Machtlos
Ich stand da, hielt den Atem an. Ich wollte schreien, doch meine Stimme versagte. Ich lauschte in die drückende Stille der Nacht hinein. Sie dröhnte in meinen Ohren. Sie drang in mich ein. Sie durchströmte meinen Körper. Wie tausend Messerstiche glitt sie an mir herunter, bis zu meinen Füßen und weiter. Und doch war ich leer. Ich konnte nichts denken, nichts riechen, nichts fühlen. Ich konnte nicht atmen. Die Schwärze der Nacht umklammerte mich. Sie schnürte mir die Kehle zu. Plötzlich stiegen die Erinnerungen in mir auf. Erinnerungen an das, was ich getan hatte. Schon wieder. Schuldgefühle schlugen mit Stahlfäusten auf mich ein. Ekel überkam mich. Und dann wurde alles kalt. Ich zitterte am ganzen Körper. Dabei war es eigentlich eine angenehm warme Sommernacht. Tränen stiegen in meinen Augen auf. Sie liefen an meinen Wangen herunter, schossen in immer größeren Mengen an meiner Nase vorbei, stürtzten sich über mein Kinn und tropften schließlich auf meine Brust, wo sie sich in einem stetig wachsenden dunklen Fleck auf dem hellgrünen Shirt sammelten. Langsam kehrte das Gefühl in meine Beine zurück und ich rannte los. Ich rannte immer weiter. Meine Beine trugen mich fast von allein. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so schnell rennen konnte.
Ich wetzte durch die Straßen, stapfte durch die Pfützen, fiel über ein rostiges Fahrrad, irrte immer weiter in das Herz dieser toten Stadt hinein. Irgendwann, ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht mehr. Meine Knie knickten zu den Seiten weg und ich brach zusammen. Ich lag auf den nassen Pflastersteinen des Marktplatzes. Am Boden kauernd presste ich meinen überhitzten Schädel auf die kalten Steine. Mein hechelnder Atem durchbrach die Stille in meinem Kopf und machte den Weg frei für eine Vielzahl anderer dumpfer, schriller und pfeifender Geräusche. Es war, als hätte jemand die Lautstärke einer Stereoanlage binnen einer Sekunde von stumm auf maximal gedreht. Die Stadt schrie. Sie schrie mich an. Brüllte von allen Seiten. Sie stellte mich bloß, zeigte mit dem Finger auf mich. Wie ein Schwerverbrecher enttarnt, wurden mir meine Sünden vor Augen geführt während ich mich in meiner Schuld suhlte. Wie ein Schwein. Wie ein Schwein sich im Dreck wälzt, so hatte ich mich im Essen gewälzt. In der Milka Nougat Schokolade, den Erdnusskeksen, dem Baumkuchen, den Paprika Pringels, den Käsestangen, den Pommes rot-weiß, der Hawaii Pizza, dem Eibrötchen und, nicht zu vergessen, dem Bauer Stracciatellajoghurt. Ich hatte all das in mich hineingeschaufelt. Alles war irgendwo in meinem Bauch verschwunden. Es würde sich ausbreiten und im ganzen Körper verteilen. Sich in meinen Armen, meinen Beinen und an meinem Rücken festsetzen und die Anzeige der Waage ins Unermessliche hinaufbefördern. Das Fett würde schwabbelnd über meinen Hosenbund quillen, meine Brüste würden immer tiefen hängen, meine Arme die Jackennähte zum Platzen bringen. Mein Körper wäre nicht mehr der, der er mal war und auch niemals wieder so werden. Ich würde hässlich und fett als alte Frau eines Tages sterben. Und die Sargträger würden sich weigern meinen Sarg zu tragen um ihren Rücken zu schonen.
Nein, dazu durfte es nicht kommen! Ich musste meine Schuld begleichen, mit Liegestützen meine Sünden ungeschehen machen.
Ich hievte mich auf den Bauch und drückte mich mit den Armen vom Boden ab. Die Arme zitterten, so erschöpft war ich noch von meinem Sprint. Nicht einmal eine Liegestütze schaffte ich. Ich hockte auf dem Boden und wusste, ich würde es wieder tun. Es gab keinen anderen Ausweg. Ich lies meinen Blick über den menschenleeren Marktplatz schweifen. Niemand da, der sich für mein Leid interessierte. Niemand, der mich aufhalten könnte. Niemand, der mich komisch ansehen würde. Niemand da, der sich um mich sorgen würde. Wie immer.
Ich kroch über den Platz, schleifte meinen prall gefüllten Bauch hinter mir her, zwang mich immer weiter zu gehen, obwohl der Bauch so sehr schmerzte.
Und dann war ich endlich angekommen. Mein Ziel: Ein Mülleimer im Mittelpunkt des Platzes. Ich kniete mich vor ihn. Seine Wände waren aus rostigem Metall. Innen befand sich eine blaue Mülltüte, die an den Seiten über das Metall gestülpt war. In der Tüte war eine leere Verpackung von chinesischen Nudeln, ein kaputtes Hundespielzeug, ein angebissener Apfel und ein paar Zigarettenstümmel. Das Ganze war vom Regen in eine graue, stinkende Suppe verwandelt worden. Nicht zu vergleichen mit den glänzend weißen Keramikwänden einer Toilettenschüssel oder eines Waschbeckens. Aber das Fett, die Kalorien und der Zucker hatten es nicht anders verdient. Hier gehörten sie hin: In einen stinkenden, ekelhaften Abfalleimer, wo sich niemand mehr um sie scheren würde. Ich klammerte mich mit beiden Händen an die metallenen Gitterwände, schloss die Augen und atmete tief durch. Die rechte Hand löste ich von dem Behälter, die Finger der linken Hand vergrub ich zwischen den Gitterstäben.
Ich rülpste ein paar mal. Dann schob ich den Zeigefinger meiner rechten Hand tief in meinen Mund hinein.
Mein Bauch rumorte und mein Hals brannte, doch ich hörte erst auf zu würgen, als mein Magen absolut nichts mehr hergab. Ich war frei. Frei von der Schuld und dem Fett. Aber ich fühlte mich nicht frei. Ich hatte es wieder nicht geschafft, mich zu wiedersetzen. Nicht dem Drang, zu essen und auch nicht dem Drang, dieses wieder loszuwerden, hatte ich standhalten können. Ich war vollkommen machtlos. Ausgeliefert. Mein Körper war nicht länger der meine.
Ich zog mich am Mülleimer hoch, wieder auf die Beine. Ich starrte auf das Erbrochene in seinem Innern.
Ich stand da, hielt den Atem an. Ich wollte schreien, doch meine Stimme versagte. Ich lauschte in die drückende Stille der Nacht hinein. Sie dröhnte in meinen Ohren. Sie drang in mich ein. Sie durchströmte meinen Körper. Wie tausend Messerstiche glitt sie an mir herunter, bis zu meinen Füßen und weiter. Und doch war ich leer. Ich konnte nichts denken, nichts riechen, nichts fühlen. Ich konnte nicht atmen. Die Schwärze der Nacht umklammerte mich. Sie schnürte mir die Kehle zu. Plötzlich stiegen die Erinnerungen in mir auf. Erinnerungen an das, was ich getan hatte. Schon wieder. Schuldgefühle schlugen mit Stahlfäusten auf mich ein. Ekel überkam mich. Und dann wurde alles kalt. Ich zitterte am ganzen Körper. Dabei war es eigentlich eine angenehm warme Sommernacht. Tränen stiegen in meinen Augen auf. Sie liefen an meinen Wangen herunter, schossen in immer größeren Mengen an meiner Nase vorbei, stürtzten sich über mein Kinn und tropften schließlich auf meine Brust, wo sie sich in einem stetig wachsenden dunklen Fleck auf dem hellgrünen Shirt sammelten. Langsam kehrte das Gefühl in meine Beine zurück und ich rannte los. Ich rannte immer weiter. Meine Beine trugen mich fast von allein. Ich hatte nicht gewusst, dass ich so schnell rennen konnte.