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Nadjas Dämon
Schon als Nadja mir entgegenläuft, merke ich, dass etwas nicht stimmt.
„Papa!“, ruft sie und ihre Stimme hallt hell von den Wänden der verlassenen Fabrikhalle wider. Nadja klingt schuldbewusst. Sie weiß, dass sie hier nicht spielen darf. Nicht, seitdem diese Sache passiert ist. Dass sie es dennoch tut, erzürnt und enttäuscht mich. Mit zwölf sollte sie alt genug sein, um meine Sorge zu verstehen.
Kurz bevor Nadja mich erreicht, verlangsamt sie ihren Schritt. Ungefähr einen Meter vor mir bleibt sie stehen. Ihr Blick ist gesenkt, die Arme verbirgt sie hinter ihrem Rücken.
„Es ist nicht meine Schuld!“, murmelt sie. „Ich kann nichts dafür!“
Ich sehe ihr an, dass sie Angst hat. Ebenso wie ich. Aber ich bemühe mich, mir nichts anmerken zu lassen.
„Was ist mit deinen Armen, Schätzchen?“
Ich hoffe, dass meine Stimme beruhigend klingt.
Nadja beißt sich auf die Unterlippe und schweigt. Sie wirkt ertappt.
Ich wiederhole meine Frage. Diesmal eine Spur schärfer.
„Was ist mit deinen Armen?“
Endlich blickt sie mich an. Auf ihrer Stirn wölbt sich eine kleine Sorgenfalte. In ihrem jugendlichen Gesicht sieht das übertrieben melodramatisch aus. Fast schon albern. In einer anderen Situation würde ich sicherlich lachen müssen.
Jetzt aber ist mir nicht zum Lachen zumute.
Ich räuspere mich, bevor ich fortfahre.
„Zeig mir deine Arme!“, fordere ich sie auf.
Nadja erstarrt einen Moment. Dann schüttelt sie den Kopf.
„Papi!“
Es klingt wie eine Bitte. Nur nicht weiterbohren.
Aber ich bin nicht in der Stimmung nachzugeben. Nicht in dieser Angelegenheit.
„Du hast gehört, was ich gesagt habe!“
Mein Tonfall macht deutlich, dass ich nicht mit mir handeln lasse.
Nadja fügt sich. Widerwillig streckt sie mir ihre Arme entgegen. Ihre Handgelenke sind blau und dick geschwollen.
Nackte Wut steigt in mir hoch. Einen kurzen Augenblick lang fürchte ich, die Kontrolle zu verlieren. Nur mit äußerster Mühe gelingt es mir, mich zu beherrschen.
Nadja zittert. Sie fährt sich mit den Fingern über ihr Gesicht.
Ich sage kein Wort. Was vermutlich auch besser ist. Ich könnte jetzt sowieso nur brüllen. Aber ich muss die Ruhe bewahren.
Nadja kämpft mit den Tränen. Ein aussichtsloses Unterfangen.
„War er das?“, gelingt es mir endlich zu fragen. Meine Stimme klingt rau und heiser. „Hat er das getan?“
Nadja nickt fast unmerklich.
„Ich habe ihm gesagt, dass er das nicht tun darf“, flüstert sie leise. Ich muss mein Ohr an ihren Mund pressen, damit ich sie verstehen kann. „Aber er hört nicht auf mich! Und er ist viel stärker als ich.“
Endlich erlaubt sie es sich, zu weinen.
Ich kann es kaum ertragen, sie so zu sehen. Ein Häufchen Elend. Verängstigt, verletzt, missbraucht. Gott, wie sehr ich sie liebe!
Eine Weile sehe ich sie einfach stumm an. Ich weiß, dass jede weitere Frage ihre Qual nur noch verschlimmert. Am liebsten würde ich es dabei belassen. Ich fürchte mich vor dem, was jetzt kommt. Aber natürlich muss ich alles wissen. Was bleibt mir in meiner Situation anders übrig? Ich muss einfach!
„Hat er… hat er nur die Arme…?“
Ich bringe es nicht fertig, den Satz zu Ende zu sprechen.
Nadja fehlt die Kraft zum Lügen. Sie seufzt schwer. Schluchzt laut. Schüttelt den Kopf. Schluchzt wieder.
Dann zeigt sie mit zitternden Fingern auf ihren Schoss.
„Dort auch!“, wispert sie.
Ich brülle wie ein wunder Stier. Meine Stimme überschlägt sich. Ich nehme kaum wahr, wie Nadja angstvoll zusammenzuckt.
Hastig knie ich nieder und schiebe ihren Rock nach oben. Ich habe ihr strikt verboten, ihn zu tragen. Manchmal zieht sie ihn dennoch an. Weil er zu schön ist, um nur im Schrank zu hängen.
Ich merke, dass Nadja meine groben Berührungen unangenehm sind. Aber ich kann keine Rücksicht darauf nehmen. Muss alles offen legen.
Meine schlimmen Befürchtungen bewahrheiten sich. Ihre Strumpfhose ist fort. Und zwischen ihren Beinen leuchten weitere Blutergüsse.
In diesem Moment ertönt ein lautes Scheppern. Aus einem hinterem Winkel der Halle. Dort, wo der Schutt am höchsten liegt.
Nadja zuckt merklich zusammen. Ich hingegen kann mein Glück kaum fassen. Mit einem Mal scheint sich alles um mich herum zu drehen.
Das Schwein versteckt sich noch hier!
Meine Wut mischt sich mit freudiger Erregung. Mit geballten Fäusten stehe ich auf.
Bevor ich auch nur einen Schritt machen kann, umfasst Nadja meine Beine.
„Geh nicht!“, fleht sie.
In ihrem Gesicht kann ich deutlich lesen, wie ernst es ihr damit ist.
„Er ist kein Mensch, sondern ein…“ Nadja sucht nach den passenden Worten. Als sie sie endlich findet, klingen sie fast zärtlich. „Er ist ein Dämon!“
Ich verharre einen Augenblick lang. Dann streiche ich mit meinen Fingern gedankenlos durch Nadjas Haar.
„Ein Dämon“, wiederhole ich tonlos. Es ist weder eine Feststellung noch eine Frage.
Nadja nickt eifrig. Mit großen Augen sieht sie mich an. Es wirkt wie ein verzweifelter Versuch, mich zu hypnotisieren.
Ich schenke ihr mein wärmstes Lächeln.
Dann befreie ich mich aus ihrer Umklammerung. Obwohl sie mich mit all ihrer Kraft festhält, ist es ein Kinderspiel. Nadja ist einfach nicht stark genug, um mich zurückzuhalten. Als ich mich von ihr löse, heult sie panisch auf.
„Er hat lange Krallen an den Fingern“, ruft sie beschwörend. „Und seine Zähne. Sie sind alle spitz und scharf. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wie… wie bei einem Raubtier.“
Ich lächele noch immer, als ich auf den Schutthaufen zugehe. Es war ein Fehler von ihm zu bleiben. Ich fühle mich berauscht. Komme mir vor wie ein Racheengel.
„Papa!“ Nadjas Stimme bebt. „Papa, lass uns gehen! Bitte!“
Ihre Angst ist nun beinahe greifbar.
Ich ignoriere sie. Denke an die Blutergüsse zwischen ihren Beinen. Die Sache muss aus der Welt geschafft werden. Ein für alle Mal. Ich habe gar keine andere Wahl.
„Er wird dich töten, Papa!“, schreit Nadja hysterisch. „Hörst du? ER WIRD DICH TÖTEN!“
Ich zögere kurz, drehe mich dann zu ihr um. Ein Fehler.
Es rumpelt wieder. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich gerade noch einen Gegenstand auf mich zufliegen. Instinktiv ducke ich mich. Keinen Moment zu früh. Das Ding saust knapp an meinem Kopf vorbei. Ich kann sogar einen Luftzug spüren. Laut scheppernd fällt das Wurfgeschoss hinter mir zu Boden.
Erst als ich mich danach bücke, begreife ich, was ich für ein Glück hatte. Es ist eine zirka halbmeterlange Eisenstange. Dick genug, um jemandem damit den Schädel einzuschlagen. Der liebe Gott ist auf meiner Seite.
Als ich den Metallstab umfasse, empfinde ich beinahe so etwas wie Dankbarkeit. Demonstrativ recke ich ihn nach oben, so dass mein Angreifer ihn sehen muss.
Die Dinge wenden sich. Jetzt habe ich eine Waffe.
Aus der dunklen Ecke ertönt ein wütendes Geheul. Klingt so ein Mensch? Nadjas Worte kommen mir wieder in den Sinn. Ein Dämon, hat sie gesagt. Ich spucke geräuschvoll aus. Und wenn es so wäre? Egal! Ich habe meine eigenen Dämonen, denen ich mich stellen muss. Einen weiteren kann ich nicht gebrauchen.
Entschlossen schreite ich auf das Versteck meines Angreifers zu. Schritt für Schritt, unaufhaltsam. Erst als ich den Schuttberg erreiche, zögere ich. Mich schaudert es. Meine Selbstsicherheit ist mit einem Mal wie weggeblasen. Unschlüssig blicke ich auf den unüberschaubaren Haufen aus Geröll, rostigem Metall und losem Gestein. Irgendwo dort in dem Chaos lauert mein Gegner. Die Vorstellung dort hinein zu müssen, erfüllt mich mit Angst. Ich packe die Stange in meiner Hand noch fester.
Dann schreite ich los.
Hinter mir gellt Nadja plötzlich schrill eine Warnung.
„Er kommt!“, schreit sie. Immer wieder. „Er kommt! Er kommt! Er kommt! Er kommt!“
Erschrocken blicke ich mich zu allen Seiten um. Aber ich kann niemanden entdecken. Nadjas Gebrüll verwandelt sich in ein groteskes Gewimmer.
Ich wünschte, sie würde still sein. Es fällt mir schwer, mich so auf meine Aufgabe zu konzentrieren. Am liebsten würde ich Nadja eine runterhauen, damit sie endlich Ruhe gibt.
Sofort bereue ich diesen Gedanken. Schäme mich dafür. Niemals könnte ich Nadja das antun. Jemanden den man so sehr liebt, schlägt man doch nicht. In Stunden der Not kommen einem die seltsamsten Dinge in den Sinn.
Inmitten des hoch aufgetürmten Schutts entdecke ich einen Durchgang. Der Einlass in das Reich meines Feindes ist dunkel und eng. Als ich mich vorsichtig hindurchtaste, verstummt plötzlich das Heulen des Dämons. Ich horche angestrengt, vernehme aber nichts, außer meinem eigenen Atem. Auch von Nadja ist kein Mucks mehr zu hören. Es ist, als sei ich in eine andere Welt eingetaucht. Die Stille ist beklemmend. Angespannt bahne ich mir einen Weg durch das Gerümpel. Nach einigen Schritten gabelt sich der Weg. Ich zögere einige Sekunden, beschließe dann aber links weiter zu gehen.
Plötzlich ein Geräusch. Ich zucke zusammen. Drehe mich so schnell ich kann um die eigene Achse. Zu spät!
Der Angriff überrascht mich. Mit einem Mal ist der Dämon über mir. Er klammert sich an meinem Hals fest, den Schultern, meinem Kopf, den Haaren. Die Eisenstange gleitet mir aus der Hand. Ich versuche meinen Widersacher wegzustoßen, verliere aber das Gleichgewicht.
Noch während ich falle, rammt er mir seine Zähne in die Wange. Der Schmerz lässt mir den Atem stocken. Das sind keine menschlichen Zähne. Sie sind furchtbar spitz. Messerscharf. Die Zähne eines Raubtieres. So wie es Nadja gesagt hat.
Blut läuft mir das Gesicht herunter. Es spritzt an meinen Hals und durchweicht meinen Hemdkragen. Ich brülle wie am Spieß. Der Dämon stößt einen wilden Triumphschrei aus.
Auch Nadja ist wieder zu hören. Sie kann nicht sehen, wer bei dem Kampf die Oberhand behält. Das Gerümpel verdeckt ihr die Sicht.
Ihre Rufe sind laut und hasserfüllt.
Mit einem Mal kommen mir wieder die blauen Flecken zwischen ihren Schenkeln in den Sinn.
„TÖTE IHN!“, geifert sie. Ihre Stimme klingt plötzlich um zehn Jahre gealtert. „TÖTE DAS SCHWEIN! MACH ES ENDLICH TOT!“
Der Dämon schlägt erbarmungslos auf mich ein. Mit seinen langen Krallen zerkratzt er meine Haut. Ich versuche verzweifelt mein Gesicht zu schützen. Plötzlich legt sich eine enge Schlinge um meinen Hals. Panisch versuche ich mich loszureißen. Verzweifelt taste ich nach der Eisenstange. Ich weiß, dass sie irgendwo hier liegen muss. Aber ich greife ins Leere.
Die Schlinge zieht sich immer fester zusammen. Mühsam schnappte ich nach Luft. Mir wird schummrig.
Mit einem Mal ist es unheimlich ruhig. Nur mein lautes Japsen ist noch zu hören.
Es ist Nadja, die die Stille durchbricht.
Ihre Stimme ist wieder normal. Die eines zwölfjährigen Mädchens.
„Papa?“
Es klingt unsicher. Verängstigt. Fragend.
Der Dämon hält einen Augenblick inne. Die Schlinge um meinen Hals lockert sich ein klein wenig.
In diesem Moment erfühlen meine Fingerkuppen die Metallstange. Hastig greife ich zu. Das ist meine Chance. Eine andere werde ich nicht bekommen. Ich bin entschlossen, sie zu nutzen.
Mit aller Wucht schlage ich zu. Ich treffe den Kopf der Kreatur. Es gibt ein hässliches, knirschendes Geräusch. Der Dämon stöhnt auf. Dann sackt er auf mir zusammen. Zitternd löse ich die Schlinge von meinem Hals. Hole keuchend Luft. Jeder Atemzug tut weh, aber der Schmerz macht mich glücklich, weil er mir zeigt, dass ich es überstanden habe. Jetzt erst sehe ich, womit mich mein Feind gewürgt hat. Es sind Mullbinden und die Strumpfhose, sorgsam ineinander zu einem Strick geflochten. Ich schließe die Augen und atme ein letztes Mal tief durch. Dann erst schiebe ich den fremden Körper von mir herunter.
Mein Feind ist noch bei Bewusstsein, aber so benommen, dass er keine Gefahr mehr darstellt. Im schummrigen Licht der Halle blicke ich meinen Widersacher an. Wie konnte ich mich nur vor ihm fürchten? Selbst ein Blinder könnte sehen, dass dies kein Dämon ist. Vor mir liegt ein Junge. Nicht besonders groß, mit pickliger Haut, höchstens achtzehn. Die Haare hat er sich abrasiert. Auf seinem Schädel klafft eine offene Wunde. Die Fingernägel des Jungen sind lang und schwarz lackiert. Seine Zähne hat er sich spitz gefeilt. Es soll wohl unheimlich aussehen, wirkt jetzt nicht mehr gefährlich sondern einfach bloß ungepflegt. Zwei Vorderzähne sind bereits ganz herausgebrochen. Ich mustere ihn abschätzig. Nadjas Dämon ist so erbärmlich, dass ich beinahe Mitleid mit ihm habe.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich den Jungen zu Gesicht bekomme. Man sagt, dass er ein Herumtreiber ist. Niemanden mehr hat. Niemandem vertraut. Vorgestern habe ich ihn zusammen mit Nadja erwischt. Er ging mit ihr die Straße entlang zu den Fabrikhallen. Sie redeten, wirkten beunruhigend vertraut. An diesem Tag hat er auch zum ersten Mal ihre Verbände gelöst.
Schon damals wusste ich, dass ich es beenden muss. Es war ein Fehler, die Sache so lange herauszuzögern.
Der Junge stöhnt und schlägt die Augen auf. Es ist offenkundig, dass er große Schmerzen hat. Unversöhnlich starrt er mich an.
„Ich weiß alles“, zischt er.
Irgendwo hinter der Geröllwand schreit Nadja angstvoll auf.
Ich lächele milde. Der Junge wendet sich ab.
„Keine Angst!“, flüstere ich ihm zu. „Du wirst kaum etwas merken.”
Langsam hebe ich die Stange. Es wird schnell gehen. Ein einziger Schlag – und alles ist vorbei. Ich habe Erfahrung darin. Es ist kaum anders als damals bei unserer Katze Mimi, deren Beine von einem Auto zermatscht worden waren.
Als ich danach wieder zu Nadja trete, ist sie völlig apathisch. Ihr Blick ruht auf den Mullbinden in meinen Händen, die ich von der Strumpfhose gelöst habe. Gleich werde ich ihr damit wieder die Wunden verbinden. So wie ich es immer tue, wenn es passiert ist.
Nadja kennt das. Sie weiß, um meine Sorgen. Wie konnte sie nur zulassen, dass dieser Taugenichts sie abnimmt? Warum hat sie ihn das sehen lassen, was niemand sehen darf? Wieso nur musste sie unser Geheimnis mit ihm teilen?
Nadjas Blick ist völlig ausdruckslos. Mein Zorn auf sie verfliegt. Mit einem Mal überkommt mich eine unglaubliche Sehnsucht nach ihren Berührungen. Nur Gott und Nadja wissen, wie sehr ich sie liebe.
Zuhause werde ich sie in meine starken Arme schließen. Mich an sie schmiegen. Sie zärtlich streicheln und liebkosen. Mit Küssen benetzen.
Und ich werde meine Augen schließen und mir vorstellen, dass Nadja lächelt, wenn ich in sie eindringe.