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Mehr von dir
Sie hat mich angerufen und gemeint, sie würde mich vermissen. Was sie an mir vermisst, sagte sie nicht. Zwei Stunden später saßen wir am Marktplatz und stocherten in Eisbechern herum. Die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen, erzählte sie von gestern und vorgestern, und von morgen. Sie sprach flott, aber nicht mit diesem nervigen Gleichklang. Da war Melodie und hin und wieder schwieg sie. Vermutlich nur, um einen Löffel Erdbeereis zwischen ihre Lippen zu schieben. Sie sagte kaum etwas über sich. Ich kannte sie seit zwei Monaten und wusste nur ein paar Dinge über sie. Dass sie Erdbeereis liebte, Erdbeeren aber verabscheute, beispielsweise. Dass sie einen Hamster besaß, der fünf Jahre alt war. Und dass sie Laura hieß. Aber was bedeutete das schon? Wie jemand hieß.
Von meinem Eis wollte sie nicht kosten.
„Wieso nicht?“, fragte ich.
„Einfach so“, sagte sie.
Und wieder dieses Lächeln voller Vielleichts.
„Wollen wir zahlen?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie.
„Wer zahlt?“
„Na du!“
„Ich?“
„Männer zahlen immer“, sagte sie.
„Ist das so?“
Sie kramte den Geldbeutel aus der Handtasche und schob ihn mir zu.
„Ja. Das ist so.“
Im Gegenzug sollte ich ihr ein Centstück aus dem Springbrunnen fischen.
„Bringt das nicht Unglück?“, fragte ich.
„Nur dem, der die Münze hinein geschmissen hat“, sagte sie.
„Das findest du okay?“
„Vielleicht mag ich den ja nicht.“
„Und wenn es jemandem Unglück bringt, den du liebst?“, fragte ich.
„Hast du da etwa was rein geworfen?“
Da war es. Aber war es ernst gemeint? Der Brunnen plätscherte, die Sonne versank hinter den Häuserreihen, aber mit ihren Augen geschah nichts.
Wir schlenderten durch die Fußgängerzone, in Gedanken händchenhaltend. Bei einem Modegeschäft blieb sie stehen und betrachtete eine Schaufensterpuppe mit dem Neid einer schlechten Freundin. Laura war auf unaufdringliche Art und Weise schön. Würde man sie zusammen mit zwanzig anderen hübschen Mädchen sehen, würde sie auf den ersten Blick nicht sonderlich auffallen. Aber wenn man eine Weile hinsah und nachdachte, würde man gewiss sagen: Ja, sie ist die Schönste, ohne zu wissen, warum. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es wäre, sie jetzt zu küssen.
„Alles okay?“, fragte sie.
Ich biss mir auf die Lippe und nickte. Auf dem Weg zu ihr summte sie leise, fast unhörbar, die Melodie eines Liedes, das ich nie gehört hatte. Ab und zu blickte sie zu mir. Dann umarmte sie mich und sagte: „Du musst nicht mit.“
Mein Zimmer roch nach ihr, obwohl sie nie hier gewesen war. Unmittelbar nach dem ersten Treffen eilte ich in eine Parfümerie. Fläschchen für Fläschchen habe ich nach ihrem Duft gesucht, dazwischen geschnäuzt und an Kaffeebohnen geschnüffelt, um ihn nicht zu verfehlen. Bevor mich die Verkäuferinnen verscheuchen konnten, wurde ich fündig. Ich habe das Parfum sofort gekauft. Jeden Tag versprühte ich es. Ich legte mich aufs Bett und blätterte durch meine Gedanken. Stellte mir vor, wie sie vor dem Spiegel stand und fragt mich, was sie darin sah. Dachte nach, worüber sie nachdachte. In die Träume konnte ich sie nicht mitnehmen.
Am nächsten Tag rief ich bei ihr an. Ihre Mutter meldete sich. Ich sagte ihr, wer ich sei, aber sie wusste nichts von einem Jungen, der so hieß wie ich. Ich legte auf. Was bedeuteten schon Namen.
Ich kaufte eine Rose. Keine rote. Das hätte nicht gepasst. Ich klingelte und rechnete fest damit, ihre Mutter anzutreffen. Aber es war Laura, die mich empfing.
„Was machst du hier?“, fragte sie.
Ich hielt ihr die Rose hin.
„Meinst du, Hamster fressen so etwas?“
Sie bat mich herein. Die Schuhe sollte ich anbehalten. Ich zog sie trotzdem aus. Auf dem Granit hinterließen meine schwitzigen Füße Spuren, die, sobald sie sich gebildet hatten, zu verschwinden begannen. Herumführen wollte sie mich nicht. Sie ging zu dem Hamster, zerbrach die Rose und warf sie in den Käfig. Der Hamster beschnupperte die weißen Blüten, machte kehrt und verkroch sich in eine mit Eierschachteln gebaute Höhle. Sie schaute mich an, als hätte sie mir damit irgendetwas bewiesen. Dann setzte sie sich aufs Bett. Ich setzte mich dazu. Keiner sagte etwas. Es war keine peinliche Stille, eher eine dumme.
Der Hamster zerrte die Rose an den Rand des Käfigs. Sie spielte auf einem unsichtbaren Klavier. Ich bewegte meinen Kopf und verfolgte seinen Schatten auf dem Boden. Dann sagte ich: „Ich will, dass du dich ausziehst.“
Sie sah mich an, als würde ich eine Waffe auf sie richten. In diesem Augenblick hatte ich gehofft, dass ich in irgendeinem Paralleluniversum diesen letzten Satz verschlucken würde. Ich war so sehr damit beschäftigt, diese Worte wieder einzufangen, dass ich nicht mitbekam, wie sie aus ihrem Top geschlüpft war. Ihre Hände verschwanden hinter dem Rücken. Dann flog der BH. In Richtung Hamsterkäfig, glaube ich. Da saß sie also vor mir, halbnackt. So war das aber gar nicht gemeint. Als sie begann, sich die die Jeans abzustreifen, legte ich meine Hand auf ihre und sagte: „Ich will eigentlich mehr von dir.“
Zuhause wollte ich etwas von dem Duft versprühen, aber das Fläschchen war leer. Da zog sie sich aus, zeigte mir einen Körper, den ich mir so oft vor dem Einschlafen vorzustellen versucht hatte und ich zerstörte alles, mit ein paar Worten nur. Das war, als würde man vorsätzlich aus einem schönen Traum erwachen.
Ich rief sie an. Ihre Mutter meldete sich. Sie fragte: „Der mit der weißen Rose?“ Ich sagte „Ja“ und sie reichte den Hörer weiter.
„Warum rufst du an?“
„Wegen gestern“, sagte ich.
„Haben dir meine Titten nicht gefallen?“
„Das ist es nicht.“ Ich sah ihre schielenden Brustwarzen vor mir. „Die gefallen mir sehr gut. Ich will nur mehr von dir. Nicht von deinem Körper.“
„Hallo? Bist du noch da?“, fragte ich.
„Ja“, sagte sie.
„Warum sagst du nichts?“
„Was soll ich sagen? Du bist ein Seelenfetischist.“
„Ein Seelenfetischist?“
„Ganz genau.“
Sie legte auf. Ich wollte sie küssen und ihre Brüste berühren, vor allem aber musste ich sie riechen. Mit der Bahn fuhr ich zum Marktplatz und folgte dem Menschenstrom in die Parfümerie hinein. Die zahlreichen Düfte summierten sich zu einem unangenehmen Gestank. Ich steuerte in die Frauenabteilung und sah, wie jemand nach meinem Parfum griff. Ich war der seltsamen Überzeugung, dass nur Laura diesen Duft tragen und nur ich diesen Duft riechen durfte. Unglücklicherweise war es das letzte Fläschchen im Regal.
„Entschuldigen Sie, aber könnten Sie mir dieses Parfum geben?“, fragte ich das Großmütterchen, das in der Ferne ausgesehen hatte, wie eine junge Frau.
„Warum?“
„Ich möchte es gerne kaufen“, sagte ich.
„Ich auch“, erwiderte sie.
„Hören Sie, es bedeutet verdammt viel für mich.“
„Für wen soll es sein, junger Mann?“
Ich hätte ihr von dem Mädchen erzählen können, das ich liebte, von irgendeiner Verwandten, die nicht meine Tante war, sich aber so nannte und morgen Geburtstag hatte. Stattdessen sagte ich: „Es ist für mich.“
Ohne Parfum verließ ich das Geschäft. Ich schrieb Laura eine SMS. Kurz und frech antwortete sie: „Hab hunger. Pizza hut. Sechs uhr.“
Ich war glücklich und erschrak, als ich begriff, dass ich wegen ihr traurig gewesen war. Ich stand vor dem Schrank und fühlte mich wie eine Schaufensterpuppe, der nichts passte. Schließlich entschied ich mich für ein Hemd meines Vaters. Meine Mutter bat ich, meine Schuhe aufzupolieren. Als ich ihr erzählte, dass ich ein Mädchen in eine Art Fast-Food-Kette ausführe, schüttelte sie den Kopf. Eine halbe Stunde vor sechs Uhr saß ich im Restaurant und blätterte wie verrückt in der Speisekarte. Als suchte ich dort nach einem Drehbuch, das mir verriet, was ich später zu tun und zu sagen hatte. Nachdem ich die Suche aufgegeben und die Speisekarte geschlossen hatte, fragte mich eine Bedienung, die aussah, als würde sie Pizza zum Frühstück essen, nach der Bestellung. Ich antwortete: „Nichts. Ich warte auf eine Freundin.“
Ich wartete. Lange. Auf eine Freundin. Meine Freundin. Oder doch nur auf irgendein Mädchen, das mit mir Eis und Pizza aß. Mein Handy verriet mir, dass sie – egal, wer sie war – bereits zwei Stunden und achtundreißig Minuten auf sich warten ließ. Vor einer Viertelstunde hatten mich zwei Mädchen gefragt, ob sie sich zu mir setzen könnten. Sie hätten Schwestern sein können. Solche, die sich nicht ähnlich sahen.
21:00 Uhr und kein Zeichen von Laura. Ich rief die Bedienung und wollte zahlen. „Du hast nichts bestellt“, sagte sie und lächelte. Ich verließ das Restaurant. Mir brannte der Magen, weil dieser fälschlicherweise annahm, irgendwann etwas von den herrlich duftenden Speisen abzubekommen. Ich war verzweifelt und wütend und dabei, eine Schnecke zu zertreten. In jenem Moment, in dem ich sogar Laura weh tun wollte, stolperte sie mir vor die Füße und grinste ihr Schön-dich-zu-sehen-Grinsen.
„Ich dachte schon, du hörst nie auf, zu warten“, sagte sie.
Allem Anschein nach wollte sie ermordet werden.
„Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet.“
„Wieso bist du nicht zu mir gekommen?“
„Weil ich sehen wollte, wie viel ich dir bedeute“, sagte sie.
„Du lässt mich stundenlang warten, nur um zu sehen, ob du mir etwas bedeutest? Da kann man doch fragen oder so. Hätte ja nicht direkt sein müssen. Aber mich hier warten lassen? Warten ohne dich ist wie – ja, Scheiße ist das. Mit dir warte ich sogar auf Godot.“
„Wer ist Godot?“, fragte sie.
„Ist auch egal. Willst du jetzt eine Pizza, oder nicht?“
Als wir das Restaurant betraten, grüßte sie die Vielleichtschwestern.
„Kennst du die?“
„Ja.“
Ich hatte einen hamstergroßen Kloß im Hals und sie fragte:
„Willst du knusprig oder flauschig?“
„Sag mir endlich, ob du mich liebst.“
Sie trug ein rosa Shirt. Darauf stand, leicht verzogen durch ihre hübschen Brüste: Life is a joke. Die Hotpants saßen eng an den braungebrannten Oberschenkeln. Zusammen mit dem schwarzen Stoff ergab das einen feinen Kontrast. Auch, weil die rasierte Haut etwas glänzte. An den Füßen baumelten Flip-Flops, mit denen sie im gleichen Rhythmus zur dumpfen Popmusik wippte wie mit ihrem Kopf. So oder so ähnlich hätte sie jemand, der ihr gegenüber saß, gesehen.
„Klar“, sagte sie.
Da war es. Und dieses Mal war es ernst gemeint, eindeutig und echt. In diesem Augenblick zersprang ihre Kleidung. Die rosafarbenen Fetzen des Shirts wirbelten wie Konfetti durch die Luft. Die zerrissenen Hotpants lagen auf dem Boden wie eine zerfleischte Serviette. Der BH flog in Richtung Vielleichtschwestern. Es roch nach geschmolzenem Erdbeereis. Keiner von den Gästen schaute zu uns. Die mampften ihre knusprigen und flauschigen Pizzas. Nur ich sah ihr nacktes Ich. Und ich liebte es.