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Der Strandspaziergang
Ich schließe meine Augen und die kühle Sommerbrise streicht mir über die Stirn.
Als Kind verbrachte ich viele Stunden an diesem Strand. Sandburgen bauen, schwimmen, Eis essen; es kam mir wie das Paradies vor. Zu jener Zeit hatte ich zwar noch kein Konzept von dem, was man gemeinhin als Paradies bezeichnete, rückblickend dürfte diese Beschreibung aber wohl akkurat gewesen sein.
Oftmals hielt ich mich die gesamten Sommerferien hier auf; wer brauchte schon in Urlaub zu fahren, wenn er das Meer direkt vor der Tür hatte? Etliche meiner Schulfreunde, oder vielmehr deren Eltern, taten es uns gleich. Sie blieben die kompletten Ferien über zu Hause; so konnte ich meine Freizeit auch im Sommer mit ihnen verbringen, was die positiven Erinnerungen an diesen Ort nur verschönerte.
Doch alles Gute muss irgendwann zu Ende gehen; und so kam es, dass ich im Alter von 15 Jahren umziehen musste. Meine Mutter hatte einen lukrativen Job in einer entfernten Großstadt angenommen. Einerseits war ich enttäuscht, mein bisheriges Leben und meine Freunde zurückzulassen, andererseits freute ich mich auf die Abenteuer, die mich dort erwarteten.
Als ich meine Augen öffne, bemerke ich ein Paar, das Händchen haltend den Strand entlang schlendert. Sie sind barfuß unterwegs, er mit einer Badeshorts und einem Shirt bekleidet, sie mit einem Bikini.
Er ist ein Makler, der sich auf Einfamilienhäuser in der Umgebung spezialisiert hat. Sie arbeitet als Managerin einer Großhandelskette. Zusammen wohnen sie in einer Villa unweit meines ehemaligen Elternhauses.
Wie ich die beiden so spazieren sehe, erinnere ich mich an meine Jugendzeit in der Großstadt. Damals kam mir dort alles hektischer und stressiger vor als hier. Und auch heute, in meinem recht stattlichen Alter, empfinde ich die ruhige Strandatmosphäre als angenehmer. Früher hingegen hatte ich mich rasch an die flottere Art zu leben gewöhnt. Ich fragte mich bereits nach wenigen Wochen, wie ich es nur in der mir nun verschlafen wirkenden Kleinstadt ausgehalten hatte. Ich schätze, wenn man jung ist, kann einem nichts zu schnell gehen. Man lernt anscheinend erst im Rentenalter, Dinge und Momente vollends auszukosten.
Die beiden halten an und blicken aufs Meer hinaus. Der Wind weht behutsam durch ihr Haar und es scheint, als hielte sie seine Hand fester als zuvor. Man konnte fast meinen, dass die zwei, wie sie so dort standen, im Begriff waren, sich in der Unendlichkeit des Horizonts zu verlieren.
Ich hatte einst ebenfalls eine Frau, aber das ist schon lange her. Ich lernte sie zu der Zeit kennen, als ich noch in der Großstadt wohnte. Und doch dauerte es mehrere Monate, bis wir endlich zusammenkamen, auch wenn die meisten unserer Freunde von Anfang an behauptet hatten, dass wir perfekt zueinander passten. Schließlich heirateten wir und zogen zurück in meine alte Heimat, wo wir viele Jahre glücklich zusammenlebten.
Das jugendliche Paar hat seinen Spaziergang inzwischen fortgesetzt und ist so miteinander beschäftigt, dass sie nicht mitbekommen, wie ihnen ein Jogger entgegen kommt. Er bemerkt die beiden ebenfalls nicht, denn er kramt genervt in einer seiner Jackentaschen, in denen er offensichtlich etwas zu finden versucht.
Bevor ich in irgendeiner Weise reagieren könnte, passiert das Unausweichliche und die drei stoßen mit einem Krachen zusammen, was sie alle zu Boden schickt. Der junge Mann hält sich den Rücken, der Fremde seine Stirn, die Frau hingegen rührt sich zunächst gar nicht.
Als er ihren Zustand bemerkt, beugt sich der Mann über seine Freundin und probiert, mit ihr zu reden. Auch der Jogger steht langsam auf und kommt auf die beiden zu. Er will sich offenbar für den Zusammenstoß entschuldigen, doch der Mann hört ihn nicht, sondern kümmert sich weiterhin um seine Partnerin. Diese öffnet endlich die Augen und ihr Freund scheint sichtlich erleichtert. Der Dritte im Bunde bückt sich nun ebenfalls zu dem Paar herunter und greift in seine geöffnete Jacke, woraufhin die Frau benommen versucht, auf ihn zu zeigen.
Der junge Mann dreht sich zu dem Jogger um und sogleich ist er von Schock erfüllt. Während sich die Frau langsam wieder aufrichtet, wobei sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Stirn fasst, stürzt sich ihr Partner auf den nichts ahnenden Jogger.
Mittlerweile waren einige Schaulustige hinzugekommen, die den Zusammenstoß beobachtet hatten. Nachdem sich die drei jedoch erhoben und es den Anschein erweckt hatte, dass alles in Ordnung sei, waren die meisten von dannen gezogen. Diejenigen, die geblieben sind, halten aber weiterhin Abstand, während sich der junge Mann umdreht. Auch sie sind überrascht, als er den Jogger anfällt und die Männer eine wilde Rangelei starten.
Der Sand wirbelt schlagartig auf und bildet eine bedrohlich wirkende Wolke, die die zwei vollends umschließt. Was genau in dem Kampf vor sich geht, ist schwierig zu erkennen; man sieht einzig zwei dunkle Figuren, die umher rollen und dabei versuchen, die Oberhand zu gewinnen. Ohne dass jemand damit rechnete, gehen plötzlich beide Männer zu Boden, nachdem ein Knall zu hören war.
Die Männer rappeln sich langsam auf und schauen sich etwas benommen um, bis sie die Frau bemerken, die auf der Erde kauert. Sie hält sich die Seite ihres Bauches, zwischen den Fingern rinnt das Blut herunter.
Ihr Freund stürmt sofort zu ihr, während der Jogger den Notarzt alarmiert. Einige der Passanten bleiben geschockt stehen, andere kommen hinzu, um zu helfen. Einer von ihnen zieht seine Jacke aus und presst sie auf die Wunde, was den Stoff fast augenblicklich rot einfärbt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kann man entfernte Sirenen wahrnehmen, die herbeieilen. Ein Krankenwagen hält direkt vor dem Strand und mehrere Ärzte stürmen heraus. Sie bahnen sich einen Weg durch den Sand und knien sich neben die Frau.
Meine Augen sind mittlerweile geschlossen und ich lausche den Geräuschen um mich herum. Später wird man erfahren, dass die Frau noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb. Außerdem wird sich aufklären, dass es sich bloß um einen tragischen Unfall handelte. Der Jogger arbeitete als Zivilpolizist, weswegen er eine Waffe bei sich führte. Nach dem Zusammenstoß bemerkte er eine kleine Platzwunde an der Stirn der Frau, weshalb er ein Taschentuch aus seiner Jacke holen wollte. Für das Paar sah es allerdings so aus, als griff er zu seiner Pistole. Im darauffolgenden Handgemenge löste sich ein Schuss, der die Frau verwundete.
Ich höre das Knallen der Krankenwagentür und öffne meine Augen. Der Strand ist bis auf wenige Spaziergänger leer, das Meer schlägt leichte Wellen. Fast 50 Jahre ist der Unfall her. Seitdem lebe ich einige hundert Kilometer entfernt; ich konnte meine alte Heimat einfach nicht mehr ertragen. Alle zwölf Monate jedoch komme ich her, um meiner Frau zu gedenken. Mit dem Polizisten habe ich mich ausgesprochen; er hat kurz nach dem Zwischenfall seinen Dienst quittiert. Mehr als nur ein Mal saß er neben mir auf dieser Bank. Allerdings gab es auch viele Jahre in denen ich alleine hier war; er schrieb mir dann immer einen Brief, in dem er erklärte, dass er mir auf Grund seiner Schuldgefühle nicht vor die Augen treten konnte. Wir wechselten aber, auch wenn wir uns trafen, nie viele Worte; das war jedoch in Ordnung. Jedes Jahr sitze ich an diesem Ort, blicke aufs Meer hinaus und frage ich mich aufs Neue, ob er auftauchen wird.
Ich schließe meine Augen und die kühle Sommerbrise trocknet meine Tränen, während ich den Revolver in meiner Tasche umklammere.