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Serie Als wir uns verloren [1]: Winterstarre

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10.02.2000
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Als wir uns verloren [1]: Winterstarre

Da war Dangson, unser Fahrer. Sigurd, hieß er. Ein echter Arier, wie es keinen schöneren im Bilderbuch der HJ gab; und außerdem Däne. Keiner von uns wusste wirklich genau, was ihn an diesen verlassenen Ort gespült hatte. Uns erzählte er lediglich von seinem Wunsch, einer SS-Division beitreten zu wollen, was aber augenscheinlich misslang. Nun war er unser Fahrer. Der beste Fahrer in der ganzen Abteilung. Dangson, murmelte ich leise vor mich hin. Keine Ahnung, wie oft er uns allen schon das Leben gerettet hatte. Ich sah wieder durch die Optik und kam zu keinem anderen Ergebnis als zuvor: Sie war schlicht kaputt.
Es war kein direkter Treffer gewesen, dem Himmel sei Dank, sondern wohl ein Querschläger oder Granatsplitter, der genau die Linse des linken Zielfernrohres beschädigte. Die Entfernungsstriche waren gegeneinander versetzt. Ich löste die Apparatur aus ihrer Verschraubung und stieg aus dem Panzer. Meine Finger schmerzten bei jedem Griff an den eiskalten Stahl, und ich machte, dass ich von dem Bock runterkam.
»Ich mach Feierabend für heute«, rief Dangson aus seiner Fahrerluke. »Bei der Arscheskälte kleben einem nur die Finger am Metall fest.«
»Du hast Recht. Lass uns Feierabend machen«, stimmte ich ihm zu.
Er kletterte aus der Fahrerluke, rieb sich die Hände und hauchte einige Male hinein.
»Das solltest du nicht machen. Hast du Feuchtigkeit an den Händen. Das tut am Ende noch mehr weh.«
»Du bist ein Klugscheißer, Hannes, hab ich dir das schon mal gesagt?«
»Klar, du Däne. Schon oft genug.«
Er grinste breit und eine Reihe prachtvoller, weißer Zähne kam zum Vorschein.
»Lass lieber den Mund zu, sonst friert dir noch die Zunge an den Zähnen fest.«
Er gab mir einen Stoß und ging auf das Scheunentor zu.
»Komm! Der Wodka wartet schon auf uns.«
Die kaputte Optik in einem Öltuch, folgte ich ihm nach draußen.

Die Farbe des Himmels unterschied sich kaum von den Farben um uns herum. Selbst der Schnee schien das Grau angenommen zu haben. Ein schneidend kalter Ostwind fegte in unsere vermummten Gesichter, fast schon sturmartig, trieb er uns über die Dorfstraße. Wir stapften wie Betrunkene durch den kniehohen Schnee, der so hart gefroren war, dass die Schneekristalle kleine, aufrecht stehende Weihnachtsbäume bildeten. Für den Weg zum Haus des Politkommissars benötigten wir eine halbe Ewigkeit. Völlig erschöpft fielen wir mit der löchrigen Holztür in die Küche.
»Tür zu!«
»Was sonst!«, rief ich zurück, und packte mein Gesicht und mich aus den dicken Lagen der russischen Wolljacken, die wir den Dorfbewohnern vorgestern abgenommen hatten. Dangson setzte sich vor den gusseisernen Ofen und rieb sich die Hände. Am großen Tisch vertrieben sich einige die Zeit mit einer Skatrunde nach der anderen.
»Was ist mit deiner Optik?«
Ich sah auf, während ich mir die Stiefel von den Füßen zog. Der Biegel Franz, so nannten wir ihn in seiner Abwesenheit, war unser Kommandant. Er saß abseits auf einer Holzbank und wichste seine Stiefel.
»Kaputt, Chef.«
»Wie kaputt?«
»Komplett. Entfernungsmessung ist nicht mehr. Ich brauch ne neue Schere.«
»Scheiße! Die kriegen wir jetzt nicht so schnell. Die Instandsetzung ist noch in der Etappe«, er rieb sich seinen Bart und starrte durch mich hindurch. »Ich glaub nicht, dass sich der Schneesturm in den nächsten zwei Tagen legen wird. Wir sind einfach zu schnell vorgestoßen …«
»Halt einfach dein Maul, Biegel. Können wir nichts machen, können’s die Russen och nicht.«
Ich salutierte gerade so, dass es noch annehmbar schien und verfolgte die Blicke, die sich unser Biegel Franz und der Abteilungsführer, Oberleutnant Fahrenheim, zuwarfen. Eines Tages würden sie sich an die Gurgel gehen, dessen war ich mir sicher.

Der Biegel Franz erhob sich bedächtig und legte seine rechte Hand an die Stirn, immer noch die Wichsbürste haltend.
»Jawohl, Herr Oberleutnant. Dürfen meine Leute und ich uns zurückziehen?«
»Wenn sie mir aus den Augen träten, wäre mir das recht.«
»Danke, Herr Oberleutnant.«
Im Raum war es still geworden. Selbst die Skatspieler sahen schweigend auf ihre Karten und warteten ab, was noch passieren würde. Aber der Oberleutnant drehte sich und ging wieder in seinen Raum. Biegel nickte mir und Dangson zu und wir folgten ihm in das, was wohl mal ein Wohnzimmer war. Auf dem Boden, unter dem mit massiven Brettern zugenagelten Fenster, lag die komplette Mannschaft des 421er und schnarchte vor sich hin. Wir bezeichneten uns untereinander immer mit den Nummerierungen, die auf den Sturmgeschützen aufgebracht waren, das machte es für alle leichter.
Wir setzten uns um den selbstgezimmerten Tisch, Dangson griff hinter seine Sitzbank in eine Kiste, holte eine etikettlose Flasche hervor und stellte sie auf die arg ramponierte Tischplatte. Aber Biegel sah ihn nur genervt an und schob die Flasche beiseite. Stattdessen griff er in seine Seitentasche und zog eine Karte hervor, die er vor uns ausbreitete.
»Was soll das sein?«, wollte Dangson wissen.
»Die hab ich dem toten T-34-Kommandanten aus der Tasche gezogen, der uns gestern beinahe erwischt hat.«
»Warum gibst du sie dann nicht Fahrenheim?«
Biegel sah uns mitleidig an.
»Weil Fahrenheim diese Karte sowieso nicht lesen kann. Es ist eine russische. Klar?«
Dangson runzelte die Stirn.
»Aber du kannst sie lesen, oder was?«
»Ich kann sie lesen, ja. Ich hab schließlich russische Literatur studiert und war ne Zeitlang in Petersburg.«
»Du meinst Leningrad«, verbesserte ich ihn.
»Vollkommen gleich.«

Dangson nahm die Flasche und trank einen kräftigen Schluck. Er verzog kurz das Gesicht und gab sie mir. Biegel spreizte Daumen und Zeigefinger und überspannte einen Teil der Karte. Ich setzte die Flasche an und ließ den Wodka in meine Kehle laufen. Es brannte fürchterlich. Ein Hustenanfall war die Folge. Dangson lachte.
»Das Zeug kippen die Russkis auch in ihre Panzer, wenn mal kein Sprit da ist. Springen einwandfrei an.«
»Also, hier ist Minsk, dort Smolensk. Luftlinie um die 300 Kilometer. Und hier …«, Biegel setzte seinen Zeigefinger auf einen bräunlich markierten Punkt, »… ist Moskau. Von unserem Standort bis nach Moskau sind es ebenfalls 300 Kilometer Luftlinie. Es gibt nur eine einigermaßen gute Straße. Von Minsk, über Smolensk, nach Moskau. Oder weiter südlich, über Spas-Demensk und Obninsk. Der Rest ist Wald, Sumpf, Gelände ohne Ende.«
Er schwieg und starrte auf die Karte. Ich trank noch einen Schluck und reichte die Flasche Dangson.
»Was willst du uns jetzt genau sagen, Franz?«
»Mensch Hannes«, er sah mich direkt an, mit seinen immer klaren und leicht feuchten Augen. »Wir werden nie in Moskau ankommen. Nie.«

Dangson setzte die Flasche ab. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er Biegel.
»Wie kommst du darauf? Was hat uns bisher aufgehalten?«
»Sigurd, seit einiger Zeit wird der Widerstand immer heftiger, kommen immer mehr von diesen T-34. Die Russen zünden neuerdings all ihre Dörfer an, damit wir nichts mehr holen können. Unser Nachschub stockt, die Luftwaffe kann nicht mehr fliegen wegen der Scheißkälte. Wir stehen vor den selben Problemen wie Napoleon. Fällt euch das nicht auf?«
»Dieses Dorf haben sie vergessen«, widersprach der Däne.
»Klar, Dangson, sie sind auch nicht perfekt. Und wir sind ab und an schneller als sie.«
»Gut, dass sie das Dorf hier vergessen haben«, warf ich ein. »So haben wir immerhin was zu essen und warme Kleidung gefunden. Und die Bewohner verstecken sich und warten, bis wir wieder abziehen. Ist doch alles bestens … bis auf meine Optik.«

Wir sahen uns an. Ich wusste nicht, was ich von Biegels Gedankengängen halten sollte. Er war ein sehr guter Panzerkommandant, mit einer enormen Intuition, die uns schon vor manchem bewahrt hatte. Dass er nicht mit allem einverstanden war, was um uns herum passierte, wussten wir, aber gerade er betonte immer wieder, mit ganzem Herzen Soldat zu sein. Und das hieß nun mal auch, die Befehle zu befolgen, so seine Aussage.
»Napoleon war in Moskau. Im Kreml. Oder etwa nicht?«, gab Dangson zu bedenken.
Biegel verdrehte seine Augen.
»Moskau war geräumt. Der Zar weg. Die Stadt brannte fast vollständig ab. War das ein Sieg? War damit Russland geschlagen? Nach Moskau kommen noch 6.000 Kilometer Scheißrussland. Eine Tankfüllung reicht für 100 Kilometer landeinwärts. Unser Tank ist leer. Wo ist der Nachschub?«
Er knüllte die Karte zusammen und warf sie an die Wand. Dann schnappte er sich die Flasche, trank ohne eine Regung im Gesicht ein Viertel aus, setzte sie ab und lehnte sich zurück.
»Wer hat heute zweite Wache und löst Fohleisen ab?«
»Ich mach die zweite, zusammen mit denen vom 423er«, erklärte Dangson.
»Gut, Sigurd. Hannes, du machst die dritte Wache. Leg dich aufs Ohr. Ich weck dich.«
»Mach ich.«

*​

Als Biegel mich aus meinem unruhigen Schlaf rüttelte, sah ich im letzten Blick auf einen grauenhaften Traum gerade noch zwei explodierende Sturmgeschütze vor uns auf der Anhöhe, wobei das rechte lediglich wie eine Fackel ausbrannte, weil eine Sprenggranate die Treibladungen entzündet hatte. Es fauchte, und die Flammen schossen durch die Luken in den Himmel. Noch nicht einmal die Schreie waren zu hören. Biegel gab mir einen Klaps auf die Backe.
»Hopp, aufstehen, Hannes.«
»Ist schon Zeit?«
»Kurz vor ein Uhr. Dangson wird sich draußen schon den Arsch abfrieren.«
Ich blinzelte ins Kerzenlicht.
»Wer geht mit mir raus?«
»Knut und seine 425er.«
Biegel nahm meine Hand und zog mich hoch. Ich fühlte mich nicht in der Lage, draußen auf irgend etwas aufzupassen. Weder auf die Panzer noch auf mich. Ich spürte jeden einzelnen Muskel, jedes Gelenk lehnte sich gegen diesen Wachdienst auf. Aber es half ja alles nichts. Die Wodkaflasche, ein Riegel Speck und ein Brocken Kommissbrot tauchten vor mir auf.
»Hier. Trink und iss das. Das reißt dich aus dem Schlaf.«
Widerwillig trank ich einen Schluck und biss in den Speck. Dann schlich ich mich in die Küche. Dort stopfte ich mir Zeitungen in die Stiefel und schlupfte hinein. Aus einer verbeulten Emaillekanne, die auf dem noch warmen Gussofen stand, schenkte ich mir einen mehr als schwarzen Kaffee in den Deckel meines Feldgeschirrs. Ich schlürfte das heiße Gebräu und verschlang den Speck zusammen mit dem Brot. Dann sah ich mich um, zog mich an, prüfte den Karabiner, der in der Ecke des Wachdienstes stand und ging nach draußen.

Ich rechnete mit dem Schlimmsten, aber der heftige Ostwind hatte sich überraschenderweise gelegt, entgegen der Verlautbarungen der Wetterfrösche. Was blieb, war eine grausige Kälte, die vor keiner noch so guten Kleidung Halt zu machen schien. Und wir hatten keine gute Kleidung. Im Gegensatz jedoch zu den armen Schweinen der Infanterie, saßen wir meist im warmen Panzer, wenn es gelang, den Motor zu starten. Leise Stimmen vor der Hütte ließen mich in das Dunkel der Nacht starren. Knut und seine Mannschaft. Es knirschte unheimlich unter meinen Stiefeln, als ich mich auf den Weg zu ihnen machte.
»Da ist er ja endlich. Noch ein paar Minuten, und die Pisse in meiner Blase wäre gefroren.«
»Halt einfach die Fresse, Schlindwein«, fuhr ihm Knut über den Mund.
Ich sagte nichts, blickte nur die vier anderen an.
»Pass auf, Widmann. Wir machen das ein wenig anders, um in Bewegung zu bleiben. Du nimmst die linke Ecke an der Banja, Schlindwein die rechte Ecke an der Kapelle, wir anderen dazwischen. Alle zwanzig Minuten rücken wir eine Position weiter, immer im Uhrzeigersinn. So machen wir das die ganze Zeit. Dadurch bleiben wir immer in Bewegung. Ist das ein Vorschlag?«
»Ja, gute Idee, Knut.«
Ich nickte und wir zogen schweigend los. Keiner sagte ein Wort zu viel. Nicht bei dieser Kälte, die bei jedem Atemzug durch den offenen Mund unmittelbar bis tief in die Lungen vordrang, um alles zu Eis erstarren zu lassen. Jedes Luftholen schmerzte, und wir atmeten so gut es ging durch die Nasen.
Das Dorf bestand mehr oder weniger aus einer Durchgangsstraße, etwa einhundert Häusern oder Höfen links und rechts dieser Straße, die in der Regenzeit lediglich ein einziges Schlammloch war, einer Kapelle auf einer kleinen Anhöhe und der Banja, einem russischen Badehaus, das an einem Bach lag; wenn ich die mäandernde Vertiefung im Schnee richtig deutete. An der Linie Kapelle-Banja gab es eine Telegrafenleitung, allerdings existierten nur noch die Baumstämme, und etwa fünfzig Meter dahinter kam ein Birkenwäldchen. Als wir ankamen, mahnte uns Knut zur Vorsicht, und wünschte uns viel Fett im Karabinerverschluss. Jemand lachte verächtlich und ich stapfte durch den betonharten Schnee zum Badehaus.

Ich zählte die zwanzigminütigen Zeitabschnitte nicht, sondern verließ mich einfach auf die anderen. Kam einer auf mich zu, war es so weit. Der Himmel über uns war unendlich klar und ich kam mir lächerlich vor unter all diesen Sternen, die weitaus besseres zu tun hatten als ich. Sie erschienen mir wie Zuschauer, die aber keinen Beifall spendeten für unser Vorhaben hier, noch nicht mal milde lächelten, im Gegenteil, uns dafür mit einer Kälte bestraften, die unmenschlich war. Ich kannte keinen einzigen dieser vielen Lichtpunkte. Biegel … ja, Biegel würde mit Sicherheit einige kennen. Nur nicht auf einer Stelle stehen, fiel mir plötzlich ein, sonst frieren mir die Füße am Boden fest. Immer ein wenig bewegen. Ich probierte einige Kniebeugen, gab es aber auf, da meine Kniegelenke schnell zu schmerzen anfingen.

Nach einigen Wechseln kam ich an der Kapelle an und ich lehnte mich für kurze Zeit an eine der Seitenwände, um ein wenig auszuruhen. Ob Gott uns diese Kälte geschickt hatte? Als ich versuchte, mir sein lachendes Gesicht vorzustellen, knisterte es jenseits des freien Feldes. Ruckartig löste ich mich von der Holzwand, ging in die Hocke und lauschte. Wieder ein Knirschen, dann Ruhe. Auf der Rückseite der Kapelle war der Priesterraum angebaut, der auf Steinen und Holzbalken stand. Darunter war Platz für einen Menschen. Wenn ich jetzt losrannte, um den Mann links von mir zu holen, könnte es schon zu spät sein; oder aber es war ein Tier, ein Wolf vielleicht, und ich würde mich lächerlich machen. Ich beschloss, mich unter den Erker zu legen. Mühsam robbte und drückte ich mich darunter, gerade so weit, dass ich noch einigermaßen etwas sehen konnte. Kaum zufrieden mit meiner Position, überlegte ich mir, wie lange ich es hier aushalten konnte, ohne zu erfrieren. Aber die Antwort waren die zwanzig Minuten, dann käme sowieso die Ablösung. Um mich nicht durch das Atmen zu verraten, legte ich meinen Mund auf den Wollärmel und stieß meinen Atem dort hinein. Langsam suchte ich die unter mir liegende, weiße Fläche ab. Nach kurzer Zeit knirschte es erneut und ein leises Klacken war zu hören. Dann tauchte unvermittelt auf der rechten Seite der Anhöhe eine weiße Kapuze auf, nur die Spitze davon, verhielt einen Moment in ihrer Bewegung, dann erschien ein vermummtes Gesicht, die Schultern, ein Karabinerlauf. Mir wurde plötzlich so heiß, dass ich die Kälte getrost ignorieren konnte. Eine russische Winteruniform mit einer Nase und Augen darin, keine vier Meter rechts von mir.

Die Sterne meinten es nicht gut. Ich vergaß zu atmen und spürte mit einem Mal ein Kratzen die Kehle herauf kommen. Gott im Himmel und alle Huren, fluchte ich innerlich. Mit dem Rest meiner Kraft stemmte ich mich dagegen, dann hustete ich kurz und trocken. Der Russe erstarrte in seiner langsamen Bewegung, fast meinte ich zu sehen, wie er seine Augen zusammenkniff, dann riss er seinen Karabiner hoch, legte an und ich dachte an Biegel, den Speck und einen Haufen Wärme um mich herum, als einfach nichts passierte. Zwei oder drei Mal versuchte es die weiße Gestalt, aber sein Verschluss war eingefroren. Er starrte mich an und ich brachte meinen Karabiner in Windeseile vor meine Schulter und drückte ab, zielen war bei dieser Entfernung nicht mehr nötig. Aber es passierte nichts. Mein Verschluss war ebenso eingefroren. Noch einmal. Nichts. Wie irrsinnig strampelte ich mich frei und stand schwer atmend vor dem Russen, der mir eine Hand und darin eine kleine Flasche entgegen hielt. Ich nahm sie und trank einen Schluck. Mein Herz pumpte mehr Blut durch meine Adern, als im letzten halben Jahr zusammen genommen. Und meine Güte, war das ein guter Wodka. Wie Öl rann er durch meine Kehle. Ich nickte und gab ihm den Flachmann zurück. Er trank sie leer.

»Spaciba«, flüsterte ich und bedeutete ihm mit winkender Hand, er möge sich schnell verziehen. »Dawai dawai, comrade«, setzte ich so leise wie möglich nach. Er verstand, bekreuzigte sich vor mir und nickte. Dann verschwand er so leise, wie er gekommen war. Ich erkannte, dass er breite Schneeschuhe trug, unter denen eine Art Fell klemmte. Als er verschwunden war, atmete ich trotz der Eiseskälte ein paar Mal tief durch und machte mich auf den Weg zum Nachbarposten. Was hätte ich sagen sollen zu meinen vielen Spuren im Schnee? Ich war grad froh, dass diese russischen Fellschuhe kaum selbst Spuren verursachten. Kurz vor der Nachbarposition sah ich eine vermummte Person mit Karabiner auf mich zukommen, leise fluchend. Es war Schlindwein.
»Ich bin es, Widmann«, rief ich ihm entgegen.
Er trat an mich heran und drückte mir sein Gesicht in meines.
»Warum verlässt du deinen scheiß Posten?«, blaffte er mich an.
»Mir war einfach zu kalt. Dir nicht?«
»Doch! Aber deswegen verlasse ich meinen Posten nicht!«

Wütend stapfte er davon. Er würde die Spuren entdecken. Dessen war ich mir sicher, dann gäbe es Alarm und ich wäre in Teufels Küche. Kurz überlegte ich mir, zu den Russen überzulaufen oder mich einfach in den Schnee zu legen. Aber ich marschierte durch zur Banja und setzte mich auf die Holztreppe. Aus diesem Schlamassel gab es einfach keinen vernünftigen Ausweg, aber es passierte nichts bis zur Ablösung. Als Biegel mich erreichte, brachte er eine Flasche Wodka unter seiner Jacke zum Vorschein. Wir tranken schweigend einige Schluck und ich machte mich voller Gewissensbisse auf den Weg zur Hütte. Drinnen traf ich auf Knut und seine Besatzung, darunter Schlindwein. Ich zog mich aus und ging schnurstracks ins Wohnzimmer. Dort legte ich mich neben Fohleisen und Dangson, aber an Schlaf war nicht zu denken. Nur der Russe fiel mir ein, in seiner prachtvollen Wintermontur, weiß wie der Schnee. Biegel hatte Recht. Wir kämen nie bis Moskau.

*​

Dangson sprang auf und rannte aus dem Zimmer. Ich war offenbar eingedöst und erklomm nur langsam die wirkliche Welt um mich herum. Fohleisen schnarchte, so viel war zu hören, dann aber gab es da noch andere Geräusche. Motorengeräusche … ich sprang auf und zog mich an. Russen? Aber warum dann kein Alarmwecken? Wo war die Abteilung? Endlich hatte ich meine Stiefel an, die Wolljacken, trank einen Schluck Wodka von der Flasche auf dem Küchentisch und hetzte hinaus. Biegel und Knuts Rücken bremsten mich abrupt.
»Immer sachte mit den jungen Hunden«, raunte Knut in die Morgenluft.
»Was ist los? Russen?«, fragte ich die beiden vor mir.
»Russen? So ein Quatsch. Die halten sich noch an Olgas Hintern fest, bei der Kälte. Schau, da hinten.«
Biegel streckte seinen Arm nach rechts.
»Dort, aus südlicher Richtung, neben dem Durchbruch durch die Kiefernschonungen.«
Die Sonne war noch nicht aufgegangen und die gezeigte Richtung lag in der Dämmerung. Der Motorenlärm kam jedoch eindeutig von dort und langsam erkannte ich Fahrzeuge, Halbkettenfahrzeuge und Panzer, weiß-grauer Tarnanstrich, immer mehr.
»Verstärkung?«
Ich bekam keine Antwort.
»Warum redet ihr nicht? Das ist doch Verstärkung, oder?«
»Wie man’s nimmt«, meinte Biegel.
»SS-Division«, erklärte Knut. »Wurden uns vor einer Stunde vom Divisionsstab angekündigt. Offenbar stoßen wir mit ihnen vor Richtung Spas-Demensk. Sie kommen aus Roslavl.«
»Sie wollen auf Biegen und Brechen Moskau erreichen«, raunte Biegel in seinen Bart.
»Und?«, setzte ich nach, »Ist das jetzt gut oder schlecht? Ihr klingt so, als käme da der Feind. Aber das sind unsere.«
Dangson stand unten im Schnee und blickte durch ein Fernglas. Da kommen also die, zu denen es ihn immer hinzog. Ich drehte mich um und ging in die Hütte, um etwas zu essen. In diesem Moment hob mich eine unbändige Kraft von den Füßen und schleuderte mich unter den Tisch.

Als ich wieder die Augen öffnete, sah ich einen Ausschnitt vom eisblauen Himmel, so hell und klar, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich dachte ans Spüren von Schmerz oder Kälte, aber da war nichts, nur der Himmel. Nach einer undefinierbaren Zeitspanne weitete sich mein Blick, sah das teilweise weggerissene Dach, Bretter und Grassoden hingen in den Raum hinein, direkt über mir, und ein hohes Pfeifen schob sich durch das Dämmergefühl meiner Gedanken. Dann ein Gesicht, wie es sich über mich beugte, den Mund bewegte, aber es verschwand wieder. Der Himmel blieb, und drei Raben zogen ihre Bahn. Wie friedlich doch alles war. Dann wurde ich angehoben und auf meine Füße gestellt. So viele Menschen um mich herum. Ich verstand gar nicht, warum es hier so aussah? Von der Hütte des Politkommissars existierte kaum noch die Hälfte. Wo war meine Mannschaft?
»Verstehen Sie mich?«
Jemand flüsterte in mein Ohr. Ich drehte meinen Kopf und sah einen Mann in schneeweißer Winterkleidung. Er schien zu schreien.
»Verstehen Sie mich?«
Natürlich, ja, ich verstand ihn. Ich nickte.
»Tut Ihnen irgend etwas weh? Ist Ihnen schwindelig oder schlecht?«
Ich verneinte mit einem Kopfschütteln. Mit seiner Hand bedeutete er mir, mich auf eine Bank zu setzen. Also folgte ich seiner Aufforderung. Er reichte mir einen Flachmann und ich trank einen kleinen Schluck. Es schmeckte wunderbar nach einem feinen Kräuterlikör.

Das Durcheinander formte sich langsam zu einem erkennbaren Muster. Das Chaos schien bewältigt. Neben mir saßen oder standen einige Kameraden der anderen Sturmgeschütze, halb im Freien, denn ein Teil der Hüttenwand war herausgedrückt worden. Manche mehr oder weniger verletzt mit Platz- oder Schürfwunden. Ich beschloss, mir einen Überblick zu verschaffen, und stand auf, um die Hütte zu verlassen. Das Dorf glich einem Heerlager. Soldaten in weißer Schneeuniform, mit Schneeschuhen, Halbkettenfahrzeuge in einer endlosen Reihe, die großen Flächen zwischen den Häusern besetzt mit unzähligen Panzern, und vor der Hütte, auf dem hartgefrorenen Schnee der Dorfstraße, eine lange Reihe von Leichen. Ekel packte mich und ich wendete meinen Blick zur Seite, aber dann erkannte ich einen der Toten, Knut, mit seltsam verrenktem Kopf, und daneben … Schlindwein, einen großen Holzsplitter in seiner Brust. Ich stieg die zwei Stufen hinab und stellte mich vor die Toten. Da lag die Hälfte unserer Abteilung. Ich fasste mir an den Mund. Fahrenheim, unser Abteilungsführer, Fohleisen. Warum Fohleisen? Er schlief doch noch im Wohnzimmer, als ich nach draußen ging. Ich drehte mich um. Da war kein Wohnzimmer mehr. Tränen pressten sich aus meinen Augen, nach wenigen Zentimetern froren sie auf meiner Backe fest und taten schrecklich weh.

Mühsam drehte ich mich um. Fast starr vor schlechtem Gewissen. Die Kälte spürte ich kaum noch. Das war dieser Russe. Entweder ein Partisan, aber wohl eher ein Rotarmist. Ich hätte ihn erschießen sollen. Aber wie? Ihm an die Gurgel springen? Das Bajonett zwischen die Rippen treiben? Ich hätte es verhindern können … Als ich die Reihe der Leichen entlang lief, fiel mein Blick länger als gewollt auf Schlindwein. Es bereitete mir Genugtuung, ihn dort liegen zu sehen, und langsam wurde mir klar, dass es für mich keine Erlösung mehr gäbe in diesem weiten Land und dem endlosen Krieg. Biegel und Dangson waren nicht unter den Toten, aber auch nicht in der Hütte des Politkommissars. Also ging ich auf einen der SS-Männer zu, der zwischen den Halbkettenfahrzeugen stand.
»Entschuldigung, Kamerad. Gibt es noch woanders Überlebende? Ich suche meine Mannschaft. Sie sind nicht unter den Toten und nicht im Haus hinter mir.«
»Dann sind sie sicher leicht verwundet und im Badehaus. Dort haben wir ein provisorisches Lazarett eingerichtet.«
»Danke, Kamerad.«
Er nickte.
»Schöne Scheiße, was?«
»Ja. Es kam so überraschend.«
»Wir werden es ihnen heimzahlen.«
Ich stutzte.
»Heimzahlen?«
»Wir zahlen es ihnen immer heim.«
»Mh.«
Mehr fiel mir nicht ein, oder ich wollte es gar nicht mehr hören, sondern stapfte schnell zum Badehaus. Dort entdeckte ich Biegel und Dangson mit genähten Platzwunden am Kopf. Biegel war gerade dabei, sich den letzten Schluck aus einer Flasche zu genehmigen.

»Widmann!«, schrie er, als er mich sah. »Unkraut vergeht nicht, was?«
Ich rieb mir die festgefrorenen Tränen von der Backe und nahm beide in den Arm.
»Au! Verdammt!«, fluchte Dangson. »Pass doch auf …«
»Tschuldigung.«
»Wo ist Fohleisen?«
Ich warf Biegel einen kurzen Blick zu, sah aber wieder weg zu den anderen Verwundeten hier drin. Der SS-Arzt drehte seine Runde und musterte jede Verletzung.
»Schon kapiert«, sagte Biegel trocken. »Fohleisen hat es geschafft, aus diesem Mist rauszukommen.«
»Scheiße! Der arme Junge.«
Dangson bekreuzigte sich. Mir fiel unweigerlich der Russe ein und meine Knie gaben nach. Ich musste mich setzen. Biegel fing mich auf.
»He! Was ist los? Schwächeanfall?«
»Sieht so aus. Die Hälfte der Abteilung liegt tot da draußen im Schnee.«
Biegel nickte und rieb sich seinen Bart.
»Ja, ich weiß. Lauter gute Männer. Denk an meine Worte. Immer mehr von den Erfahrenen sterben und junges, unerfahrenes Gemüse kommt nach. Und da drüben, der Russe, der wird immer erfahrener, und sie haben doppelt so viele Leute als wir.«
Dangson stand auf.
»Ich besorg uns ne Flasche Wodka. Das desinfiziert. Außerdem kann ich das pessimistische Geschwätz nicht mehr hören.«
Er verließ das Badehaus und ich sah Biegel an, seine Wunde, seinen blutverkrusteten Bart. Die Augen zu Schlitzen verengt, meinte ich eine Träne zu sehen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich ihn.

Gegen Mittag kam der Befehl, die Motoren anzuwerfen, und warmlaufen zu lassen. Die Versorgungsoffiziere der SS-Division munitionierten unsere Bestände an Spreng- und Panzergranaten auf und ich bekam sogar eine neue Zeiss-Optik. Vom Divisionsstab aus Jelnja schickte man uns Mannschaftsersatz und einen neuen Abteilungsführer, einen Major Kappler. Kurz vor eins kam Biegel in die Scheune, stieg auf das Sturmgeschütz, kletterte schweigend durch seine Luke in den Panzer und wir setzten Kopfhörer und Kehlkopfmikrofone auf. Seine Miene war finster. Unter dem Geschütz hindurch warf ich Dangson einen Blick zu, wagte aber nicht zu reden.
»Fahr zu, Dangson. Raus hier.«
»Aber das Scheunentor …«
»Fahr zu, hab ich gesagt.«

Dangson kuppelte ein und setzte rückwärts aus der Scheune. Das Tor war kein Hindernis und wurde von den Ketten in Stücke gerissen. Als wir draußen waren, nahm ich die Optik aus der Halterung und zwängte den Oberkörper durch meine Luke. Rechts von uns standen die Sturmgeschütze der zweiten und dritten Batterie, dahinter in mehreren Reihen die Panzer der SS-Division. Als ich nach links blickte, in südliche Richtung, der Straße nach Spas-Demensk folgend, sah ich die Dorfbewohner in Zweierreihe auf der Straße, links und rechts von SS-Männern flankiert. Der Schreck fuhr mir dermaßen in die Knochen, dass ich in den Kampfraum zurücksackte. Mein Herz raste und innerhalb von Sekunden trocknete mein Mund aus.
»Komm, Hannes, sieh nicht hin«, hörte ich Biegels Stimme aus den Kopfhörern. Ich wollte wieder aus der Luke, aber er hielt mich an der Koppel fest.
»Sieh nicht hin!«, brüllte er in sein Mikrofon. Es krächzte und schmerzte in meinen Ohren.
»Dangson! Fahr zu! Einreihen hinter das Führungsfahrzeug!«

Ich hörte Schüsse, einzelne Schüsse, kein automatisches Feuer, dafür Schreie, die wie Rasierklingen durch die Luft fetzten, durch die Winkelschlitze in unseren Kampfraum eindrangen. Hastig setzte ich die Zeiss-Optik in die Halterung und sah hindurch. Dangson drehte die Wanne über die rechte Kette und wir standen hinter Kapplers Führungspanzer. Dazwischen sah ich die SS-Männer, die den Menschen in die Knie schossen, und als sie wegkriechen wollten, daran hinderten, indem sie weitere Schüsse in Arme und Hände feuerten. Der Anfahrbefehl kam. Wir setzten uns in Bewegung, achtzehn Sturmgeschütze, auf die kriechenden Leiber zu, hinter uns die Halbkettenfahrzeuge und auf breiter Linie die Kampfpanzer der SS-Division, die durch jedes Haus walzten und sich auf den Ketten drehten. Biegel zog mich weg von der Schere und nahm sie raus. Er sah mich mit festem Blick an, reichte mir den Wodka.
»S-i-e-h - n-i-c-h-t - h-i-n, hab ich gesagt!«
Als ich trank, fuhren wir über Unebenheiten, weiche Körper, die Schreie erstarben. Dangson ließ den Motor höher drehen. Ab jetzt würde ich nie mehr irgend jemanden in meinem Leben um Vergebung bitten können.

 

Hallo liebe Leser,

da eine Historie behandelnd, die auch heute unbekannte Begriffe benutzt, hier ein paar davon:

Schere
Scherenfernrohr. Wurde in einer speziellen Form von den Richtschützen in den Sturmgeschützen zum Zielen benutzt. Teils verwende ich auch Optik oder Zeiss-Optik.

Sturmgeschütz (StuG III)
Auf dem Panzer III basierendes Fahrzeug, ohne drehbaren Turm, das als fahrende Artillerie direkt die Infanterie unterstützen sollte. Wurde im Verlauf des Krieges aufgrund seiner Fähigkeiten und der sehr flachen Form und Wendigkeit schnell als Panzerjäger eingesetzt. Zu anfangs jedoch waren die "Abteilungen" der Artillerie unterstellt. 1 Abteilung umfasste 3 Batterien zu je sechs Fahrzeugen.

Panzergranaten
Hartkerngeschosse für einen direkten Durchschlag, dessen Energie sich erst innerhalb des gegnerischen Kampfraumes entfaltete.

Sprenggranaten
Munition mit Aufschlagszünder. Der Explosionsdruck drückte gegen den gegnerischen Stahl und presste ihn so stark, dass im Innenraum dutzende Splitter die Mannschaft oft außer Gefecht setzte.

Zum Text selbst:
Mein Großvater mütterlicherseits war Richtschütze in einer Sturmgeschütz-Abteilung. Bis 43 in Russland, ab dann in Italien. Er war nervlich sehr krank und teilweise arbeitsunfähig. Eines Tages, als ich noch ein Kind war, begann er zu erzählen. Geschichte um Geschichte. Da was ihr lest, was ich erzähle, sind also wahre Geschichten.

 

Mahlzeit!

Mensch, die Seite ist heute zum Sterben langsam. Jedes Posten dauert Minuuuuuten ... schon den ganzen Tach! :mad::sleep: Smileys aufrufen *gähn*

Egal.

Servus Tashmetum,

vielen Dank fürs Lesen. Hm, ich habe also bewusst davon Abstand genommen, dem Leser zu erklären, was die da machen, die Soldaten. Ist nicht so, dass an jedem Frontabschnitt, über die tausende von Kilometer an der Ostfront 24/7 gekämpft wurde. Was aber jetzt diese Einheit macht, ist eine Kampfpause einlegen. Im "Normalfall" wurden Einheiten in der Hauptkampflinie turnusmäßig ausgetauscht, um sie ausruhen zu lassen, logistisch zu versorgen, in dem Fall Wartung der Panzer, Aufmunitionierung, Ersatzbeschaffung bei Ausfall, etc.

Das war aber nicht mein Hauptaugenmerk, weil ja mit dem Auftauchen der SS-Division schon bald klar wird, dass es zusammen mit dieser Division weiter geht in Richtung Moskau.

Mein, hm, eher langweiliges Hauptaugenmerk liegt auf dem Konflikt des Gefreiten Hannes Widmann, der "vielleicht" hätte verhindern können, dass Partisanen einen Sprengstoffanschlag auf die Einheit ausführen. Statt dessen nimmt er von dem Rotarmist noch einen Wodka an. Am nächsten Tag kostet das die halbe Truppe das Leben. Der einzige, der das hätte aufklären können, ist tot, nämlich dieser Schlindwein.

Und die Dorfbewohner sterben auch nicht durch die Schüsse in die Knie oder in die Arme, sondern weil sie bewegungsunfähig geschossen werden, und dann von der Abteilung mit ihren Sturmgeschützen überrollt. Ich wollte aber auch hier nix direktes schreiben, sondern es dem Leser überlassen, das heraus zu lesen. Und für den Gefreiten Widmann ist das Überrollen der unschuldigen Menschen die ewige Strafe für sein Versagen in der Nacht.

Wie immer gilt auch hier. 3 Monate Ruhezeit für die Geschichte, dann Überarbeitung.

Gruß
Morphin

 

Wir stehen vor den selben Problemen wie Napoleon.

Eine frühe Erkenntnis, wenn auch fürs Unternehmen Barbarossa und die andern Feldzüge wider halb Europa und dann gegen den Rest der Welt allzu spät,

lieber Morphin,

die es durchaus gab und die nicht nachträglich in die Erzählung des Großvaters Eingang gefunden haben muss. Aber was nützen Einsichten, wenn die Führung die sagenhafte Nibelungentreue ausgegraben hat und die Vorsehung auf ihrer Seite wähnt?

Mein Vater schwieg, als Kradfahrer zwischen den Truppen muss er verdammt viel gesehn haben, was er gern und oft erzählte galt aber dem Zufall, dass er im Kessel von Stalingrad Nierenkoliken bekam und zudem mit dem verletzten linken (ihm wäre wohl zuvor als Rechtshänder eben der andere lieber gewesen) Arm ausgeflogen wurde, aber er schwieg über anderes bis zu dem Tag, da er einen alten Kameraden – beide da gerade um die vierzig – in Idar-Oberstein wiederfand. Den gerade mal zehnjährigen Friedel interessierte da aber mehr die Felsenkirche und was der Achat für ein Stein sei usw., als das Gequatsche der alten Kameraden. Aber Dein Opa reißt an, was mein alter Herr auch bestätigte: Wo die soziale Kontrolle fehlt (also in dem Fall die Kontrolle durch sogenannte Kameraden) klappt’s auch mit freundlichen Gesten gegenüber dem sog. Bösen, dem Feind (der dann i. d. R. auch nicht unter den Augen seiner Kameraden stehen darf.) Überhaupt ist Kameradschaft das Problem mit seinen sozialen Zwängen. Kameradschaft kann Freundschaft bedeuten, ist es aber überwiegend nicht, wie Sebastian Haffners Biografie aufzeigt. Man kann sich sogar alles andere als wohlgesonnen sein. Wie das Wort schon anklingen lässt – so trivial sich das anhört – Kameraden hausen halt auf der gleichen „Kammer“ und durchaus nicht freiwillig. Nicht Gruppen oder andere soziale Verbände, sondern immer nur einzelne bringen so was wie Verständigung voran – im Kleinsten wie im Großen. Insofern alle Achtung vor dem Opa, dass er das erzählt hat – und Achtung vor Deiner Leistung, nicht in Landserhefte Jargon zu verfallen,
lieber Morphin!

Der Himmel über uns war unendlich klar und ich kam mir lächerlich vor unter all diesen Sternen, die weitaus besseres zu tun hatten als ich. Sie erschienen mir wie Zuschauer, die aber keinen Beifall spendeten für unser Vorhaben hier, noch nicht mal milde lächelten, im Gegenteil, uns dafür mit einer Kälte bestraften, die unmenschlich war
und dann die Frage
Ob Gott uns diese Kälte geschickt hatte?
lass ich mal kommentarlos stehn. Aber dann doch noch’n paar Kleinigkeiten:

Die Farbe des Himmels unterschied sich in keinster Weise von den Farben um uns herum.
Ich fühlte mich in keinster Weise in der Lage …
Du ahnst, warum das der Einstieg ist: Wann hätt es jemals weniger als nichts gegen? Okay, so spricht man halt – nicht nur scherzhaft. Aber muss die Niederschrift das nachahmen, was bei gewissenhafter „wörtlichen“ Rede dokumentiert werden muss – gelegentlich – es sei, Du träfest den Ton des Informanten und der Opa erzählte da …

Dangson nahm sich die Flasche und trank einen kräftigen Schluck.
Warum hier reflexives sich? Er nahm doch einfach die Flasche, oder? Ähnlich hier und doch ganz anders
Als ich mir versuchte, sein lachendes Gesicht vorzustellen, …
– denn das Refl.-Pron. mir steht an der falschen Stelle, besser
Als ich […] versuchte, [mir] sein lachendes Gesicht vorzustellen, …

Als mich Biegel aus meinem unruhigen Schlaf rüttelte, …
Aus wessen sonst? Geht auch ohne Reflexivpronomen
Als mich Biegel aus […] unruhige[m] Schlaf rüttelte, …

Puh – jetzt bricht vielleicht ein Weltbild für viele zusammen: Warum lehnt der Friedel nach dem Hinweis aufs keinste hier den Konjunktiv ab?

Nur nicht auf einer Stelle stehen, fiel mir plötzlich ein, sonst frören meine Füße am Boden fest.
Die Antwort müsste eigentlich jedem sofort auffallen: Weil da der Icherzähler logisch d e n k t, und da muss entweder der erste Teil

Nur nicht auf einer Stelle stehen, …
wie der zwote
…, sonst frören meine Füße am Boden fest
im Konjunktiv stehn (es ist ein Denkvorgang, der i. d. R. als indirekte Rede, da nicht wortwörtlich aufgeführt, daherkommen müsste. Aber die Aussage ist so knochentrocken hart – wer ist schon mal mit dem Fahrrad bei mehr als minus 20 Grad gefahren und dann nicht am Sattel mit dem Arsch – egal, wie gut Unterhose, Hose, Parka sich dagegen stemmen, schlicht und einfach festgefroren?
Insgesamt Konjunktiv (dann aber nur 1) oder Indikativ, weil mich der Zustand angefroren zu sein nach nicht einmal einem Vierteljahrhundert immer noch erschreckt – und ich hatt’s unterwegs nix gemerkt, allein schon, weil der Sattel so weit als möglich runtergesetzt war, dass ich von ebendort mit beiden Füßen gleichzeitig auf den Boden gelangen konnte. Jetzt hat der notorisch Luftverpester von Autofahrer auch noch was gelernt …
Also weg mit dem Konjunktiv, gefährliche Situationen erfordern ungewöhnliche Maßnahmen!
»Tut hnen irgend etwas weh? Ist hnen schwindelig oder schlecht?«

Ich beschloss, mir einen Überblick zu verschaffen[,] und stand auf, um …

Ab jetzt würde ich nie mehr irgend jemanden in meinem Leben um Vergebung bitten können.
ist mir ein schöner Abschluss …

Gruß

Friedel

 

Eine beeindruckende Geschichte, Morphin, die leise beginnt und im Sturm endet. Das ist geradezu klassisch für Kriegsgeschichten. Rache ist mein, sagte der Herr, aber Menschen hören nicht auf ihn. Lieber handeln sie nach der Devise: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dem war schon vor Russlandfeldzug so, und ist es bis heute. Und immer wird mit vielfacher Münze „heimgezahlt“ – siehe das Verhältnis von amerikanischen und irakischen Opfern im 10-jährigen Krieg bzw. Besatzung, oder das in der jetzt noch andauernden Auseinandersetzung im Gazastreifen: Ein toter Israeli, fünfzig tote Palästinenser.

Es geht immer um Vergeltung für tatsächliches oder vermeintliches Unrecht: Schuldig sind immer die Anderen. In deiner Geschichte, Morphin, sind es die Russen und natürlich die SS. Damit die Wehrmacht – wieder einmal – verhältnismäßig gut wegkommt? Meines Wissens durften Offiziere der SS den Wehrmachtsoffizieren nichts befehlen. Und umgekehrt ging das auch nicht. Aber hier scheint es sich um eine gemeinsame Aktion zu handeln: SS schieß die Dorfbewohner bewegungsunfähig, die Wehrmacht überrollt sie mit ihren Panzern.

Angesichts dieser Gräueltat tritt die Geschichte des Soldaten Widmann mit seinen Gewissensbissen in den Hintergrund, was wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt war, aber wohl nicht zu verhindern gewesen. Jedenfalls finde ich den letzten Satz „Ab jetzt würde ich nie mehr in meinem Leben um Vergebung bitten können.“ zu wenig, um mich als Leser damit zu befassen.

Eine Kleinigkeit noch - Zitat: Es bereitete mir Genugtuung, ihn dort liegen zu sehen, und langsam wurde mir klar, dass es für mich keine Erlösung mehr gäbe in diesem weiten Land und dem endlosen Krieg.

Die Geschichte behandelt Ereignisse im Dezember 1941 – wie kann der Prot wissen, dass der Krieg noch "endlos" – bis 1945 – gehen würde? Und wieso "keine Erlösung" nur in Russland? Außerdem: Kann man Genugtuung und Gewissensbisse gleichzeitig empfinden? Ich denke, dass das nicht geht. Nicht beim Betrachten des Toten. Später, beim Wegehen, könnte die Genugtuung den Gewissensbissen natürlich weichen.

 

Guten Abend,

nun sind alle Sonntagnachmittag-Kaffeetrinker-Kuchenesser weg. Geschafft. Kann ich mal wieder hier sitzen.

@Friedrichard
Vielen Dank fürs Lesen und Fehler entdecken. Hab alles ausgebessert, denke ich. Mein Opa war von Beruf Goldschmied. Den Beruf konnte er aber nur noch bis Mitte der 60er durchgehend ausüben, weil seine Nerven stark angegriffen waren und als Goldschmied braucht man nun mal eine ruhige Hand.

Also hatte er zunehmend Zeit, um mit dem Enkelchen spazieren zu gehen. Und eines Tages brach sich die Sache einfach ihre Bahn. Ich kann dir sogar genau sagen, wann das war ...
Tornado in Pforzheim
Als man vom Haus der Großeltern wieder auf der Höhe über dem Enztal in den Schwarzwald laufen durften, unser beliebtester Wanderweg, sahen wir die Verwüstungen. Und als eine Bank kam, setzte sich mein Opa, sah sich die Bescherung an und sagte: Das sieht hier aus wie in Russland. Weißt du ...

Ab da fing es an. Geschichte auf Geschichte folgte, über einen langen Zeitraum. Im Laufe der Jahre wurde er zusehends vergesslicher, schlafwandelte nachts auf der Straße, ging in die Stadt durch einen Eisenbahntunnel, wurde mit Hilfe der Feuerwehr von einer Eisenbahnbrücke geholt, die Polizei gabelte ihn auf, weil er nicht mehr wusste, wohin usw. usf.

Ich hätte das wohl nicht meinem kleinen Enkel erzählt, der unter acht Jahre war. Aber es ging wohl nicht anders. Selbst meine Mutter sagt heute: Ja, wem hätte er es erzählen sollen. Meiner Oma nicht. Wenn die Krieg hörte, gingen bei ihr die Rollläden runter, zumal sie zu den Ausgebombten in Pforzheim gehörte.
Pforzheim 1945
Meine Mutter, 1941 geboren, kriecht heute noch fast unter den Tisch, wenn sie Sirenen hört. Dann stellen sich ihr die Haare.

@Dion
Nein. Die Geschichte ist keinstenfalls eine Entlastung für die einen oder eine Belastung für die anderen. Solche Gedanken sind mir fremd. Ich kenne beide Seiten. Der eine Opa bei der Wehrmacht, der andere bei der SS. Ich wüsste nicht, wer weniger oder mehr Schuld hätte. Bis 2008 habe ich die Geschichte des einen recherchiert, dann begann ich mit dem anderen. Dazu zählten zahlreiche Besuche offizieller Archive, Besuche und Interviews mit Zeitzeugen, die übliche Literatur was Bewegungen der Wehrmachtsteile anbelangt, Informationen der Wehrmachtsauskunftsstelle usw.

Was die von Dir angemerkte Stelle angeht ... eines ging aus den Geschichten meines Opas klar hervor: Er wusste, was passieren würde. Von wegen schon 1941 bei Beginn von "Barbarossa" eine Sinnlosigkeit erkennen, was Napoleon nicht schaffte, wird uns auch nicht gelingen, ewige Verdammnis, aufgrund der vielen bösen Dinge, die wir taten (Kommissarbefehl) etc.

Inwieweit er aber damit "nachträglich" sein Gewissen beruhigte, kann ich dir nicht sagen. Gut möglich ist es. Wasche deine Hände angesichts der Unschuld eines kleinen Jungen. Von den technischen Dingen war ich durchaus begeistert, den Panzern, wenn er fragte, wie weit das Gebäude dort entfernt sei, dass die L48 bei einer Mündungsgeschwindigkeit von 1.000 m/sek und der niederen Bauform des StuG den T-34 glatt in die untere Wanne schoss, weil die Granate so schnell war, dass es bis zu 1.500 m keine Parabel gab.

Aber ich denk noch mal über den Sinn der Stelle nach.

Auch Dir also meinen Dank.

Grüße

Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich noch mal,

ihr Lieben,

Dion fragt

Die Geschichte behandelt Ereignisse im Dezember 1941 – wie kann der Prot wissen, dass der Krieg noch "endlos" – bis 1945 – gehen würde?

Aus dem Wissen heraus, dass der Schlieffen-Plan mit einem Blitzfeldzug (in Wirklichkeit ein Überfall wie dann auch der September 1939 gegen Polen) 1914 in die Hose ging und außer verletzten und toten Blitzkriegern keiner im Dezember 14 wieder zu Hause war.

Dazu kamen die aktuellen Bestätigungen:
Der Polenfeldzug dauerte dank freundlicher Mithilfe Stalins fünf Wochen. Sozusagen ein Blitzerfolg.

Der Skandinavienfeldzug (wenn mans so nennen kann) begann April 1940, Dänemark ergab sich quasi kampflos, Norwegen war im Juni abgehakt.

Im Mai 1940 begann der Westfeldzug, der den heutigen Benelux einfach nur überrollt und Frankreich nach sechs Wochen die Waffen strecken ließ.

Von da an wurde das Unternehmen Barbarossa vorbereitet als Feldzug gegen den jüdischen Bolschewismus (schon das eine hirnrissige Idee), der am 22. 6.41 begann. Nach einem halben Jahr , also im Dezember musste selbst dem Naivsten aufgefallen sein, dass das kein sechs-Wochen-Feldzug, schon gar kein Blitz-Sieg zu erwarten war, was jeder, der zählen kann, selbst entdeckt.

Außerdem erzählt der Großvater ja - ich tipp mal - in den 60er Jahren mit mehr als ein Viertel Jahrhundert nach den erzählten Ereignissen. Wenn er da getan hätte, als ob, wär's schon richtig denkwürdig ...


Kann man Genugtuung und Gewissensbisse gleichzeitig empfinden?
Kann man, allein schon deshalb, weil sich das Gewissen immer als schlechtes meldet - immer hinter der schlimmen Tat. Schon der einfache Duellant empfindet mit der Waffe in der Hand Satisfaktion und dann meldet sich das Gewissen, wohingegen das gute nur dem „guten“ Schlaf als Ruhekissen dient.

Tschüss, sagt der

Friedel

 

Boah, das ist heftig Morphin.
Das baust du perfide auf. Anfangs passiert ja gar nichts, du nimmst den nötigen Raum, um den grausigen kalten Alltag einzufangen.
Auch dies Szene mit dem Russen, das ist ja erst soetwas wie ... naja, was Schönes halt. Und dann endet das in dem absoluten Desaster.
Ich habs nicht kommen sehen. Sehr eindringlich, sehr krass. Sehr gekonnt, diese abartige Zuspitzung. Ob ich mir jedoch die Fortsetzung reinziehen kann, das weiß ich noch nicht. Mir ist jetzt schlecht

grüßlichst
weltenläufer

 

Nabend weltenläufer,

auf jeden Fall meinen Dank fürs Lesen und den Kommentar. Also wie mein Opa das damals erzählte, das mit dem Russen, da hat er kurz gestockt, als würde er sich erinnern, dann hat er gelacht, so eine Art verzweifeltes Lachen. Wäre kein Krieg gewesen, hätte er mich vielleicht in seine Hütte zum Abendessen eingeladen, so war seine Schlussfolgerung.

Als kleiner Junge war für mich der Krieg noch viel näher, auch visuell, selbst Mitte bis Ende der 60er. An einigen Stellen standen immer noch Ruinen, so dass ich "sehen konnte", was Oma und Opa mit "Krieg" und "Bomben" meinten.

Doch das Grauen im Kopf meines Opas konnte ich nicht wirklich nachvollziehen. Er hatte seine Aussetzer, von einem Sauerstoffmangel, die sich im Laufe der Jahre verschlimmerten.

Gruß
Morphin

 

Die Sterne meinten es nicht gut. Ich vergaß zu atmen und spürte mit einem Mal ein Kratzen die Kehle herauf kommen. Gott im Himmel und alle Huren, fluchte ich innerlich. Mit dem Rest meiner Kraft stemmte ich mich dagegen, dann hustete ich kurz und trocken. Der Russe erstarrte in seiner langsamen Bewegung, fast meinte ich zu sehen, wie er seine Augen zusammenkniff, dann riss er seinen Karabiner hoch, legte an und ich dachte an Biegel, den Speck und einen Haufen Wärme um mich herum, als einfach nichts passierte. Zwei oder drei Mal versuchte es die weiße Gestalt, aber sein Verschluss war eingefroren. Er starrte mich an und ich brachte meinen Karabiner in Windeseile vor meine Schulter und drückte ab, zielen war bei dieser Entfernung nicht mehr nötig. Aber es passierte nichts. Mein Verschluss war ebenso eingefroren. Noch einmal. Nichts. Wie irrsinnig strampelte ich mich frei und stand schwer atmend vor dem Russen, der mir eine Hand und darin eine kleine Flasche entgegen hielt. Ich nahm sie und trank einen Schluck. Mein Herz pumpte mehr Blut durch meine Adern, als im letzten halben Jahr zusammen genommen. Und meine Güte, war das ein guter Wodka. Wie Öl rann er durch meine Kehle. Ich nickte und gab ihm den Flachmann zurück. Er trank sie leer.

Wie zur Bestätigung meiner These,

liebe Leute,

aus dem Beitrag # 6 vom 24. August d. J. (worinnen ich vor allem über "Kameradschaft" herzieh, die nix mit Freundschaft zu tun hat und eher nur eine Art strenger sozialer Kontrolle hergibt):

Wo die soziale Kontrolle fehlt (also in dem Fall die Kontrolle durch sogenannte Kameraden) klappt’s auch mit freundlichen Gesten gegenüber dem sog. Bösen, dem Feind (der dann i. d. R. auch nicht unter den Augen seiner Kameraden stehen darf.)

findet sich heute unter der Rubrik „Das war meine Rettung“ im heutigen Zeit Magazin (Nr. 42 v. 9.10.2014, S. 58) folgender bemerkenswerter Satz von Hans-Dietrich Genscher zu der Frage, welche Narben der Krieg bei ihm hinterlassen habe:

„Von einem Erlebnis habe ich später immer wieder geträumt. Ich war nachts auf einem Bauernhof, hatte eine Maschinenpistole in der Hand, als sich die schwere Eisentür öffnete und auf einmal ein junger Russe mit Maschinenpistole ins Mondlicht trat. Wahrscheinlich habe ich damals genauso mit vor Angst aufgerissenen Augen geguckt wie er, aber wir haben beide das Richtige getan, nämlich nichts.“

Es bedarf also nicht einmal des eisigen Zufalls der Winterstarre!

Bis bald,

Friedel

 

Da war Dangson, unser Fahrer. Sigurd, hieß er.
Ein erster Satz, der mich verwirrte, aber gleich darauf wird alles erklärt. Obwohl vordergründig verwirrend: Heißt er jetzt Dangson oder Sigurd, macht der Satz neugierig. Und dann erklärst du rasch und es wird klar, die Truppe liegt in Russland, die Kälte quält sie usw.
Bezüglich Tempo und Aufbau fand ich es großartig, besonders den Schluss.Allerdings nicht der letzte Satz:
Ab jetzt würde ich nie mehr irgend jemanden in meinem Leben um Vergebung bitten können.
hier habe ich nicht verstanden: Wem hat er vorher vergeben? Das Thema Vergebung fand ich nicht thematisiert.

»Sigurd, seit einiger Zeit wird der Widerstand immer heftiger,
seit einiger Zeit, das klingt so wie aus einem Buch - glaub ich nicht, dass er das so sagt.

Als Biegel mich aus meinem unruhigen Schlaf rüttelte, sah ich im letzten Blick auf einen grauenhaften Traum gerade noch zwei explodierende Sturmgeschütze vor uns auf der Anhöhe, wobei das rechte lediglich wie eine Fackel ausbrannte, weil eine Sprenggranate die Treibladungen entzündet hatte. Es fauchte, und die Flammen schossen durch die Luken in den Himmel. Noch nicht einmal die Schreie waren zu hören. Biegel gab mir einen Klaps auf die Backe.
und
Keiner sagte ein Wort zu viel. Nicht bei dieser Kälte, die bei jedem Atemzug durch den offenen Mund unmittelbar bis tief in die Lungen vordrang, um alles zu Eis erstarren zu lassen. Jedes Luftholen schmerzte, und wir atmeten so gut es ging durch die Nasen.
machen die Stimmung und kälte greifbar.
Deshalb eine Empfehlung von mir
Bernhard

 

Guten Morgen Bernhard,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren ... und empfehlen (sehe ich grad). Den Satz habe ich selbst nie wirklich verstanden, als Kind schon gar nicht. Aber er blieb mir im Gedächtnis, als Opa seine Geschichten erzählte. Vielleicht kam ich ja so zum Schreiben, wer weiß, jedenfalls hab ich mir schon früh Sachen notiert, was die Menschen so sagten. Lehrersprüche an den Rand meiner Hefte, anderes auf einen kleinen Notizblock, immer in der Form: "..., sagte er."

Jahre später war mir klar, dass er für vieles was er getan hatte, um Vergebung bat, im Stillen oder wenn er sich als Nichtkirchgänger mal in die Kirche schlich. Aber nach dieser "Tat", würde wohl jedes um Vergebung bitten zwecklos sein. So habe ich ihn später verstanden, den Satz.

Die Menschen konnten ihn nie besonders leiden, weil er immer so viel erzählte, endlos. Es wurde ihnen zu viel. Als ich 8 war, zogen wir weg von dort und ich sah ihn nur noch sporadisch. 1977 hat er mich dann mit zu meiner Tante genommen, in die USA, die war 1957 mit einem aus Polen stammenden GI ausgewandert. Dieser GI, Onkel Ted, war bei den Green Berets in Vietnam und hat dort Montagnards ausgebildet an der kambodschanischen Grenze. Opa und Onkel Ted saßen bis spät in die Nacht, vier Wochen lang, und haben Kriegsgeschichten zum Besten gegeben. Ich daneben wie festgeschraubt.

Naja, mein Opa wurde zusehends verwirrter und mein Onkel Ted drehte durch und kam in die Klapse. Der Krieg hatte ihnen nicht vergeben.

Da warten noch einige Geschichten aufgeschrieben zu werden.

Gruß
Morphin

 

Grüß dich, Morphin,
du hast mich mit deiner Winterstarre aus der Kommentarstarre rausgeholt. Wirklich. Und dafür sag ich dir einfach mal Dankeschön.
Deine Geschichte ist spannend und fesselnd. Und - ja, vielleicht gibt es da noch Einzelheiten, die man besser machen kann, ich sag dazu einfach mal, wurschtegal, ist mir grad nicht im Sinne, weil du was ganz anderes geleistet hast. Und das ist, eine Antikriegsgeschichte zu schreiben, die nicht mit einer vordergründigen Botschaft Krieg ist scheiße, Frieden gut, daherkommt, sondern sie trifft von hinten. Du baust das sanft auf, man weiß nicht, ob da nicht Konflikte zwischen den Soldaten das Hauptthema sind, dann wird man erwischt über die Erkenntnis, dass sie wahrscheinlich irgendwo auf dem weiteren Weg verrecken werden. Dann tut dein Icherzähler eigentlich etwas Schönes. Er verzichtet darauf, den Russen doch noch zu töten, sondern nimmt sein Angebot, einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, an. Und dieser eine Moment, dieser Gewaltverzicht, der ist es dann, der einen Haufen Leute, die er kennt, die er vielleicht sogar mag, das Leben kostet. Und der ihn zu einem grausamen Dienst führt. Wahrscheinlich wird er sich nie wieder selbst in die Augen schauen können, ohne die Sterbenden zu hören, die er überrollt.
Im Krieg ist nichts gut, selbst der Verzicht auf Gewalt wird im System des Krieges zum Beginn einer neuen Vernichtung.
Großartig, aber auch ein Lob, das einem ziemlich im Hals stecken bleibt.
Viele Grüße von Novak

 

Hallo Morphin,
seit ich gestern abend deine Geschichte gelesen habe, bin ich ziemlich aufgewühlt und habe ständig die Bilder von der letzten Szene im Kopf. Und ich merke, dass mir auch irgendwie die Worte für eine differenzierte Rückmeldung fehlen. Novak hat das alles so gut ausgedrückt.
Jedenfalls ist das eine Geschichte, die ich mit in den Alltag genommen habe. Und gerade heute hat mir eine Frau erzählt, dass ihr Mann als Soldat in der Türkei an der syrischen Grenze stationiert ist und wieviel Angst sie hat.
Ich habe mich durchaus schon mit dem Kriegs-Nachkriegskinderthema beschäftigt, bin nur ein paar Jahre jünger als du und denke heute auch viel an meine eigene Familie. Aber mit deiner Geschichte rutscht das Verständnis dafür, was unsere Großeltern erlebt haben und was unsere Eltern geprägt hat noch ein paar Etagen tiefer.
Den letzten Satz finde ich schon verständlich. Er gehört zu denen, die diesen Angriff mit unvorstellbarer Grausamkeit rächen, das ist so ziemlich das Gegenteil von Vergeben, wie soll er das noch jemals für sich erhoffen können.
Und zugleich weiß man, das er kein schlechterer Mensch ist, als man selbst. Es sind die Bedingungen, in die man uns stellt. Und das man das spürt, hängt mit der Art zusammen, wie du dir anfangs Zeit läßt ihn dem Leser so vertraut zu machen, bis man selbst schon die Kälte in den Knochen spürt.

Gruß, Chutney

 

Guten Abend Novak und Chutney,

einen großen Dank an Euch fürs Lesen und Kommentieren. Mich würde mal interessieren, wie so die Altersklasse der Leser von solchen Geschichten ist. Ab und an betreue ich sonntags eine Gedenkstätte, also aufschließen, Licht an, sauber machen, Leute empfangen und rumführen; und natürlich für die Statistik aufschreiben, wer kam. Ich kann sagen, dass es zu 90% Menschen über 50 sind, die meisten davon sicher über 60. Mittelalter - so 25 bis 45 - kaum welche, Jugend nur, wenn komplette Schulklassen kommen, also der Zwang dahintersteckt.

Obwohl die Älteren ab 70 damals noch Kinder waren (meine Mutter geb. 1941), scheint doch in der Generation 50 - 70 so eine Art kollektives Trauma, kollektives Erinnern zu stecken, tief drinnen. Laut meiner Mutter und vielen anderen, haben sie eigentlich (bis auf die 68er) nie Fragen gestellt - aber diese nicht gestellten Fragen auch nie vergessen. Und plötzlich tauchen sie wieder auf, als Fragen die über die eigene Familie gestellt werden, als Suche nach deren Wurzeln und Erlebnissen.

Das Leben ist ein Seltsames. Freut mich, Novak, dass ich Deine Kommentarstarre niedergerungen habe mit den wenigen Worten. Und ja, Chutney, ich habe meinen Opa mütterlicherseits nie als schlechten Menschen erlebt. Er hatte durchaus den - wie man so schön sagt - Schalck im Nacken, allerdings eben auch seine Depri-Phasen, da war er kaum auszustehen, vor allem für meine Oma war das schlimm. Aber auch meine Oma hatte ihre Depressionen und ihre Ticks, wenn sie bei Sirenenproben unter den Tisch kroch und mich mit runter zog; und wie sich das übertragen hat, denn ich ertappte mich als Kind immer wieder bei Sirenenproben, dass es mir kalt den Rücken runterlief.

Es gibt also noch viele Geschichten zu erzählen ...

Grüße
Morphin

 

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