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- Anmerkungen zum Text
Als wir uns verloren [1]: Winterstarre
Da war Dangson, unser Fahrer. Sigurd, hieß er. Ein echter Arier, wie es keinen schöneren im Bilderbuch der HJ gab; und außerdem Däne. Keiner von uns wusste wirklich genau, was ihn an diesen verlassenen Ort gespült hatte. Uns erzählte er lediglich von seinem Wunsch, einer SS-Division beitreten zu wollen, was aber augenscheinlich misslang. Nun war er unser Fahrer. Der beste Fahrer in der ganzen Abteilung. Dangson, murmelte ich leise vor mich hin. Keine Ahnung, wie oft er uns allen schon das Leben gerettet hatte. Ich sah wieder durch die Optik und kam zu keinem anderen Ergebnis als zuvor: Sie war schlicht kaputt.
Es war kein direkter Treffer gewesen, dem Himmel sei Dank, sondern wohl ein Querschläger oder Granatsplitter, der genau die Linse des linken Zielfernrohres beschädigte. Die Entfernungsstriche waren gegeneinander versetzt. Ich löste die Apparatur aus ihrer Verschraubung und stieg aus dem Panzer. Meine Finger schmerzten bei jedem Griff an den eiskalten Stahl, und ich machte, dass ich von dem Bock runterkam.
»Ich mach Feierabend für heute«, rief Dangson aus seiner Fahrerluke. »Bei der Arscheskälte kleben einem nur die Finger am Metall fest.«
»Du hast Recht. Lass uns Feierabend machen«, stimmte ich ihm zu.
Er kletterte aus der Fahrerluke, rieb sich die Hände und hauchte einige Male hinein.
»Das solltest du nicht machen. Hast du Feuchtigkeit an den Händen. Das tut am Ende noch mehr weh.«
»Du bist ein Klugscheißer, Hannes, hab ich dir das schon mal gesagt?«
»Klar, du Däne. Schon oft genug.«
Er grinste breit und eine Reihe prachtvoller, weißer Zähne kam zum Vorschein.
»Lass lieber den Mund zu, sonst friert dir noch die Zunge an den Zähnen fest.«
Er gab mir einen Stoß und ging auf das Scheunentor zu.
»Komm! Der Wodka wartet schon auf uns.«
Die kaputte Optik in einem Öltuch, folgte ich ihm nach draußen.
Die Farbe des Himmels unterschied sich kaum von den Farben um uns herum. Selbst der Schnee schien das Grau angenommen zu haben. Ein schneidend kalter Ostwind fegte in unsere vermummten Gesichter, fast schon sturmartig, trieb er uns über die Dorfstraße. Wir stapften wie Betrunkene durch den kniehohen Schnee, der so hart gefroren war, dass die Schneekristalle kleine, aufrecht stehende Weihnachtsbäume bildeten. Für den Weg zum Haus des Politkommissars benötigten wir eine halbe Ewigkeit. Völlig erschöpft fielen wir mit der löchrigen Holztür in die Küche.
»Tür zu!«
»Was sonst!«, rief ich zurück, und packte mein Gesicht und mich aus den dicken Lagen der russischen Wolljacken, die wir den Dorfbewohnern vorgestern abgenommen hatten. Dangson setzte sich vor den gusseisernen Ofen und rieb sich die Hände. Am großen Tisch vertrieben sich einige die Zeit mit einer Skatrunde nach der anderen.
»Was ist mit deiner Optik?«
Ich sah auf, während ich mir die Stiefel von den Füßen zog. Der Biegel Franz, so nannten wir ihn in seiner Abwesenheit, war unser Kommandant. Er saß abseits auf einer Holzbank und wichste seine Stiefel.
»Kaputt, Chef.«
»Wie kaputt?«
»Komplett. Entfernungsmessung ist nicht mehr. Ich brauch ne neue Schere.«
»Scheiße! Die kriegen wir jetzt nicht so schnell. Die Instandsetzung ist noch in der Etappe«, er rieb sich seinen Bart und starrte durch mich hindurch. »Ich glaub nicht, dass sich der Schneesturm in den nächsten zwei Tagen legen wird. Wir sind einfach zu schnell vorgestoßen …«
»Halt einfach dein Maul, Biegel. Können wir nichts machen, können’s die Russen och nicht.«
Ich salutierte gerade so, dass es noch annehmbar schien und verfolgte die Blicke, die sich unser Biegel Franz und der Abteilungsführer, Oberleutnant Fahrenheim, zuwarfen. Eines Tages würden sie sich an die Gurgel gehen, dessen war ich mir sicher.
Der Biegel Franz erhob sich bedächtig und legte seine rechte Hand an die Stirn, immer noch die Wichsbürste haltend.
»Jawohl, Herr Oberleutnant. Dürfen meine Leute und ich uns zurückziehen?«
»Wenn sie mir aus den Augen träten, wäre mir das recht.«
»Danke, Herr Oberleutnant.«
Im Raum war es still geworden. Selbst die Skatspieler sahen schweigend auf ihre Karten und warteten ab, was noch passieren würde. Aber der Oberleutnant drehte sich und ging wieder in seinen Raum. Biegel nickte mir und Dangson zu und wir folgten ihm in das, was wohl mal ein Wohnzimmer war. Auf dem Boden, unter dem mit massiven Brettern zugenagelten Fenster, lag die komplette Mannschaft des 421er und schnarchte vor sich hin. Wir bezeichneten uns untereinander immer mit den Nummerierungen, die auf den Sturmgeschützen aufgebracht waren, das machte es für alle leichter.
Wir setzten uns um den selbstgezimmerten Tisch, Dangson griff hinter seine Sitzbank in eine Kiste, holte eine etikettlose Flasche hervor und stellte sie auf die arg ramponierte Tischplatte. Aber Biegel sah ihn nur genervt an und schob die Flasche beiseite. Stattdessen griff er in seine Seitentasche und zog eine Karte hervor, die er vor uns ausbreitete.
»Was soll das sein?«, wollte Dangson wissen.
»Die hab ich dem toten T-34-Kommandanten aus der Tasche gezogen, der uns gestern beinahe erwischt hat.«
»Warum gibst du sie dann nicht Fahrenheim?«
Biegel sah uns mitleidig an.
»Weil Fahrenheim diese Karte sowieso nicht lesen kann. Es ist eine russische. Klar?«
Dangson runzelte die Stirn.
»Aber du kannst sie lesen, oder was?«
»Ich kann sie lesen, ja. Ich hab schließlich russische Literatur studiert und war ne Zeitlang in Petersburg.«
»Du meinst Leningrad«, verbesserte ich ihn.
»Vollkommen gleich.«
Dangson nahm die Flasche und trank einen kräftigen Schluck. Er verzog kurz das Gesicht und gab sie mir. Biegel spreizte Daumen und Zeigefinger und überspannte einen Teil der Karte. Ich setzte die Flasche an und ließ den Wodka in meine Kehle laufen. Es brannte fürchterlich. Ein Hustenanfall war die Folge. Dangson lachte.
»Das Zeug kippen die Russkis auch in ihre Panzer, wenn mal kein Sprit da ist. Springen einwandfrei an.«
»Also, hier ist Minsk, dort Smolensk. Luftlinie um die 300 Kilometer. Und hier …«, Biegel setzte seinen Zeigefinger auf einen bräunlich markierten Punkt, »… ist Moskau. Von unserem Standort bis nach Moskau sind es ebenfalls 300 Kilometer Luftlinie. Es gibt nur eine einigermaßen gute Straße. Von Minsk, über Smolensk, nach Moskau. Oder weiter südlich, über Spas-Demensk und Obninsk. Der Rest ist Wald, Sumpf, Gelände ohne Ende.«
Er schwieg und starrte auf die Karte. Ich trank noch einen Schluck und reichte die Flasche Dangson.
»Was willst du uns jetzt genau sagen, Franz?«
»Mensch Hannes«, er sah mich direkt an, mit seinen immer klaren und leicht feuchten Augen. »Wir werden nie in Moskau ankommen. Nie.«
Dangson setzte die Flasche ab. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er Biegel.
»Wie kommst du darauf? Was hat uns bisher aufgehalten?«
»Sigurd, seit einiger Zeit wird der Widerstand immer heftiger, kommen immer mehr von diesen T-34. Die Russen zünden neuerdings all ihre Dörfer an, damit wir nichts mehr holen können. Unser Nachschub stockt, die Luftwaffe kann nicht mehr fliegen wegen der Scheißkälte. Wir stehen vor den selben Problemen wie Napoleon. Fällt euch das nicht auf?«
»Dieses Dorf haben sie vergessen«, widersprach der Däne.
»Klar, Dangson, sie sind auch nicht perfekt. Und wir sind ab und an schneller als sie.«
»Gut, dass sie das Dorf hier vergessen haben«, warf ich ein. »So haben wir immerhin was zu essen und warme Kleidung gefunden. Und die Bewohner verstecken sich und warten, bis wir wieder abziehen. Ist doch alles bestens … bis auf meine Optik.«
Wir sahen uns an. Ich wusste nicht, was ich von Biegels Gedankengängen halten sollte. Er war ein sehr guter Panzerkommandant, mit einer enormen Intuition, die uns schon vor manchem bewahrt hatte. Dass er nicht mit allem einverstanden war, was um uns herum passierte, wussten wir, aber gerade er betonte immer wieder, mit ganzem Herzen Soldat zu sein. Und das hieß nun mal auch, die Befehle zu befolgen, so seine Aussage.
»Napoleon war in Moskau. Im Kreml. Oder etwa nicht?«, gab Dangson zu bedenken.
Biegel verdrehte seine Augen.
»Moskau war geräumt. Der Zar weg. Die Stadt brannte fast vollständig ab. War das ein Sieg? War damit Russland geschlagen? Nach Moskau kommen noch 6.000 Kilometer Scheißrussland. Eine Tankfüllung reicht für 100 Kilometer landeinwärts. Unser Tank ist leer. Wo ist der Nachschub?«
Er knüllte die Karte zusammen und warf sie an die Wand. Dann schnappte er sich die Flasche, trank ohne eine Regung im Gesicht ein Viertel aus, setzte sie ab und lehnte sich zurück.
»Wer hat heute zweite Wache und löst Fohleisen ab?«
»Ich mach die zweite, zusammen mit denen vom 423er«, erklärte Dangson.
»Gut, Sigurd. Hannes, du machst die dritte Wache. Leg dich aufs Ohr. Ich weck dich.«
»Mach ich.«
Als Biegel mich aus meinem unruhigen Schlaf rüttelte, sah ich im letzten Blick auf einen grauenhaften Traum gerade noch zwei explodierende Sturmgeschütze vor uns auf der Anhöhe, wobei das rechte lediglich wie eine Fackel ausbrannte, weil eine Sprenggranate die Treibladungen entzündet hatte. Es fauchte, und die Flammen schossen durch die Luken in den Himmel. Noch nicht einmal die Schreie waren zu hören. Biegel gab mir einen Klaps auf die Backe.
»Hopp, aufstehen, Hannes.«
»Ist schon Zeit?«
»Kurz vor ein Uhr. Dangson wird sich draußen schon den Arsch abfrieren.«
Ich blinzelte ins Kerzenlicht.
»Wer geht mit mir raus?«
»Knut und seine 425er.«
Biegel nahm meine Hand und zog mich hoch. Ich fühlte mich nicht in der Lage, draußen auf irgend etwas aufzupassen. Weder auf die Panzer noch auf mich. Ich spürte jeden einzelnen Muskel, jedes Gelenk lehnte sich gegen diesen Wachdienst auf. Aber es half ja alles nichts. Die Wodkaflasche, ein Riegel Speck und ein Brocken Kommissbrot tauchten vor mir auf.
»Hier. Trink und iss das. Das reißt dich aus dem Schlaf.«
Widerwillig trank ich einen Schluck und biss in den Speck. Dann schlich ich mich in die Küche. Dort stopfte ich mir Zeitungen in die Stiefel und schlupfte hinein. Aus einer verbeulten Emaillekanne, die auf dem noch warmen Gussofen stand, schenkte ich mir einen mehr als schwarzen Kaffee in den Deckel meines Feldgeschirrs. Ich schlürfte das heiße Gebräu und verschlang den Speck zusammen mit dem Brot. Dann sah ich mich um, zog mich an, prüfte den Karabiner, der in der Ecke des Wachdienstes stand und ging nach draußen.
Ich rechnete mit dem Schlimmsten, aber der heftige Ostwind hatte sich überraschenderweise gelegt, entgegen der Verlautbarungen der Wetterfrösche. Was blieb, war eine grausige Kälte, die vor keiner noch so guten Kleidung Halt zu machen schien. Und wir hatten keine gute Kleidung. Im Gegensatz jedoch zu den armen Schweinen der Infanterie, saßen wir meist im warmen Panzer, wenn es gelang, den Motor zu starten. Leise Stimmen vor der Hütte ließen mich in das Dunkel der Nacht starren. Knut und seine Mannschaft. Es knirschte unheimlich unter meinen Stiefeln, als ich mich auf den Weg zu ihnen machte.
»Da ist er ja endlich. Noch ein paar Minuten, und die Pisse in meiner Blase wäre gefroren.«
»Halt einfach die Fresse, Schlindwein«, fuhr ihm Knut über den Mund.
Ich sagte nichts, blickte nur die vier anderen an.
»Pass auf, Widmann. Wir machen das ein wenig anders, um in Bewegung zu bleiben. Du nimmst die linke Ecke an der Banja, Schlindwein die rechte Ecke an der Kapelle, wir anderen dazwischen. Alle zwanzig Minuten rücken wir eine Position weiter, immer im Uhrzeigersinn. So machen wir das die ganze Zeit. Dadurch bleiben wir immer in Bewegung. Ist das ein Vorschlag?«
»Ja, gute Idee, Knut.«
Ich nickte und wir zogen schweigend los. Keiner sagte ein Wort zu viel. Nicht bei dieser Kälte, die bei jedem Atemzug durch den offenen Mund unmittelbar bis tief in die Lungen vordrang, um alles zu Eis erstarren zu lassen. Jedes Luftholen schmerzte, und wir atmeten so gut es ging durch die Nasen.
Das Dorf bestand mehr oder weniger aus einer Durchgangsstraße, etwa einhundert Häusern oder Höfen links und rechts dieser Straße, die in der Regenzeit lediglich ein einziges Schlammloch war, einer Kapelle auf einer kleinen Anhöhe und der Banja, einem russischen Badehaus, das an einem Bach lag; wenn ich die mäandernde Vertiefung im Schnee richtig deutete. An der Linie Kapelle-Banja gab es eine Telegrafenleitung, allerdings existierten nur noch die Baumstämme, und etwa fünfzig Meter dahinter kam ein Birkenwäldchen. Als wir ankamen, mahnte uns Knut zur Vorsicht, und wünschte uns viel Fett im Karabinerverschluss. Jemand lachte verächtlich und ich stapfte durch den betonharten Schnee zum Badehaus.
Ich zählte die zwanzigminütigen Zeitabschnitte nicht, sondern verließ mich einfach auf die anderen. Kam einer auf mich zu, war es so weit. Der Himmel über uns war unendlich klar und ich kam mir lächerlich vor unter all diesen Sternen, die weitaus besseres zu tun hatten als ich. Sie erschienen mir wie Zuschauer, die aber keinen Beifall spendeten für unser Vorhaben hier, noch nicht mal milde lächelten, im Gegenteil, uns dafür mit einer Kälte bestraften, die unmenschlich war. Ich kannte keinen einzigen dieser vielen Lichtpunkte. Biegel … ja, Biegel würde mit Sicherheit einige kennen. Nur nicht auf einer Stelle stehen, fiel mir plötzlich ein, sonst frieren mir die Füße am Boden fest. Immer ein wenig bewegen. Ich probierte einige Kniebeugen, gab es aber auf, da meine Kniegelenke schnell zu schmerzen anfingen.
Nach einigen Wechseln kam ich an der Kapelle an und ich lehnte mich für kurze Zeit an eine der Seitenwände, um ein wenig auszuruhen. Ob Gott uns diese Kälte geschickt hatte? Als ich versuchte, mir sein lachendes Gesicht vorzustellen, knisterte es jenseits des freien Feldes. Ruckartig löste ich mich von der Holzwand, ging in die Hocke und lauschte. Wieder ein Knirschen, dann Ruhe. Auf der Rückseite der Kapelle war der Priesterraum angebaut, der auf Steinen und Holzbalken stand. Darunter war Platz für einen Menschen. Wenn ich jetzt losrannte, um den Mann links von mir zu holen, könnte es schon zu spät sein; oder aber es war ein Tier, ein Wolf vielleicht, und ich würde mich lächerlich machen. Ich beschloss, mich unter den Erker zu legen. Mühsam robbte und drückte ich mich darunter, gerade so weit, dass ich noch einigermaßen etwas sehen konnte. Kaum zufrieden mit meiner Position, überlegte ich mir, wie lange ich es hier aushalten konnte, ohne zu erfrieren. Aber die Antwort waren die zwanzig Minuten, dann käme sowieso die Ablösung. Um mich nicht durch das Atmen zu verraten, legte ich meinen Mund auf den Wollärmel und stieß meinen Atem dort hinein. Langsam suchte ich die unter mir liegende, weiße Fläche ab. Nach kurzer Zeit knirschte es erneut und ein leises Klacken war zu hören. Dann tauchte unvermittelt auf der rechten Seite der Anhöhe eine weiße Kapuze auf, nur die Spitze davon, verhielt einen Moment in ihrer Bewegung, dann erschien ein vermummtes Gesicht, die Schultern, ein Karabinerlauf. Mir wurde plötzlich so heiß, dass ich die Kälte getrost ignorieren konnte. Eine russische Winteruniform mit einer Nase und Augen darin, keine vier Meter rechts von mir.
Die Sterne meinten es nicht gut. Ich vergaß zu atmen und spürte mit einem Mal ein Kratzen die Kehle herauf kommen. Gott im Himmel und alle Huren, fluchte ich innerlich. Mit dem Rest meiner Kraft stemmte ich mich dagegen, dann hustete ich kurz und trocken. Der Russe erstarrte in seiner langsamen Bewegung, fast meinte ich zu sehen, wie er seine Augen zusammenkniff, dann riss er seinen Karabiner hoch, legte an und ich dachte an Biegel, den Speck und einen Haufen Wärme um mich herum, als einfach nichts passierte. Zwei oder drei Mal versuchte es die weiße Gestalt, aber sein Verschluss war eingefroren. Er starrte mich an und ich brachte meinen Karabiner in Windeseile vor meine Schulter und drückte ab, zielen war bei dieser Entfernung nicht mehr nötig. Aber es passierte nichts. Mein Verschluss war ebenso eingefroren. Noch einmal. Nichts. Wie irrsinnig strampelte ich mich frei und stand schwer atmend vor dem Russen, der mir eine Hand und darin eine kleine Flasche entgegen hielt. Ich nahm sie und trank einen Schluck. Mein Herz pumpte mehr Blut durch meine Adern, als im letzten halben Jahr zusammen genommen. Und meine Güte, war das ein guter Wodka. Wie Öl rann er durch meine Kehle. Ich nickte und gab ihm den Flachmann zurück. Er trank sie leer.
»Spaciba«, flüsterte ich und bedeutete ihm mit winkender Hand, er möge sich schnell verziehen. »Dawai dawai, comrade«, setzte ich so leise wie möglich nach. Er verstand, bekreuzigte sich vor mir und nickte. Dann verschwand er so leise, wie er gekommen war. Ich erkannte, dass er breite Schneeschuhe trug, unter denen eine Art Fell klemmte. Als er verschwunden war, atmete ich trotz der Eiseskälte ein paar Mal tief durch und machte mich auf den Weg zum Nachbarposten. Was hätte ich sagen sollen zu meinen vielen Spuren im Schnee? Ich war grad froh, dass diese russischen Fellschuhe kaum selbst Spuren verursachten. Kurz vor der Nachbarposition sah ich eine vermummte Person mit Karabiner auf mich zukommen, leise fluchend. Es war Schlindwein.
»Ich bin es, Widmann«, rief ich ihm entgegen.
Er trat an mich heran und drückte mir sein Gesicht in meines.
»Warum verlässt du deinen scheiß Posten?«, blaffte er mich an.
»Mir war einfach zu kalt. Dir nicht?«
»Doch! Aber deswegen verlasse ich meinen Posten nicht!«
Wütend stapfte er davon. Er würde die Spuren entdecken. Dessen war ich mir sicher, dann gäbe es Alarm und ich wäre in Teufels Küche. Kurz überlegte ich mir, zu den Russen überzulaufen oder mich einfach in den Schnee zu legen. Aber ich marschierte durch zur Banja und setzte mich auf die Holztreppe. Aus diesem Schlamassel gab es einfach keinen vernünftigen Ausweg, aber es passierte nichts bis zur Ablösung. Als Biegel mich erreichte, brachte er eine Flasche Wodka unter seiner Jacke zum Vorschein. Wir tranken schweigend einige Schluck und ich machte mich voller Gewissensbisse auf den Weg zur Hütte. Drinnen traf ich auf Knut und seine Besatzung, darunter Schlindwein. Ich zog mich aus und ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Dort legte ich mich neben Fohleisen und Dangson, aber an Schlaf war nicht zu denken. Nur der Russe fiel mir ein, in seiner prachtvollen Wintermontur, weiß wie der Schnee. Biegel hatte Recht. Wir kämen nie bis Moskau.
Dangson sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Ich war offenbar eingedöst und erklomm nur langsam die wirkliche Welt um mich herum. Fohleisen schnarchte, so viel war zu hören, dann aber gab es da noch andere Geräusche. Motorengeräusche … ich sprang auf und zog mich an. Russen? Aber warum dann kein Alarmwecken? Wo war die Abteilung? Endlich hatte ich meine Stiefel an, die Wolljacken, trank einen Schluck Wodka von der Flasche auf dem Küchentisch und hetzte hinaus. Biegel und Knuts Rücken bremsten mich abrupt.
»Immer sachte mit den jungen Hunden«, raunte Knut in die Morgenluft.
»Was ist los? Russen?«, fragte ich die beiden vor mir.
»Russen? So ein Quatsch. Die halten sich noch an Olgas Hintern fest, bei der Kälte. Schau, da hinten.«
Biegel streckte seinen Arm nach rechts.
»Dort, aus südlicher Richtung, neben dem Durchbruch durch die Kiefernschonungen.«
Die Sonne war noch nicht aufgegangen und die gezeigte Richtung lag in der Dämmerung. Der Motorenlärm kam jedoch eindeutig von dort und langsam erkannte ich Fahrzeuge, Halbkettenfahrzeuge und Panzer, weiß-grauer Tarnanstrich, immer mehr.
»Verstärkung?«
Ich bekam keine Antwort.
»Warum redet ihr nicht? Das ist doch Verstärkung, oder?«
»Wie man’s nimmt«, meinte Biegel.
»SS-Division«, erklärte Knut. »Wurden uns vor einer Stunde vom Divisionsstab angekündigt. Offenbar stoßen wir mit ihnen vor Richtung Spas-Demensk. Sie kommen aus Roslavl.«
»Sie wollen auf Biegen und Brechen Moskau erreichen«, raunte Biegel in seinen Bart.
»Und?«, setzte ich nach, »Ist das jetzt gut oder schlecht? Ihr klingt so, als käme da der Feind. Aber das sind unsere.«
Dangson stand unten im Schnee und blickte durch ein Fernglas. Da kommen also die, zu denen es ihn immer hinzog. Ich drehte mich um und ging in die Hütte, um etwas zu essen. In diesem Moment hob mich eine unbändige Kraft von den Füßen und schleuderte mich unter den Tisch.
Als ich wieder die Augen öffnete, sah ich einen Ausschnitt vom eisblauen Himmel, so hell und klar, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich dachte ans Spüren von Schmerz oder Kälte, aber da war nichts, nur der Himmel. Nach einer undefinierbaren Zeitspanne weitete sich mein Blick, sah das teilweise weggerissene Dach, Bretter und Grassoden hingen in den Raum hinein, direkt über mir, und ein hohes Pfeifen schob sich durch das Dämmergefühl meiner Gedanken. Dann ein Gesicht, wie es sich über mich beugte, den Mund bewegte, aber es verschwand wieder. Der Himmel blieb, und drei Raben zogen ihre Bahn. Wie friedlich doch alles war. Dann wurde ich angehoben und auf meine Füße gestellt. So viele Menschen um mich herum. Ich verstand gar nicht, warum es hier so aussah? Von der Hütte des Politkommissars existierte kaum noch die Hälfte. Wo war meine Mannschaft?
»Verstehen Sie mich?«
Jemand flüsterte in mein Ohr. Ich drehte meinen Kopf und sah einen Mann in schneeweißer Winterkleidung. Er schien zu schreien.
»Verstehen Sie mich?«
Natürlich, ja, ich verstand ihn. Ich nickte.
»Tut Ihnen irgend etwas weh? Ist Ihnen schwindelig oder schlecht?«
Ich verneinte mit einem Kopfschütteln. Mit seiner Hand bedeutete er mir, mich auf eine Bank zu setzen. Also folgte ich seiner Aufforderung. Er reichte mir einen Flachmann und ich trank einen kleinen Schluck. Es schmeckte wunderbar nach einem feinen Kräuterlikör.
Das Durcheinander formte sich langsam zu einem erkennbaren Muster. Das Chaos schien bewältigt. Neben mir saßen oder standen einige Kameraden der anderen Sturmgeschütze, halb im Freien, denn ein Teil der Hüttenwand war herausgedrückt worden. Manche mehr oder weniger verletzt mit Platz- oder Schürfwunden. Ich beschloss, mir einen Überblick zu verschaffen, und stand auf, um die Hütte zu verlassen. Das Dorf glich einem Heerlager. Soldaten in weißer Schneeuniform, mit Schneeschuhen, Halbkettenfahrzeuge in einer endlosen Reihe, die großen Flächen zwischen den Häusern besetzt mit unzähligen Panzern, und vor der Hütte, auf dem hartgefrorenen Schnee der Dorfstraße, eine lange Reihe von Leichen. Ekel packte mich und ich wendete meinen Blick zur Seite, aber dann erkannte ich einen der Toten, Knut, mit seltsam verrenktem Kopf, und daneben … Schlindwein, einen großen Holzsplitter in seiner Brust. Ich stieg die zwei Stufen hinab und stellte mich vor die Toten. Da lag die Hälfte unserer Abteilung. Ich fasste mir an den Mund. Fahrenheim, unser Abteilungsführer, Fohleisen. Warum Fohleisen? Er schlief doch noch im Wohnzimmer, als ich nach draußen ging. Ich drehte mich um. Da war kein Wohnzimmer mehr. Tränen pressten sich aus meinen Augen, nach wenigen Zentimetern froren sie auf meiner Backe fest und taten schrecklich weh.
Mühsam drehte ich mich um. Fast starr vor schlechtem Gewissen. Die Kälte spürte ich kaum noch. Das war dieser Russe. Entweder ein Partisan, aber wohl eher ein Rotarmist. Ich hätte ihn erschießen sollen. Aber wie? Ihm an die Gurgel springen? Das Bajonett zwischen die Rippen treiben? Ich hätte es verhindern können … Als ich die Reihe der Leichen entlang lief, fiel mein Blick länger als gewollt auf Schlindwein. Es bereitete mir Genugtuung, ihn dort liegen zu sehen, und langsam wurde mir klar, dass es für mich keine Erlösung mehr gäbe in diesem weiten Land und dem endlosen Krieg. Biegel und Dangson waren nicht unter den Toten, aber auch nicht in der Hütte des Politkommissars. Also ging ich auf einen der SS-Männer zu, der zwischen den Halbkettenfahrzeugen stand.
»Entschuldigung, Kamerad. Gibt es noch woanders Überlebende? Ich suche meine Mannschaft. Sie sind nicht unter den Toten und nicht im Haus hinter mir.«
»Dann sind sie sicher leicht verwundet und im Badehaus. Dort haben wir ein provisorisches Lazarett eingerichtet.«
»Danke, Kamerad.«
Er nickte.
»Schöne Scheiße, was?«
»Ja. Es kam so überraschend.«
»Wir werden es ihnen heimzahlen.«
Ich stutzte.
»Heimzahlen?«
»Wir zahlen es ihnen immer heim.«
»Mh.«
Mehr fiel mir nicht ein, oder ich wollte es gar nicht mehr hören, sondern stapfte schnell zum Badehaus. Dort entdeckte ich Biegel und Dangson mit genähten Platzwunden am Kopf. Biegel war gerade dabei, sich den letzten Schluck aus einer Flasche zu genehmigen.
»Widmann!«, schrie er, als er mich sah. »Unkraut vergeht nicht, was?«
Ich rieb mir die festgefrorenen Tränen von der Backe und nahm beide in den Arm.
»Au! Verdammt!«, fluchte Dangson. »Pass doch auf …«
»Tschuldigung.«
»Wo ist Fohleisen?«
Ich warf Biegel einen kurzen Blick zu, sah aber wieder weg zu den anderen Verwundeten hier drin. Der SS-Arzt drehte seine Runde und musterte jede Verletzung.
»Schon kapiert«, sagte Biegel trocken. »Fohleisen hat es geschafft, aus diesem Mist rauszukommen.«
»Scheiße! Der arme Junge.«
Dangson bekreuzigte sich. Mir fiel unweigerlich der Russe ein und meine Knie gaben nach. Ich musste mich setzen. Biegel fing mich auf.
»He! Was ist los? Schwächeanfall?«
»Sieht so aus. Die Hälfte der Abteilung liegt tot da draußen im Schnee.«
Biegel nickte und rieb sich seinen Bart.
»Ja, ich weiß. Lauter gute Männer. Denk an meine Worte. Immer mehr von den Erfahrenen sterben und junges, unerfahrenes Gemüse kommt nach. Und da drüben, der Russe, der wird immer erfahrener, und sie haben doppelt so viele Leute als wir.«
Dangson stand auf.
»Ich besorg uns ne Flasche Wodka. Das desinfiziert. Außerdem kann ich das pessimistische Geschwätz nicht mehr hören.«
Er verließ das Badehaus und ich sah Biegel an, seine Wunde, seinen blutverkrusteten Bart. Die Augen zu Schlitzen verengt, meinte ich eine Träne zu sehen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich ihn.
Gegen Mittag kam der Befehl, die Motoren anzuwerfen, und warmlaufen zu lassen. Die Versorgungsoffiziere der SS-Division munitionierten unsere Bestände an Spreng- und Panzergranaten auf und ich bekam sogar eine neue Zeiss-Optik. Vom Divisionsstab aus Jelnja schickte man uns Mannschaftsersatz und einen neuen Abteilungsführer, einen Major Kappler. Kurz vor eins kam Biegel in die Scheune, stieg auf das Sturmgeschütz, kletterte schweigend durch seine Luke in den Panzer und wir setzten Kopfhörer und Kehlkopfmikrofone auf. Seine Miene war finster. Unter dem Geschütz hindurch warf ich Dangson einen Blick zu, wagte aber nicht zu reden.
»Fahr zu, Dangson. Raus hier.«
»Aber das Scheunentor …«
»Fahr zu, hab ich gesagt.«
Dangson kuppelte ein und setzte rückwärts aus der Scheune. Das Tor war kein Hindernis und wurde von den Ketten in Stücke gerissen. Als wir draußen waren, nahm ich die Optik aus der Halterung und zwängte den Oberkörper durch meine Luke. Rechts von uns standen die Sturmgeschütze der zweiten und dritten Batterie, dahinter in mehreren Reihen die Panzer der SS-Division. Als ich nach links blickte, in südliche Richtung, der Straße nach Spas-Demensk folgend, sah ich die Dorfbewohner in Zweierreihe auf der Straße, links und rechts von SS-Männern flankiert. Der Schreck fuhr mir dermaßen in die Knochen, dass ich in den Kampfraum zurücksackte. Mein Herz raste und innerhalb von Sekunden trocknete mein Mund aus.
»Komm, Hannes, sieh nicht hin«, hörte ich Biegels Stimme aus den Kopfhörern. Ich wollte wieder aus der Luke, aber er hielt mich an der Koppel fest.
»Sieh nicht hin!«, brüllte er in sein Mikrofon. Es krächzte und schmerzte in meinen Ohren.
»Dangson! Fahr zu! Einreihen hinter das Führungsfahrzeug!«
Ich hörte Schüsse, einzelne Schüsse, kein automatisches Feuer, dafür Schreie, die wie Rasierklingen durch die Luft fetzten, durch die Winkelschlitze in unseren Kampfraum eindrangen. Hastig setzte ich die Zeiss-Optik in die Halterung und sah hindurch. Dangson drehte die Wanne über die rechte Kette und wir standen hinter Kapplers Führungspanzer. Dazwischen sah ich die SS-Männer, die den Menschen in die Knie schossen, und als sie wegkriechen wollten, daran hinderten, indem sie weitere Schüsse in Arme und Hände feuerten. Der Anfahrbefehl kam. Wir setzten uns in Bewegung, achtzehn Sturmgeschütze, auf die kriechenden Leiber zu, hinter uns die Halbkettenfahrzeuge und auf breiter Linie die Kampfpanzer der SS-Division, die durch jedes Haus walzten und sich auf den Ketten drehten. Biegel zog mich weg von der Schere und nahm sie raus. Er sah mich mit festem Blick an, reichte mir den Wodka.
»S-i-e-h - n-i-c-h-t - h-i-n, hab ich gesagt!«
Als ich trank, fuhren wir über Unebenheiten, weiche Körper, die Schreie erstarben. Dangson ließ den Motor höher drehen. Ab jetzt würde ich nie mehr irgend jemanden in meinem Leben um Vergebung bitten können.