen. Landschaftliche Idylle, verträumte Bergketten, Ruhe – das war gekünstelt, wie ein romantischer Film. Nett, ab und an, aber doch nicht echt, nicht realistisch, nicht das Leben. Glatt, ohne Widersprüche, ohne Spannung, ohne Profil. Harmlos, sanft wie Weichspüler. Aber so war das Leben nicht, so war sie nicht. Kann der Mensch in einer Umgebung leben, die ihm nicht entspricht, ihm nicht ähnelt? Heißt zuhause sein nicht eins sein mit sich und dem Umfeld, wenn die Grenzen verwischen zwischen Innen und Außen? Wenn das Innen Einfluss nimmt auf sein Drumherum, sich das Außen gestalten lässt?
Anne holt das bereits stark beanspruchte Foto, das Holger ihr zum Abschied geschenkt hat, aus ihrem Portemonnaie. Sanft streicht sie ihm über seine braunen Locken. Ich liebe ihn, denkt sie. Er ist all das, was sie nie sein kann. Soll sie ihr Zuhause verlassen für den einen Menschen, bei dem sie zuhause ist? Ihre nächsten Jahre verbringen mit Berichten über den Taubenzüchterverein von Ruhedorf, die Kurkonzerte, die Kirchweih als Höhepunkt des Jahres? Wie soll sie schreiben ohne wirkliches Leben um sie herum, das sich lohnt festgehalten, fixiert zu werden? Hier dagegen die Möglichkeit, jederzeit zwischen Großveranstaltung und Abgeschiedenheit zu wechseln. Genügend Ecken, um sich bei Bedarf zu verkriechen.
Ganz hinten in der Ferne die Berge. Näher müssen sie nicht kommen, und wenn sie sie doch sehen will, ab und an, dann fährt sie zu ihnen, um sie jederzeit wieder verlassen zu können. Aber jeden Tag diese Begrenztheit, diese Atemnot? Kein Horizont, keine freie Sicht, keine tausend Perspektiven, um ihren Blick schweifen zu lassen?
Rastlos verlässt Anne die Brücke, den Fluss, der ein wenig Kontinuität in das wirre Leben dieser Stadt bringt, die der himmlischen so sehr ähnelt. Sie lässt sich treiben durch die zwischen die Häuser gepressten Furchen der Innenstadt. Gejagt von der Angst vor einer Entscheidung, die sie sich und Holger schon seit 24 Stunden schuldig ist, passt sie ihre Geschwindigkeit an die Schnelllebigkeit des Stadtzentrums an. Schneller, immer schneller läuft sie durch die Straßen, gehetzt von dem Ekel vor diesem anderen Leben. Die Dämmerung breitet ihre Arme nach ihr aus, künstliches Licht beginnt langsam das natürliche nur unzureichend zu ersetzen. Schwere Autos brausen unaufhaltsam nur wenige Zentimeter entfernt an ihr vorbei. Gemeinsam mit der Musik aus den Gaststätten, dem ihr unverständlichen Palaver aus dem irakischen Kulturverein, dem Bohren der Bauarbeiter in einem der vielen leeren Ladenlokale bilden sie die unverwechselbare Etüde der Stadt. Kinder spielen zwischen den bunten Blechkästen und werden dies auch in Stunden noch tun. Nur die wenigsten von Ihnen sprechen Annes Sprache. Anne hastet an all dem Vorbei, sieht bekannte Gesichter, tauscht von weitem flüchtige Grüße aus und deutet Händewinken an. Man hält sie nicht auf, wieso auch. Auf den so genannten Gehwegen ist das Gehen nur erschwert möglich, wenn man den Slalom um den Unrat und die Hundehaufen erfolgreich bewältigt. Je tiefer sie eindringt in die Innenstadt, je enger die Straßen, desto wärmer wird es. Die Fassaden der Häuser sind teilweise alt, uralt, und keiner bemüht sich sie jung zu halten trotz Jugendstil. Daneben gequetscht moderner Wohnungsbau, rosa neben grün, zweigeschossig neben fünfgeschossig. Verordnete Uneinheitlichkeit, Unebenheit, Unpassenheit. Eine Bar nach der anderen, eine lauter als die andere, die potentiellen und ehemaligen Gäste sich lauthals austauschend auf der Straße stehend.
Erst im Ebertpark, dem die Häuser nicht mehr Platz zugestehen als einem Garten, hält Anne erschöpft an. Innerlich immer noch getrieben, sinkt sie auf ihre Bank, die vom Wetter gezeichnet ist. Wer sollte es auch verhindern. Er ist der einzige seiner Art in diesem Teil des Zentrums, eine grüne Lunge im Häusermeer der Innenstadt. Anne verschnauft, kommt langsam zur Ruhe. Auch der Sturm lässt nach. Drei der vier Lampen der Oase sind defekt, dies schon seit vielen Monaten, so dass sich die Dämmerung umgestört breit machen kann. Den strengen Geruch nach Hundekot kann auch sie nicht vertreiben. Auf der Bank neben Anne ein alkoholisierter Penner, der sich gemächlich brummend auf die Nacht einrichtet. Auf dem Kinderspielplatz gegenüber werden sich in wenigen Stunden die Menschen einfinden, die den Bodensatz dieser Stadt bilden. Am nächsten Morgen müssen die Erzieherinnen des angrenzenden Kindergartens erst routiniert die Spritzen aufsammeln, bevor sie ihre Schützlinge loslassen können.
Annes Entscheidung ist gefallen, als die Sonne endgültig untergeht für diesen Tag, weit weg hinter den Bergen, und den Moloch in die Nacht entlässt. Deren wiederkehrende Aufforderung, sich endlich etwas Ruhe zu gönnen, wird er sich in den nächsten Stunden erneut erfolgreich widersetzen. Anne zögert noch ein paar Minuten, um ihren neugeborenen Gedanken Zeit zu geben, sich zu Worten zu formen, bevor sie ihr Handy aus der Tasche holt und Holgers Nummer auswendig wählt. Die Stadt, sagt man, die Stadt ist der Ort der Vielfalt. Und genau wie das Außen ist auch das Innen nicht immer schön.