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Julia und die Plastikschlaufe
“Was machst du da?” höre ich Julia’s Stimme hinter mir. „Schleich dich nicht immer so an Leute ran, hörst du?“ „Warum nicht?“ „Weil es ihnen Angst macht.“ „Hast du dich gefürchtet?“
„Nein, ich nicht, ich kenne dich ja.“ Ich drehe mich um. Julia lacht genüsslich. „Ich hab dir was mitgebracht!“ sagt sie triumphierend und hält ihre Hände hinter dem Rücken versteckt. „Von wo denn?“ frage ich, merke aber, es ist die falsche Frage. „Was ist es denn?“ bessere ich mich aus und versuche erwartungsvoll auszusehen. „Ich weiß nicht!” sagt sie stolz und lässt mir eine rote Plastikschlaufe in die ausgestreckte Hand fallen. „Eine Plastikschlaufe.“ Sage ich und: „Danke, Julia, das ist aber lieb von dir!“ Stolz grinst sie, dreht sich dann plötzlich um und läuft zum Haus zurück. Ich höre sie noch glücklich kreischen und das Willkommensgebell des Hundes. Insgeheim frage ich mich, was meine Tochter denn diesmal zerlegt hat, um mit so etwas daherzukommen, doch zufällig kommt es mir wie gerufen. „So!“ sage ich, als ich mithilfe des eben erhaltenen Geschenkes endlich den Zaun des Hühnerstalles repariert habe. Die Hennen, die Julia „Fini“ und „Delfini“ getauft hat und ihr zahlreicher Nachwuchs gackern mir aufgeregt nach.
„Gehen wir jetzt schwimmen?“ will Julia wissen, kaum betrete ich das Haus. „Heute gehen wir tauchen!“ antworte ich und setze ihr die Taucherbrille auf. „Wirklich?“ sie kann gar nicht stillstehen, zappelt mit ihren Beinen schon herum wie ein Fisch, obwohl wir ja noch fern vom Wasser sind. „Ja, wirklich, pack deine Badehose ein!“ Zwanzig Minuten durch den Wald sind es, um den Fluss zu erreichen. Sie hat noch immer die Taucherbrille auf und sieht beim Gehen um sich, als sähe sie die Welt heute mit anderen Augen. Der Hund kommt uns auf halben Weg nachgerannt und Julia schreit: „Klaus!!“ und umarmt den Glücklichen. Das Wasser sieht heute unerwartet grün aus, schlammiggrün, aber mit einem vegetativen Unterton. „Schau, eine Schlange!“ plärrt die Kleine und zeigt auf eine Ringelnatter, die ängstlich aufs andere Ufer wechselt. Julia liebt Schlangen. Einmal hat sie eine verletzte gefunden und wir haben sie zum Tierarzt gebracht. Als die Oma zu Besuch war und das Reptil in seinem Terrarium gesehen hat, ist sie gleich ausgezuckt: „Na pfui deibel! Was für a grausliches Viech!” und hat mir Vorträge gehalten, von wegen “Was wenn sie dann einmal eine Giftschlage sieht und glaubt die will nur spielen?”
Julia hat sich schon die Badehose angezogen, die rote mit den Schiffsmotiven, doch die Kälte des Wassers schreckt sie ab. „Aaahh!“ kreischt sie und tunkt vorsichtig den großen Zeh ein. Klaus, der dickliche Bernhardiner, ist schon hineingesprungen und schwimmt ein paar Längen.
„Komm, ich geh jetzt auch rein, wenn du es schnell machst ist es nicht so schlimm!“ rufe ich meiner Tochter zu, zögere aber auch kurz, angesichts der Temperatur. „Auf drei!“ meint sie und wir zählen zusammen „EINS! ZWEI! DREIIII!!!“ kurz schreien wir beide auf, als wir ins kalte Nass eintauchen, dann fühlt es sich plötzlich gar nicht so schlimm an. Vor mir schnorchelt die Kleine schon herum, mit dem Kopf noch halb über Wasser. Ich helfe ihr unter der Oberfläche zu bleiben und schwimme neben ihr her. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu sein. Was sie da unten wohl sieht? Versunkene Zivilisationen, die Ruinen zu Fischspielplätzen umfunktioniert?
Das Glitzern des Katzengoldes, das schon manchen Schatzsucher in die Irre geführt hat?
Ich will sie liebevoll umarmen, verkneife es mir aber, um sie in ihrem Spiel nicht zu stören.
Klaus schwimmt noch immer, wobei sein wuchtiger Körper fast unbeholfen aussieht.
Aufgeregt taucht Julia wieder auf, kehrt zurück in eine Welt die uns beiden gehört. „Ich hab einen Gummistiefel gefunden!“ sagt sie und zieht das grindige Ungetüm aus dem schlammigen Wasser. Kleine Fische versuchen sich noch aus dem Stiefel in den Fluss zu retten und auch ein Flusskrebs, der ihn zu seinem Zuhause erkoren hatte, lugt vorsichtig über den Rand.
„Leg ihn wieder hin, wo du ihn her hast!“ sage ich, zur Hälfte aus Mitleid mit dem Krebs, zur anderen aus Ekel. Julia lacht laut auf und lässt ihren Schatz wieder ins Grün zurücksinken. Als wir aus dem Wasser steigen, tut Klaus es uns nach und schüttelt sich so sehr, dass ich „Nein, Klaus!“ rufen muss. Die kleine Julia, begeistert von der Schüttelei des Hundes, springt wild herum und dreht sich im Kreis bis ihr schwindlig wird, schafft es aber nicht ihn glaubwürdig nachzuahmen.
Zuhause will sie sofort zum Hühnerstall um Fini, Delfini und deren Küken zu füttern. Sie reibt das, aus Kukuruzkörnern bestehende Futter in ihren kleinen Händen und meint: „Das fühlt sich lustig an!“ Dann verstreut sie es am Boden und lacht über das hektische Pecken der Vögel. „Schau mal!“ sagt sie plötzlich. „Die Hendl haben ja auch eine Plastikschlaufe!“ sie zeigt auf das Produkt meiner Improvisationsgabe. „Natürlich!“ sage ich fröhlich. „Sie haben damit ihr Haus repariert!“ Und dann drücke ich meine liebe Julia ganz fest.
Verwendete Wörter:
9. gepostet von al-dente:
* Hühnerstall
* Zivilisation
* Plastikschlaufe
* tauchen
* grün
VERSION 2
“Was machst du da?”, höre ich Julia’s Stimme hinter mir. „Schleich dich nicht immer so an Leute ran, hörst du?“
„Warum nicht?“
„Weil es ihnen Angst macht.“
„Hast du dich gefürchtet?“
„Nein, ich nicht, aber Leute wie Oma...“
Ich spreche es nicht aus, zuviel habe ich schon darüber gesprochen. Ich weiß nicht, ob Julia versteht, wie schwer es für mich ist, aber manchmal scheint sie kurz davor mir zuzuschreien: „Ich lebe!“ Für eine Weile schweigen wir. „Mama?“ Ich drehe mich um, versuche diese Gedanken hinter mir zu lassen, zu lächeln. Julia lacht genüsslich. „Ich hab dir was mitgebracht!“, sagt sie triumphierend und hält ihre Hände hinter dem Rücken versteckt. „Von wo denn?“, frage ich, merke aber, es ist die falsche Frage. „Was ist es denn?“, bessere ich mich aus und versuche erwartungsvoll auszusehen. „Ich weiß nicht!”, sagt sie stolz und lässt mir etwas in die ausgestreckte Hand fallen. „Eine Plastikschlaufe.“, Sage ich und: „Danke, Julia, das ist aber lieb von dir!“ Sie grinst, dreht sich dann plötzlich um und läuft zum Haus zurück. Ich höre sie noch glücklich kreischen und das Willkommensgebell des Hundes.
Insgeheim frage ich mich, was meine Tochter denn diesmal zerlegt hat, um mit so etwas daherzukommen, doch zufällig kommt es mir wie gerufen. „So!“, sage ich, als ich mithilfe des eben erhaltenen Geschenkes endlich den Zaun des Hühnerstalles repariert habe. Obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob ich hier zur Schadensbehebung herumgestanden bin, oder einfach um nachzudenken, bin ich doch froh, dass es erledigt ist. Für einen Moment noch bleibe ich und erinnere mich daran, wie handfertig meine Mutter gewesen war und wie sie jetzt wohl über meine Pfuscherei den Kopf schütteln würde, dann seufze ich, klaube das Werkzeug vom Boden auf und gehe. Die Hennen, die Julia „Fini“ und „Delfini“ getauft hat und ihr zahlreicher Nachwuchs gackern mir aufgeregt nach.
„Gehen wir jetzt schwimmen?“, will Julia wissen, kaum betrete ich das Haus. „Heute gehen wir tauchen!“, antworte ich und setze ihr die Taucherbrille auf. „Wirklich?“ Sie kann gar nicht stillstehen, zappelt mit ihren Beinen schon herum wie ein Fisch, obwohl wir ja noch fern vom Wasser sind. Ich nicke: „Ja, wirklich, pack deine Badehose ein!“ Seit zwei Monaten will die kleine zum Fluss, aber ich habe es jedes Mal weiter herausgeschoben. Irgendwie habe ich immer meine Mutter im Kopf und ihre ständig vorwurfsvolle Stimme. Sie hätte es wohl nicht gerne gesehen, dass Leute schon kurz nach ihrem Begräbnis in Badewäsche herumlaufen, aber wir sind die Lebenden, wir können nicht ewig warten und der Sommer ist schon fast vorbei. Zwanzig Minuten durch den Wald sind es, um den Fluss zu erreichen. Sie hat noch immer die Taucherbrille auf und sieht beim Gehen um sich, als sähe sie die Welt heute mit anderen Augen. Ich versuche mir an ihr ein Beispiel zu nehmen und bemerke, wie gut es mir tut, heute hier zu sein. Der Hund kommt uns auf halben Weg nachgerannt , schwanzwedelnd. Julia schreit: „Klaus!!“ und umarmt den Glücklichen. Als ich die beiden so sehe, fühle ich einen seltsamen Stich im Herzen.
Das Wasser sieht heute unerwartet grün aus, schlammiggrün, aber mit einem vegetativen Unterton. „Schau, eine Schlange!“, plärrt die Kleine und zeigt auf eine Ringelnatter, die ängstlich aufs andere Ufer wechselt. Julia liebt Schlangen. Einmal hat sie hinterm Haus eine gefunden. „Warum bewegt sie sich nicht?“, hat sie mich gefragt „Is sie müde?“ Da haben wir die Wunden gesehen. Nach dem Tierarzt hat sie sich langsam wieder erholt und für zwei Jahre bei uns gelebt. Als meine Mutter zu Besuch war und das Reptil in seinem Terrarium gesehen hat, ist sie gleich ausgezuckt: „Na pfui deibel! Was für a grausliches Viech!” und hat mir Vorträge gehalten, von wegen: “Was wenn sie dann einmal eine Giftschlage sieht und glaubt die will nur spielen?” Sie hat sich immer gleich alles zu Herzen genommen, hat überall Schlampigkeit und Gefahr gewittert, aber als sie dann im Grab gelegen ist, zu meinen Füßen, habe ich geweint und unter Tränen noch ein paar Leute angeschrien, wegen all der Kleinigkeiten, die sie nicht so gewollt hätte.
Diese Bitterkeit, dieses hitzige Temperament, diese ständige Unzufriedenheit, ist das ihr Erbe?
Bin ich nicht auch manchmal so?
Julia hat sich schon die Badehose angezogen, die rote mit den Schiffsmotiven, doch die Kälte des Wassers schreckt sie ab. „Aaahh!“, kreischt sie, während sie vorsichtig den großen Zeh eintunkt. Klaus, der dickliche Bernhardiner, ist schon hineingesprungen und schwimmt ein paar Längen.
„Komm, ich geh jetzt auch rein, wenn du es schnell machst ist es nicht so schlimm!“, rufe ich meiner Tochter zu, zögere aber selbst kurz, angesichts der Temperatur. „Auf drei!“ meint sie und zusammen zählen wir: „EINS! ZWEI! DREIIII!!!“ Kurz schreien wir beide auf, als wir ins kalte Nass eintauchen, dann fühlt es sich plötzlich gar nicht so schlimm an. Vor mir schnorchelt die Kleine schon herum, mit dem Kopf noch halb über Wasser. Ich helfe ihr unter der Oberfläche zu bleiben und schwimme neben ihr her. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu sein. Was sie da unten wohl sieht? Versunkene Zivilisationen, die Ruinen zu Fischspielplätzen umfunktioniert?
Das Glitzern des Katzengoldes, das schon manchen Schatzsucher in die Irre geführt hat?
Ich will sie liebevoll umarmen, verkneife es mir aber, um sie in ihrem Spiel nicht zu stören.
Die Taucherbrille hat ihr mein Exmann geschickt, der ja weiß, dass mir das Tauchen Angst macht.
Jahre habe ich gebraucht um mich überhaupt ins Wasser zu trauen und an meinem Erfolg war er nicht ganz unbeteiligt. Er, der Tauchlehrer, will natürlich seiner Tochter etwas mitgeben, etwas das ein Teil seines Lebens ist, aber warum, frage ich mich, schickt er ihr das und kommt sie nie besuchen?
Nachdenklich lasse ich meine Arme durchs Wasser gleiten: vielleicht liegt die Antwort ja unter der Oberfläche, am Grunde des Meeres, oder in einem kleinen Mittelmeerdorf in dem mein Ex jetzt wohnt.
Klaus schwimmt noch immer, wobei sein wuchtiger Körper fast unbeholfen aussieht.
Unter Wasser kann ich die vagen, wellenverzerrten Umrisse meiner Tochter ausmachen.
Warum fühle ich mich, als würde ich Julia vermissen, obwohl doch meine Mutter die Tote ist?
Warum habe ich denn Julia’s Leiche den Strom entlangtreiben gesehen, in meinen Träumen, nicht die meiner Mutter?
Aufgeregt taucht sie wieder auf, kehrt zurück in eine Welt die uns beiden gehört und reißt auch mich aus der meinigen. „Ich hab einen Gummistiefel gefunden!“, sagt sie und zieht das grindige Ungetüm aus dem schlammigen Wasser. Kleine Fische versuchen sich noch aus dem Stiefel in den Fluss zu retten und auch ein Flusskrebs, der ihn zu seinem Zuhause erkoren hat, lugt vorsichtig über den Rand.
„Leg ihn wieder hin, wo du ihn her hast!“, sage ich, zur Hälfte aus Mitleid mit dem Krebs, zur anderen aus Ekel. Julia lacht laut auf und lässt ihren Schatz wieder ins Grün zurücksinken. Als wir aus dem Wasser steigen, tut Klaus es uns nach und schüttelt sich so sehr, dass ich „Nein, Klaus!“ rufe und zur Seite springe. Die kleine Julia, begeistert von der Schüttelei des Hundes, hüpft wild herum und dreht sich im Kreis bis ihr schwindlig wird, schafft es aber nicht ihn glaubwürdig nachzuahmen. Ich muss schmunzeln. Eigentlich möchte ich mich entschuldigen, für ihren Vater, der nie anruft, ihre Oma, die von uns gegangen ist, für all diese Tage, Wochen und Monate ohne Heiterkeit, aber ich erkenne, dass es nicht meine Schuld ist und so befreiend ein „Entschuldigung!“ auch gewesen wäre, kommt es nicht über meine Lippen.
Zuhause will Julia sofort zum Hühnerstall um Fini, Delfini und deren Küken zu füttern. Sie reibt das, aus Kukuruzkörnern bestehende Futter in ihren kleinen Händen und meint: „Das fühlt sich lustig an!“ Dann verstreut sie es am Boden und lacht über das hektische Pecken der Vögel.
Es wird noch dauern, bis ich wieder voll und ganz unter den Lebenden weile, es wird noch dauern, aber ich bin guter Dinge, denn sie lebt, Julia lebt und solange sie bei mir ist, wird alles wieder gut.
„Schau mal!“ sagt sie plötzlich. „Die Hendl haben ja auch eine Plastikschlaufe!“ sie zeigt auf das Produkt meiner Improvisationsgabe. „Natürlich!“, sage ich.
„Sie haben damit ihr Haus repariert!“