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Serie Der Duft der Toten

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29.03.2013
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Der Duft der Toten

Der Tag, an dem die Kreaturen verbrannt werden sollten, rückte näher. Auf der hölzernen Plattform in der Mitte des Marktplatzes hatten die Knechte der drei großen Patrizierfamilien vor zwei Tagen damit begonnen, Knochen aus Lindenholz aufzuschichten. Nun bedeckten die kunstvoll geschnitzten und mit Bannsprüchen beschrifteten Gebeine nahezu das gesamte Postament, bis auf eine kreisrunde Fläche in der Mitte, in der zahlreiche Eisenringe verankert waren.
Schädel, Schenkel, Rippen und Fingerknochen lagen an ihrem Platz. Kniehoch war die Schicht angewachsen. Das trockene Holz hatte den Schweiß der Männer aufgesaugt, war mit geweihtem Wasser und Wein begossen worden und verströmte einen bitteren Geruch.

„Die brennen wie Zunder.“
„Was?“
„Bist du taub?“ Der alte Mann drehte den Kopf. „Ich sagte, die brennen wie Zunder. Die Toten und das Holz. Wie Zunder.“
„Denk ich mir. Wie weit sind sie?“
„Komm her und sieh es dir an.“
„Ah, sie sind fertig.“ Tom nickte anerkennend. „Gute Arbeit.“
Das Fenster lag im zweiten Stock des ‚Eisernen Schwan‘. Das heruntergekommene Gasthaus war das einzige gewesen, das noch über Zimmer verfügt hatte.
„Ich habe gehört, es sind sehr viele Menschen von außerhalb in der Stadt“, murmelte der Alte und gähnte.
„Ja, erstaunlich.“ Tom löste die Gurte seines ledernen Harnischs und ließ sich auf sein Bett fallen. „Weck mich, wenn sich was tut. Übrigens – danke.“
„Wofür?“
„Dass du eingewilligt hast, unsere Reise für einige Tage zu unterbrechen. Es ist das erste Mal, dass ich so was miterleben darf, und –“
„Schon gut“, unterbrach ihn der Alte, „was soll’s. Macht nichts, wenn wir ein paar Tage später ankommen.“
Der alte Mann sah zu der Wolkendecke hinauf, die, wie er gehört hatte, seit dem Aufbruch der Totenfänger vor einem Monat über der Stadt lag. Er seufzte und schloss das Fenster.

Am Abend des nächsten Tages trafen die Hundeführer ein. Tom, der sich zufällig im Gastraum aufhielt, als zwei von ihnen den ‘Eisernen Schwan‘ betraten, musste sich nicht einmal bemühen, in ihre Nähe zu kommen, um zu erfahren, wie die Jagd verlaufen sei.
„Siebenundvierzig Kadaver!“ sagte der größere von ihnen in die Stille, die ihr Erscheinen bewirkt hatte, hinein. In seiner Stimme klang nichts mit, das auf Stolz hinwies. Zu Toms Erstaunen hielt der Jubel, den er nun erwartete, sich nicht nur in Grenzen – er blieb aus. Einige der Gäste nickten ernst mit dem Kopf, andere starrten in ihre Becher. Die Hundeführer, die anscheinend nichts anderes erwartet hatten, setzten sich an einen Tisch in der Nähe des Kamins. Ihre Hunde, wahre Ungetüme und ebenso mit Schlamm bespritzt wie ihre Besitzer, ließen sich vor dem Feuer nieder, streckten ihre gewaltigen Knochen und schliefen auf der Stelle ein.

„Aus den Kerlen war nichts weiter herauszubekommen“, sagte Tom und schloss die Zimmertür hinter sich. „Ich habe den Wirt gefragt, die Schankmädchen, den Koch und auch einige der Gäste – keiner wollte mit der Sprache rausrücken. Sie sind nicht unfreundlich geworden, aber…“
„Du bist ganz schön neugierig, Junge.“ Der Alte stemmte sich aus dem Stuhl hoch und ging zum Fenster. Er öffnete es und atmete tief ein. „Was weißt du eigentlich über diese Sache?“
„Es werden zwar nur ein paar Tote verbrannt, aber das Ganze soll ziemlich beeindruckend sein. Ich hab gehört, dass niemand, der das gesehn hat, es jemals wird vergessen können.“
„Das ist alles? Tote werden verbrannt? Hast du noch nie einen Scheiterhaufen brennen sehen? Mit lebenden Menschen darauf?“
„Sicher.“
„Man sollte meinen, wenn nun einige Leichen öffentlich eingeäschert werden, kann das doch eigentlich bei weitem nicht so viel Volk anlocken, oder? Keine Schmerzensschreie, kein Blut … nichts, was dem Pöbel nun mal so gefällt. Und trotzdem ist die Stadt voll.“
„Ja, natürlich. Darum…“
„Das liegt daran“, unterbrach der alte Mann, „dass morgen kein Pöbel anwesend sein wird.“
„Aber…“
„Und es liegt daran, dass die Toten nicht richtig tot sind.“
Fast schien es, als weidete sich der Alte an Toms Gesicht.
„Nicht richtig tot? Wie meinst du das? Also, entweder ist man tot oder lebendig. Du willst mir doch nicht sagen, dass dieses Zeug, das man seit einigen Jahren hört, wahr ist?“
Bevor der Alte antworten konnte, wurde er von einem Husten durchgeschüttelt. Er spie einen Batzen Schleim aus dem Fenster, wandte sich um und sah Tom lächelnd an.
„Jedes Wort, Junge. Der erste lebende Leichnam erschien vor etwa sechs Jahren, etwa um die gleiche Zeit wie der eiserne Mann, der übrigens morgen ebenfalls anwesend sein wird, wenn mich der Wirt nicht belogen hat.“
„Der eiserne Mann…“, flüsterte Tom. „ Also gibt es ihn wirklich.“ Er griff sich den Krug, füllte seinen Becher und nahm einen großen Schluck.
„Es sind die Verwandten und Freunde der Toten“, sagte der Alte, „die morgen von ihnen Abschied nehmen wollen. Fast jeder in dieser Stadt und aus der Umgebung hat in den letzten Jahren jemanden, der ihm nahestand, durch diese fürchterliche Seuche verloren.“
Tom dachte an die Gerüchte und unglaublichen Dinge, die ihm in den vergangenen Jahren zu Ohren gekommen waren. Er hatte alles als Ammenmärchen abgetan, dazu geeignet, kleine Kinder zu erschrecken und davon abzuhalten, in den verrotteten Wäldern im Norden der Stadt, deren Existenz er ebenfalls angezweifelt hatte, zu spielen.
„Also ist es wahr – die bloße Berührung dieser Kreaturen reicht aus und man stirbt?“
„So ist es.“
„Weiß man, was das alles verursacht hat?“
„Nicht genau, aber es heißt, der erste, den es getroffen hat, habe vergiftetes Wasser aus einem Bach getrunken, irgendwo in den Wäldern jenseits dieses Berges da.“ Der alte Mann deutete aus dem Fenster.
„Woher weißt du das alles?“ fragte Tom.
„Erinnerst du dich an deinen Onkel Ward? Den mit der Augenklappe?“
„Natürlich.“
„Einer seiner Männer wurde vor vier Jahren bei einem Jagdausflug von einem der lebenden Toten berührt. Ward sagte mir später, der Leichnam, der übrigens keinen besonders angriffslustigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, habe irgendwie … sehnsüchtig gewirkt. Wie eine Katze, die gestreichelt werden will. Er hat Wards Mann nur mit einer Fingerspitze berührt, auf dem Handrücken.“
„Und das hat genügt?“
„Es hat etwa zwei Wochen gedauert. Zuerst verfärbte sich seine Hand, später der restliche Körper. Irgendwann war der Arme am ganzen Leib grau wie Schiefer. Dann hat sein Herz aufgehört zu schlagen. Er ist immer weniger geworden, verstehst du – wie ein Stück Fleisch, das im Rauchfang schrumpft und austrocknet.“
Der Alte räusperte sich. Er senkte den Kopf, aber das Glitzern in seinen Augen war Tom nicht entgangen.
„Kanntest du den Mann?“
Der Körper des alten Mannes straffte sich. Er hob den Kopf und machte eine Bewegung, als wolle er eine besonders hartnäckige Fliege verscheuchen. „Genug davon, ich lege mich schlafen. Weck mich, wenn – du weißt schon.“
„Natürlich.“
Hundegebell durchbrach die Stille, gefolgt von bierseligem Gelächter. Eine Brise trug den Duft der Geißblattranken, die die Fassade des Eisernen Schwans bedeckten, durch das Fenster. Tom blickte zum Himmel und sah, dass sich in der Wolkendecke Lücken aufgetan hatten, durch die das Funkeln einiger Sterne zu sehen war. Die beiden Hundeführer standen im Schein der Feuerkörbe schwankend vor der Plattform und unterhielten sich leise. Die Schatten in den Nischen der Häuser, die den Marktplatz umgaben, zitterten. Tom schloss das Fenster und versuchte die Beklemmung, die die Worte des Alten verursacht hatten, damit zu vertreiben, dass er den Weinkrug in einem Zug leerte.


„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne hier oben bleiben. Ich glaube, von hier aus sieht man mehr. Was meinst Du?“
„Sicher, Junge. Stell die Stühle ans Fenster und reich mir Pfeife und Tabaksbeutel.“
Der Marktplatz hatte sich im Laufe des Tages immer mehr gefüllt. Jetzt, zwei Stunden nach Sonnenuntergang, standen die Menschen dichtgedrängt. Das Licht der vielen Fackeln, Öllampen und Laternen, die in Halterungen an den Hauswänden steckten und auf nahezu allen Fenstersimsen brannten, tauchte den Platz in festliches Licht und stand in merkwürdigem Gegensatz zu der Stille, die herrschte. Der alte Mann beobachtete Tom, der gebannt auf die Menge hinabsah, von der Seite. Er selbst hatte das Spektakel, wie er es bei sich nannte, schon einmal miterlebt und fragte sich, wie sein Begleiter auf den Anblick der monströsen Gestalten reagieren würde.
Gerade als Tom begann, ungeduldig zu werden, ertönte eine Glocke; das letzte Gemurmel erstarb. Vor einem Torbogen auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes traten die Menschen zurück und bildeten eine Gasse. Zunächst war nichts zu hören, aber dann nahm Tom Hufschläge und das Knirschen von Wagenrädern wahr.
„Ah, sie kommen“, flüsterte Tom.
Der Mann, der aus dem dunklen Torbogen trat, trug einen gelben Umhang. Sein Gesicht blieb unter einer großen Kapuze verborgen. An der Spitze der Lanze, die er in der Rechten hielt, war ein Wimpel mit den Farben des Bischofs befestigt. Während er die Strecke bis zum Postament zurücklegte, glaubte Tom bei jedem Schritt des Mannes ein metallisches Klirren zu hören. Er fragte sich, ob das der eiserne Mann sei, jene geheimnisumwitterte Figur, der man einen unheilvollen Einfluss auf den Bischof zuschrieb.
Am Fuß der Holztreppe, die auf das Gerüst führte, blieb der Kapuzenmann stehen, hob die Lanze, beschrieb mit ihrer Spitze einen Kreis, und rammte sie schließlich mit einem kräftigen Ruck in den Boden. Dann ließ er die Arme sinken und stand reglos da.
Alle Augen richteten sich nun auf den Torbogen. Das Knirschen der Räder war lauter geworden und schließlich tauchten die Köpfe zweier mächtiger Pferde aus dem Dunkel ins Licht der Fackeln. Man hatte ihnen Stoffmasken übergestreift. Die beiden Männer, die sie am Zügel führten, trugen die gleiche Kleidung wie der Mann mit der Lanze. Der Karren, den die Pferde zogen, war mit Holzfässern und Kisten beladen. Tom nahm an, dass sich Trinkwasser und Proviant darin befunden hatte.
Dann folgten die Totenfänger. Es waren etwa dreißig Frauen und Männer, denen anzusehen war, dass sie harte und entbehrungsreiche Tage hinter sich hatten. Das Murmeln der Menge schwoll erneut an, als der zweite Wagen auf den Platz rollte. Seine Ladung bestand aus einem einzigen Objekt; einer riesigen, mit komplizierten Symbolen bemalten Holzkiste, deren Seitenlänge gute zehn Meter betrug, und deren Breite die Maße der Ladefläche überschritt, so dass sie auf beiden Seiten einen halben Meter darüber hinausragte. Sie war gerade so hoch, dass ein Mensch aufrecht darin stehen konnte. Aus ihrem Inneren drang ein leises anhaltendes Summen, wie aus einem Bienenstock mit besonders dicken Wänden.
Die Pferde machten vor der Plattform Halt und wurden abgeschirrt. Sie wirkten müde und abgekämpft, ihr Fell war stumpf und ungepflegt. Von allen Seiten bekamen sie Mohrrüben und Zuckerbrocken hingehalten, die sie sich in aller Ruhe schmecken ließen. Wer nahe genug bei ihnen stand, streichelte sie oder schlug ihnen leicht auf den Hals. Ihr leises Schnauben und ihre Kaugeräusche waren so klar und deutlich zu hören, dass Tom für einen Augenblick das Gefühl hatte, dies alles sei Bestandteil eines besonders realistischen Traumes.
Dann richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf die Kiste. Einige der Totenfänger hatten damit begonnen, die Seitenwände zu lockern, indem sie die Schneiden ihrer Äxte in die Fugen rammten und sie hin und her bewegten. Anstelle von geschmiedeten hatten die Erbauer Nägel aus Holz verwendet. Dem ganzen Konstrukt lag ein klug durchdachtes System zugrunde, und es vergingen nur wenige Minuten, bis die Wände vollständig entfernt waren.
Für einen Moment hielt Tom den Atem an. So also sahen sie aus. Und so rochen sie. Wie Blumen. Nicht wie verwesendes Fleisch, sondern wie duftende Blumen.
Es war unmöglich, diesen Wohlgeruch, der sich schnell über dem ganzen Platz ausbreitete, mit den Gesichtern und Körpern der monströsen Gestalten, die sich hinter den Käfigstangen drängten, in Einklang zu bringen. Mühsam unterdrückte Entsetzensschreie waren zu hören. Eine junge Frau fiel in unmittelbarer Nähe des Käfigs in Ohnmacht. Für einen kurzen Moment verspürte Tom das Verlangen, aufzustehen und wegzulaufen.
Er sah Gesichter ohne Unterkiefer. Rümpfe, die auf fleischlosen Beinen standen. Därme, die bis zu den Füßen ihrer Besitzer herabhingen. Vertrocknete Muskelstränge, die sich wie Hanfstricke um zerbrochene Wirbelsäulen geschlungen hatten. Viele waren anscheinend schon lange in diesem Zustand herumgewandelt, aber es gab auch einige, die erst vor kurzem gestorben sein konnten und nicht krank, sondern nur völlig übermüdet aussahen. Selbst aus dieser Entfernung konnte Tom ihre Augen sehen, die wie gekochtes Eiweiß zwischen ihren steingrauen Lidern glänzten.
Das schrecklichste aber, so schien ihm, war ihre Art zu atmen.
Die Toten schienen ausschließlich einzuatmen. Das Geräusch, das sie dabei machten, war ein rasselndes, feuchtes Schlürfen. Ihr Brustkorb hob sich krampfartig, und sackte wieder zusammen, ohne das auch nur ein Hauch von Luft ausgestoßen wurde. Einige schienen gar nicht zu atmen, andere pumpten die Nachtluft unaufhörlich in die porösen, verdorrten Überreste ihrer Lungen, wie jemand, der im Laufschritt einen Berg bestiegen hat. Dabei drehten und wendeten sie ihre Schädel langsam hin und her.
Nachdem in der Kopfseite des Käfigs eine am Boden angebrachte Klappe geöffnet worden war, stieß einer der Totenfänger, der sich lange lederne Handschuhe übergestreift hatte und einen Gesichtsschutz aus Metall trug, einen langen Speer mit einem Widerhaken in den Käfig. Der Mann war nicht zimperlich. Der Speer bohrte sich durch eine verdorrte Wade, fand Halt und mit einem Ruck zog er das Bein durch die Öffnung. Es gab ein hässliches Geräusch, als das andere Bein brach, doch er zog so lange, bis der Kadaver vor dem Käfig auf dem Boden aufschlug. Blitzschnell warfen zwei andere Fänger Schlingen über den Leichnam. Sie zerrten den ausgemergelten Körper die Treppe hinauf durch eine Lücke im Holzwall zu den eisernen Haken auf dem Boden der Plattform. Der Tote wurde dort angekettet, und die Klappe, die man wieder verschlossen hatte, erneut geöffnet. Die Prozedur wiederholte sich, bis nach einer knappen Stunde der Käfig leer und das Podest nahezu voll war. Die Spannung löste sich langsam. Der Käfigwagen wurde weggefahren. Ein in Schwarz gekleideter Mann, der das Symbol des Bischofs auf der Brust trug, löste sich aus der Menge und hob die Hände. Er trat vor die Totenfänger, ließ die Arme sinken und verbeugte sich tief. Die Zuschauer folgten seinem Beispiel. Die Totenfänger erwiderten die Geste. Zu ihren Füßen lagen die großen Hunde. Jemand hatte einen Eimer mit Fleischresten und Knochen vor ihnen ausgeschüttet. Genüsslich kauten sie mit halb geschlossenen Augen darauf herum.

Der Mann im gelben Umhang, der bis zu diesem Moment reglos neben seiner Lanze gestanden hatte, griff in eine seiner Taschen, förderte ein kleines Tonfläschchen zutage und besprenkelte die hölzernen Gebeine mit einer grünlich leuchtenden Flüssigkeit. Dann schlug er seine Kapuze zurück.
Die Menschen in seiner Nähe machten ein paar Schritte rückwärts. Tom sah, dass sich einige an den Händen fassten. Bis auf das gierige Atmen der Kadaver war es still.
Auf dem glänzenden, ovalen Schädel spiegelten sich unzählige Fackeln. Tom konnte nicht genau erkennen, ob der Mann einen stählernen Helm ohne erkennbare Öffnungen für Augen, Nase und Mund trug, oder… Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen. Der eiserne Mann stieß wortlos eine brennende Fackel in das Holz. Dann wandte er sich um und sah Tom an. Zumindest hatte es den Anschein.
Als die ersten Flammen die Leiber der Kreaturen berührten, gelang es Tom, sich von dem verstörenden Anblick zu lösen. Er hat nicht mich angesehen, sagte er sich. Da unten glaubt vermutlich jeder, dass der Kerl gerade ihn anschaut.

Der Anblick der brennenden Toten war entsetzlich, und doch konnte Tom seine Augen nicht von diesem unfassbaren Schauspiel abwenden. Während jene, die vor Monaten, wenn nicht vor Jahren gestorben waren, augenblicklich aufloderten wie ein Bündel trockenes Stroh, und keinen Ton von sich gaben, boten diejenigen, welche erst kürzlich das Zeitliche gesegnet hatten, ein Bild, das sich nur schwer ertragen ließ. Sie wedelten mit ihren brennenden Armen herum, rissen ihre Münder weit auf und stießen hohl klingende Klagelaute aus, während ihre Beine den Dienst versagten und unter ihnen nachgaben. Kinder waren darunter, junge Männer und Frauen, uralte Menschen, deren Geschlecht sich nicht mehr feststellen ließ. Kleidungsfetzen und Hautstreifen, die von ihren Knochen herabhingen, waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden.
Funkenwolken stiegen hoch, als das Podest schließlich mit einem Krachen zusammenbrach. Der Rauch, der sich über den ganzen Platz gelegt hatte und nur langsam abzog, duftete ebenfalls nach Rosen. Nicht so, als hätte jemand einen Haufen vertrockneter Blüten ins Feuer geworfen – es riecht wie frisch aufgeblühte Rosen, dachte Tom.
Er ließ seine Augen über den Platz wandern. Der eiserne Mann war verschwunden.

Am nächsten Morgen hatte Tom noch immer den erstaunlichen Geruch der Toten in der Nase. Von seinem Bett aus betrachtete er den Rücken des alten Mannes, der am Fenster saß und auf den Platz hinunter blickte.
„Hast du gar nicht geschlafen?“
„Ach, weißt du, Junge, in meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf. Ich habe die kühle Nachtluft genossen und den Leuten dabei zugesehen, wie sie das ganze Zeug weggeräumt haben.“
Tom zog sich an und gemeinsam stiegen sie die Treppe hinunter. Der Schankraum war trotz der frühen Stunde bereits gut gefüllt. Im Gegensatz zu den letzten Tagen herrschte eine fröhliche, beinahe ausgelassene Stimmung. Der Wirt brachte ihnen das Frühstück und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Ihr Tisch stand an einem der geöffneten Fenster und Tom sah, wie die Morgensonne die Giebel der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite des Marktplatzes in goldenes Licht tauchte. Von der gedrückten Stimmung, die in den letzten Tagen auf der Stadt gelastet hatte, war nichts mehr zu spüren. Überall waren Bauern und Händler damit beschäftigt, ihre Stände wieder aufzubauen. Es roch nach Kohl und Radieschen, nach gebratenem Fleisch und billigem Bier. Von dem Podest war nichts als ein großer schwarzer Fleck geblieben. Einige Hunde schnüffelten darauf herum und scharrten mit den Pfoten die dunkle Erde auf.
„Und? Wie denkst du jetzt über diese Sache, mein Junge?“ fragte der Alte und wischte sich ein kleines Stück Eigelb vom Kinn.
„ Na ja – es stimmt schon“, erwiderte Tom. „Dass man es niemals wird vergessen können, meine ich.“ Und etwas leiser fügte er hinzu: „ich glaube, ich habe gestern Nacht in die Hölle gesehen.“

Wenig später, als die Pferde angespannt und das Gepäck auf der Droschke verstaut war, warf Tom einen letzten Blick auf den schwarzen Fleck. Er zögerte, stieg dann vom Kutschbock und begann eine Holzkiste, in der sich sein persönliches Hab und Gut befand, zu durchwühlen. Mit einem leeren Lederbeutel in der Hand eilte er zu dem Fleck, kratzte ein wenig Asche zusammen, füllte den Beutel damit und kehrte zur Droschke zurück.
„Hältst du das für eine gute Idee?“ fragte der alte Mann.
„Ich weiß nicht. Mir kam einfach der Gedanke“, antwortete Tom. Er sprang auf den Kutschbock und ließ die Zügel auf die breiten Rücken der Pferde klatschen.

 

Hallo harry!

Die Geschichte gefällt mir sehr gut. Bei einigen anderen Texten von dir habe ich mich ja beschwert, dass viele Dinge offen bleiben und dass man des Gefühl hat, es müsste noch weiter gehen. Bei dieser Geschichte bleiben auch sehr viele Rätsel zurück, aber ich hatte trotzdem diesmal das Gefühl, du hast das richtige Maß getroffen. Der Protagonist hat ein düsteres, schauriges und rätselhaftes Erlebnis, und bekommt eben nicht auf alles eine Antwort. Und als Leser ist man da mitten drin.
Die Geschichte wird sehr lebendig durch viele kleine Details - zum Beispiel, dass extra Knochen aus Holz geschnitzt werden für den Scheiterhaufen. Eigentlich ein Riesenaufwand, aber das gibt einem ein Gefühl dafür, was das für eine Bedeutung für diese Leute hat.

Ein paar Detailanmerkungen zum Text:

Ward sagte mir später, er habe den Eindruck gehabt, der Leichnam, der übrigens nicht im Geringsten angriffslustig auf ihn gewirkt hatte, habe irgendwie … sehnsüchtig gewirkt.
Die Wiederholung ließe sich vermeiden, mit einmal "schien" vielleicht.

Wie eine Katze, die gestreichelt werden will.
Das ist ja herzzerreißend! :(
In dieser Welt wäre ich so was von tot. Wesen, die gestreichelt werden wollen, kann ich nicht wiederstehen, auch wenn sie hässlich sind. Und wenn es dann auch noch Tote sind, die man vielleicht gekannt hat ... erstaunlich, dass überhaupt noch Leute am Leben sind in der Stadt.

Die Pferde machten vor der Plattform Halt und wurden abgeschirrt. Sie wirkten müde und abgekämpft, ihr Fell war stumpf und ungepflegt. Von allen Seiten bekamen sie Mohrrüben und Zuckerbrocken hingehalten, die sie sich in aller Ruhe schmecken ließen. Wer nahe genug bei ihnen stand, streichelte sie oder schlug ihnen leicht auf den Hals.
Das fand ich auch ganz toll. Das sind solche Details, die eigentlich nicht zwingend notwendig sind für die Geschichte, aber die das ganze sehr real wirken lassen.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Tom ihre Augen sehen, die wie gekochtes Eiweiß zwischen ihren steingrauen Lidern leuchteten.
Na ja, gekochtes Eiweiß leuchtet ja nicht. Glänzten vielleicht?

Der eiserne Mann stieß wortlos die brennende Lunte in das Holz.
Eine Lunte ist doch eine Zündschnur, dachte ich immer. Würde man für sowas nicht eine Fackel nehmen? Eine Lunte kann man schlecht in einen Holzstoß reinstoßen, denke ich.

Nicht so, als hat jemand einen Haufen vertrockneter Blüten ins Feuer geworfen – es riecht wie frisch aufgeblühte Rosen, dachte Tom.
hätte

Ich finde die wirklich gelungen. Toll, dass man selbst einem so alten Konzept wie "wandelnde Tote" noch neue Seiten abgewinnen kann.

Grüße von Perdita

 

Hallo Perdita,
das nenne ich einen konstruktiven und erfreulichen Kommentar! Es freut mich sehr dass Dir meine kleine Zombiegeschichte gefallen hat, und Du darüber hinaus auch mit der Länge zufrieden bist. Nicht zuletzt wegen Deiner früheren Kommentare ist diese Story länger und ausführlicher geworden. Und nachdem ich Deine Änderungsvorschläge umgesetzt habe, ist das Ding noch runder geworden, finde ich.
Ich wollte mal eine Untotenstory schreiben, in der das Wort Zombie überhaupt nicht vorkommt, und auch kein einziger Tropfen Blut fließt,von herumspritzenden Gehirnen ganz zu schweigen (Eigentlich bin ich kein Kostverächter, was das angeht, aber davon gibt's ja weiß Gott mehr als genug). Und wenn man's sich genau überlegt, sind meine Untoten eigentlich viel gefährlicher als die klassischen Zombies, da ja bereits eine kleine Berührung ausreicht, um angesteckt zu werden.
Also, ich bin wirklich glücklich mit Deiner Kritik. Was das 'herzzerreißend' angeht, hoffe ich mal, Du meinst das nicht ironisch?
Herzliche Grüße
Harry

 

Hallo harry,

Was das 'herzzerreißend' angeht, hoffe ich mal, Du meinst das nicht ironisch?
Nein, auf keinen Fall! Ich finde den Vergleich mit der Katze wirklich gut! Und das ist wirklich traurig, dass die Toten Sehnsucht haben, die Lebenden zu berühren, und ihnen damit auch den Tod bringen.
Untote, die nur für Splatter sorgen, gibt es wirklich schon mehr als genug, da ist es schwer, noch etwas draus zu machen, was dem Leser nahe geht.

 

Servus Harry,

einmal mehr beeindruckt mich deine stilistische Wandlungsfähigkeit und die Souveränität, mit der du die Genres wechselst.
Nicht, dass ich mich für einen extrem unflexiblen Leser halte, aber gewissen literarischen Gattungen stand ich über Jahrzehnte mit ziemlicher Skepsis gegenüber und las sie entsprechend selten. Na ja, eigentlich gar nicht. Insbesondere Horror und Fantasy gingen mir schlicht am Arsch vorbei. Leuten wie dir und deinesgleichen hier im Forum gelingt es nun allerdings immer öfter, meinen Widerstand ins Wanken zu bringen und mich in Geschichten zu locken, nach deren Lektüre ich mich beschämt fragen muss, welche Gründe es eigentlich, abgesehen von Vorurteilen, für meine langjährige Verweigerungshaltung gab.
Hättest du mir noch vor einem Jahr gesagt, einer Zombiegeschichte gelänge es, mich zu begeistern, hätte ich höchstens mitleidig gegrinst und erwidert: „Ja ja, und Nacktmulle sind hübsche Tierchen und Pur machen Musik. Verarsch mich nicht, Alter.“ Deine neue Geschichte rechtfertigt einmal mehr meinen schleichenden Gesinnungswandel.
Na ja, jetzt hab ich die Katze eh schon aus dem Sack gelassen, aber ich sag's gleich noch einmal: Eine wirklich tolle Geschichte ist dir hier gelungen, Harry.
Schon mit den so detailreich beschriebenen Bildern der ersten Absätze schaffst du es, mich in eine andere Zeit und Atmosphäre zu versetzen, in eine Zeit, die ich aus Büchern meiner Jugend kenne. Gustav Meyrink kam mir in den Sinn und E.T.A. Hoffmann.
Und obwohl die Geschichte ja sehr schnell ins Irrationale abdriftet, ließ ihre Faszination auf mich nicht nach. Vermutlich deswegen, weil in der Beziehung zwischen den „Monstern“ und den Menschen nicht ausschließlich Boshaftigkeit und schierer Schrecken vorherrscht, sondern vielmehr eine Art schicksalhafte Verbundenheit, beinahe gegenseitige Zuneigung. Im Grund geht’s ja nur um Erlösung, sowohl der Untoten als auch der Lebenden.
Ich weiß gar nicht, wie ich’s sagen soll, irgendwie stimmt für mich alles in der Geschichte, die Dramaturgie, der Erzählstil, das so authentisch beschriebene und nachvollziehbare Ambiente, die vielen so berührend gezeichneten Details, einfach alles halt.
Dass ich mal eine Story lobe, in der Untote vorkommen …

Und wie immer auch heute wieder ein bisschen offshores Neunmalklugsein:

Der alte Mann beobachtete Tom, der gebannt auf die Menge herabsah,

hinabsah

stiess einer der Totenfänger,

weiter unten schreibst du ließ, du bist also kein Schweizer. Also: stieß

Ein in schwarz gekleideter Mann,

entweder: Ein in Schwarz gekleideter Mann
oder: Ein schwarz gekleideter Mann

Hat mir wirklich gefallen, Harry

 

Hallo Offshore,
diesmal warst du ja gottseidank nur Dreimalklug (dafür Dank, hab's geändert). Du kannst Dir wohl denken, dass ich mich sehr über Deinen Kommentar gefreut habe, sowohl, was die Story angeht, als auch die Bemerkung über meine stilistische Wandungsfähigkeit etc. Kraftfutter für mein Ego
Das ist jetzt schon die zweite positive Kritik, die ich mir eigentlich an die Wand hängen müsste, und was mich besonders freut: beide kommen von kompetenten Leuten, die was vom Schreiben verstehen.
Die Geschichte selbst ging mir relativ flott von der Hand, aber die Nachbearbeitung, das Eliminieren des Überflüssigen und Geschwätzigen hat
wesentlich mehr Zeit beansprucht. Ich kann sagen, in den sechs oder sieben Monaten, die ich hier im Forum bin, habe ich eine Menge gelernt und sehe auch harte Kritik mittlerweile mit anderen Augen. Das ist alles sehr hilfreich.
Wenn ich's geschafft hätte (zumindest bei Dir), das Fantasy-Genre in etwas interessanterem Licht erscheinen zu lassen, würde ich mich freuen. Ist zwar größtenteils Eskapismus und Spielerei, das gebe ich gerne zu, hilft aber unter anderem gegen übermächtiges Erwachsensein. Wie Fritz Schiller schon gesagt hat: Der Mensch ist nur da wirklich Mensch, wo er spielt (oder so ähnlich).
Vielleicht schreibst Du ja irgendwann selbst mal eine Fantasy-Story, Offshore. Wäre mit Sicherheit eine Bereicherung für die Rubrik. Wie sieht's aus?
Danke nochmal, und herzliche Grüße nach Wien
Harry

 

Hallo Harry,
Dein Totenreich, das liest sich leicht und flüssig. Richtig schön absurd. Eine unheimliche Stimmung. Die Geschichte lebt von den vielen bildhaften Details; sprachlich nach meinem Empfinden perfekt.
Untote werden also verbrannt, um sie endgültig tot zu kriegen. Die vollkommen Toten sind dann nicht mehr infektiös. Tom nimmt sich die Asche der Untoten, um sich später zu „immunisieren“. So habe ich das verstanden. Der eiserne Mann bleibt ein Rätsel, ist aber eher ein Anderstoter. Da bleibt noch viel Raum für weitere Spielereien. Tom, der Held, der immun werden kann, wird gegen den eisernen Anderstoten kämpfen, der alle Untoten vernichten will?
Sonstiges:

Knochen aus Lindenholz
Lindenholz in Knochenform? Ich dachte zuerst an künstliche Lebewesen, deren Knochen aus Lindenholz bestehen.
Die Hundeführer, die anscheinend nicht anderes erwartet hatten,
nichts
Fast schien es, als weidete sich der Alte an Toms Gesicht.
„weidete“ habe ich in diesem Zusammenhang noch nie erlebt. Klingt aber anschaulich. Dar Alte nagt und kaut an Toms Gesicht.
die die Fassade des Eisernen Schwan bedeckten, durch das Fenster.
Schwans
Die Pferde machten vor der Plattform Halt und wurden abgeschirrt.
halt
„Nicht genau, aber es heißt, der erste, den es getroffen hat, habe vergiftetes Wasser aus einem Bach getrunken, irgendwo in den Wäldern jenseits dieses Berges da.“
„Vergiftetes Wasser“: ist mir irgendwie zu trivial. Vielleicht ein von Rosen umwachsenes Wasserloch, in das man früher tote Verbrecher geworfen hat. Oder man hatte dort in den Bach mal ein Mädchen geworfen, das sich jetzt rächt. Oder eine leuchtende Stelle im Wasser, wo Phosphor- und Uranisotope austreten. … … was dann dazu führt, dass das Fleisch von den Knochen fällt und die Knochen lebendig werden lässt? … ?
Bin schon gespannt, was Tom als nächstes erlebt (mit dem Hundling und Roona).
Viele Grüsse
Fugu

 

Hallo Fugu,
schön, dass dir die Geschichte gut gefallen hat. Dank Dir auch für die Korrekturhinweise, die ich zum Teil umgesetzt habe. Dein Lob bezüglich der sprachlichen Umsetzung macht mich fast ein bisschen sprachlos. Da möchte man sich doch am liebsten stundenlang auf die eigene Schulter klopfen …
Dass Tom sich ein bisschen von der Asche nimmt, um sich damit immun zu machen – da liegst Du fast richtig. Meine Idee war, dass später mit Hilfe der Asche ein Heilmittel gegen die Seuche entwickelt werden könnte.
Der eiserne Mann – tja, ‚Anderstoter‘, der Begriff gefällt mir irgendwie. Für mich verbirgt sich hinter dieser Maske allerdings eher so eine Art mechanischer Statthalter des ‚Bösen‘, vielleicht sogar Verursacher der Seuche; eine Figur, die die Phantasie anregen soll, was sie in deinem Fall ja auch getan hat. Überhaupt muss ich sagen, dass es Dir an Phantasie nicht mangelt. Das ist erstens angenehm

ein von Rosen umwachsenes Wasserloch, in das man früher tote Verbrecher geworfen hat. Oder man hatte dort in den Bach mal ein Mädchen geworfen, das sich jetzt rächt. Oder eine leuchtende Stelle im Wasser, wo Phosphor- und Uranisotope austreten. … … was dann dazu führt, dass das Fleisch von den Knochen fällt und die Knochen lebendig werden lässt?
und zweitens anregend, konstruktive Kritik in schönster Form.
‚Die Pferde machten Halt‘ oder ‚machten halt‘ – ist beides richtig. Ich find’s großgeschrieben schöner.
Bist Du sicher, dass es ‚ …die Fassade des 'Eisernen Schwans' heißen muss? Ich hab’s geändert, aber mittlerweile kommen mir wieder Zweifel.
Das Floß Teil 2 wird auf jeden Fall folgen. Kann aber dauern. Und ich bin schon gespannt auf was Neues von Dir, Fugu.
Schönes Pfingstwochenende wünscht
Harry

 

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