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Spießig
Anne hasst Spanien wie die Pest - die Hitze, den Staub, das ständige Fehlen von Seife oder Papier auf den Toiletten, den Müll in den Bauruinen, den Gestank nach Autoabgasen, das dauernde Hupen und die viel zu lauten Leute. Sie hasst es und ist trotzdem mitgekommen. Soroush zuliebe.
Der ist nach Jahren der Einladung seines Stiefbruders Sven gefolgt. Eigentlich ist Sven nicht einmal sein Stiefbruder. Er war bereits ein Teen, als seine Mutter Soroushs Vater kennenlernte. Das war vor 20 Jahren.
"Tapas!", hat Anne heute Morgen trompetet und so dramatisch mit dem Handgelenk gewedelt wie ein italienischer Obstverkäufer. "Was soll das Getue um Tapas? Glauben die, wir fräßen nur Sauerkraut? Als könnte man in Deutschland irgend einem kulinarischen Trend entgehen!"
Tatsächlich hat auch Soroush das Gefühl, dass der Wahlspanier Sven ihn für einen traurigen Hinterwäldler hält.
"Du musst unbedingt den Jibia probieren", insistierte er gestern und schob Anne den Teller zu. Sie spießte ein Stückchen auf und aß es. "Sehr lecker", sagte sie höflich. Soroush wusste, dass sie am liebsten die Schultern gezuckt hätte und etwas gesagt wie: "Tintenfisch eben!"
Sie stürzen sich in das Alltagsleben der Andalusier, das, wenn man Sven Glauben schenken darf, aus Tapas, Fino, Feria und Flamenco besteht. "Klar!", ätzt Anne im Bad vor dem Spiegel, während sie versucht, ihre drahtigen Locken in Form zu bringen, "In Köln kennen die Leute ja auch nichts anderes als Halve Hahn, Kölsch und Karneval. Das meint der doch nicht ernst?"
Er sieht zu, wie sie ihre Krause mit der Bürste bearbeitet, was dazu führt, dass die Haare nach einer Weile in alle Richtungen abstehen.
„Warum ärgerst du dich so? Lass uns einfach die Sonne genießen und…“
„Ich sag dir, was mich ärgert! Mich ärgert, dass dein Vater und seine illustre Familie sich dir so derartig überlegen fühlen!“
Mit einer abschließenden, wütenden Bewegung knotet sie ein Tuch um ihre Locken: Notfrisur.
Sven lässt den BMW auf dem Parkplatz ausrollen. Vera, seine zweite Frau, ist Britin. Sie trägt ein Kostüm mit kurzem Rock, ein japanisches Schriftzeichen auf dem Knöchel und eine Designersonnenbrille, deren Logo vermutlich bis London Barnes zu sehen ist. Neben ihrem Mann mit seinen knappen zwei Metern sieht sie aus wie ein verhungerndes Kind neben einem Gladiator.
Sven ist nicht nur groß, sondern auch kräftig; das von der spanischen Sonne gebleichte Haar fällt ihm bis auf die Schultern. Er sieht Soroushs Vater, dessen Ahnen wahrscheinlich irgendwann auf einem Wikingerboot in Rotterdam einschifften, viel ähnlicher als der leibliche Sohn. Genau wie der Vater ist auch Sven ein Lebemann - risikofreudig, flexibel, immer auf dem Sprung.
Soroush hat irgendwann aufgehört, den Erwartungen des Vaters zu entsprechen. Aus ihm wurde nichts besonderes, kein Künstler, kein Millionär, keine Berühmtheit. Er hatte nicht einmal wilde Jahre, höchstens ein paar komische Wochen. Er ist der Typ mit der Haftpflichtversicherung, dem bar bezahlten Auto und dem Traum vom Häuschen im Grünen. Er sei "zu sicherheitsorientiert", wie Svens Mutter sagt. Eigentlich meint sie "spießig".
Sven hingegen hat in Villen und Bruchbunden gewohnt. Er konsumiert alles, was sich konsumieren lässt - Möbel, Autos, Kleider, Drogen, Menschen. Nichts in seinem Leben hat Bestand. Am Ende seiner Glückssträhnen steht immer eine Bruchlandung, aber Sven schreckt das nicht. Er nimmt jeden Absturz mit Nonchalance; Soroush hat ihn niemals deprimiert oder beschämt vorgefunden. Selbst der Gefängnisaufenthalt wegen Drogenbesitzes und die private Insolvenz haben seinen Optimismus nicht gebrochen. "Er lebt eben viel zu gern", sagte der Vater dazu und lächelte wohlwollend.
Soroush öffnet ein frisches Päckchen Tabak. Er fragt sich, ob er immer noch eifersüchtig ist und ob das in seinem Alter nicht langsam albern wird. Vielleicht sollte er seinem Stiefbruder die Freude ein paar erstaunter „Ahs“ und „Ohs“ machen, wenn dieser ihm die Welt erklärt.
"Weißt du noch, als wir diesen Urlaub auf Mallorca gemacht haben, als dein Vater und meine Mutter gerade geheiratet hatten? Wo ich den Sonnenstich hatte und das Zimmer vollgekotzt habe?"
Soroush leckt das Blättchen an und nickt. Er wundert sich, dass Sven so gut wie nie Englisch redet. Vera, die kein Wort Deutsch spricht, fummelt seit Tagen schon gelangweilt an ihren Acrylnägeln herum. Anne studiert die Speisekarte. Er kann ihr Unbehagen spüren.
"Du hast den ganzen Mist aufgewischt und mir was aus der Apotheke geholt." Sven gibt Soroush Feuer und sieht ihm einen Moment beim Rauchen zu.
"Ich hab mir damals so gewünscht, du wärst mein richtiger Bruder.“
Als Soroush erstaunt aufblickt, lächelt Sven fast scheu und sieht dann weg.
„He, Bausparer“, raunt Anne über das Brummen der Motoren dicht an seinem Ohr und legt ihre Hand auf seine. „Alles okay bei dir?“
Er bemerkt ihren forschenden Blick hinter den verschmierten Brillengläsern, das wirre, mausbraune Haar und das Lateinbuch auf ihrem Schoß. Wenn der Airbus gelandet ist, werden sie in ihren alten Fiat steigen und nachhause in die enge Wohnung fahren, um sich den spanischen Staub abzuduschen und Spaghetti mit Tomatensauce zu kochen. Und nachdem sie sich satt gegessen haben, werden sie sich im bitterkalten Schlafzimmer unter der schweren Winterdecke lieben, lebendig wie zwei Robben unter einer Eisscholle.
Es wird keine Sensationen geben - höchstens erboste Nachbarn, die sich über zu laute Musik beschweren, einen Strafzettel für falsches Parken oder eine Beförderung für Anne. Spießig eben.
Erleichtert küsst Soroush das aufmerksame Lächeln seiner Frau. "Alles gut", sagt er und beschließt, seinem Stiefbruder zu Weihnachten ein Päckchen mit Schwarzbrot und Lübecker Marzipan zu schicken. Wer weiß - vielleicht wird Sven sich doch darüber freuen.
(verwendete Wörter von Sim: Pest/Sauerkraut/Wikinger/Gladiator/Airbus)