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French Bistro
Sloopy’s Bar hat alle Türen und Fenster weit geöffnet, ein paar Lebenskünstler stehen davor; auch einige aus Stans Zockerrunde sind dabei. Einer ruft Stan beim Namen. Und der hat - ich verglühe - nichts anderes zu tun, als mich mit diesem Elendswagen stehen zu lassen und den großzügig angebotenen Drink in aller Ruhe und mit großer Geste zu sich zu nehmen. Ich zerfließe auf dieser Drecksstraße in Tränen der Wut und des Selbstmitleids. Ich bin zum Bersten voll mit undefinierbaren Gefühlen, allesamt im dunklen Bereich. Die Sonne brennt mir ein Loch in den Kopf, aber ich kann nicht weg. Wohin denn? Soll ich die Einkäufe, in denen unser letztes Geld steckt, den Hyänen überlassen? Wie eine Schiffbrüchige schreie ich seinen Namen heraus und halte den Vokal so lange an, bis mir die Luft ausgeht. Stan besinnt sich tatsächlich, trottet langsam heran. Er hat dieses unbestimmte Lächeln, das jetzt ein wenig schief gerät, ihn aber in anderen Situationen unwiderstehlich macht.
Unwiderstehlich finde ich auch den Gedanken, ihn umzubringen. Einfach unwiderstehlich.
Ich bin Susan. Aufgewachsen bin ich in einem nicht sehr feinen Vorort von Seattle. Dort ging ich auch die ersten Jahre zur Schule - eher unregelmäßig, aber das war, wie alles bei uns zu Hause, ziemlich egal. Es war egal, wann und ob Vater nach Hause kam und wie, und es war egal, ob Mutter der Bourbon wichtiger war als das Mittagessen.
Ich hatte ein feines Leben. Ich konnte machen, was ich wollte.
Manchmal allerdings umkreiste mich meine Mutter und ich war plötzlich im Mittelpunkt ihrer Besorgnis. Dann bot sie an, mir mein Lieblingsessen zu kochen, obwohl ich so etwas gar nicht kannte. Sie kam auf die wundervolle Idee, mit mir schick auszugehen, mir etwas Tolles zu kaufen – wir würden jede Menge Spaß haben. Das ging mir kräftig auf die Nerven. In dieser Situation war es fast unmöglich, das Haus ohne sie zu verlassen. Aber natürlich schaffte ich das immer.
Mit fünfzehn schmiss ich die Schule. In ein, zwei Jahren hätten meine Zeugnisse auch nicht besser ausgesehen, und bei der Suche nach einem Job hätten sie mir garantiert nicht geholfen. Ich pendelte zwischen dem Egal-Haus und verschiedenen Cafés und Diskos und hatte keinen blassen Schimmer, wie es mit mir weitergehen könnte.
Am meisten interessierte mich in dieser Zeit Stan, ein Kerl in Blau. Ich vermutete indianisches Blut in seinen Adern - mir gefiel sein langes Schwarzhaar mit dem Blauschimmer. Er trug Blue Jeans und ein kornblumenblaues Hemd, offen bis zur Gürtelschnalle.
Damals war er noch schlank, sportlich. Er war größer als ich – und gerade das zog mich an. So musste ein Mann sein! Seine lässige, beinahe schlaksige Haltung ließ ihn ein bisschen arrogant erscheinen, doch verwischte seine entspannte und heitere Art diesen Eindruck.
So wahr mir Gott helfe! Ich, Susan, fand diesen Kerl toll! Ich hatte mich in ihn verknallt.
Mit so einem wollte ich Kinder haben!
Heute allerdings schaue ich ihn mit sehr unterschiedlichen Gefühlen an.
Was für ihn spricht, ist seine Fantasie. Immer hat er eine Idee, auf die seine Kumpels nie kommen würden. Er kann ein bisschen zaubern, jonglieren, hat überraschende Gags auf Lager, macht dann eine kleine Show und spickt sie mit französischen Floskeln. Alles lacht, jeder mag ihn. Leider macht er das auch, wenn er getrunken hat – und das finde ich dann äußerst unpassend.
Einmal sprach ihn ein Franzose an und Stan sprudelte begeistert los. Amüsiertes, auch ein bisschen neidisches Staunen bei seinen Freunden. In unserer Gegend spricht man neben englisch allenfalls spanisch.
Woher hatte er das? Das interessierte seine Kumpels.
Er konnte es ihnen erklären: Statt wie geplant zur Montage nach New Mexico zu fahren, sei er im letzten Moment umgeschwenkt. Ein neu eröffnetes Reisebüro habe unglaublich günstige Flüge nach Europa angeboten. Und Europa sei für ihn immer Paris gewesen – seine Traumstadt.
Wie die denn so seien, diese Französinnen, wollten einige wissen.
Nun ja, das könne er so allgemein nicht sagen. Es gebe da schon Unterschiede, aber das sei bei unseren Frauen nicht anders.
Mir erzählte er später eine andere Version: Er sei nicht in Europa, sondern in Quebec gewesen. In einem Fernsehbericht über Toronto und Quebec habe er erfahren, dass dort die Restaurants händeringend Personal suchten. Töpfe und Kasserollen musste er nur anfangs spülen, später konnte er als Hilfskoch arbeiten.
Fast zwei Jahre haben wir jetzt unser „French Bistro“. Im ersten Jahr lief es ausgezeichnet. Stan kochte, was er im kanadischen Frankreich gelernt hatte: eine erstklassige Fischsuppe, Kalbsnieren in Senfsauce, Huhn mit Morcheln - und wirklich einmalige Crêpes, dünn und saftig, an den Rändern schön kross.
Doch dann fing alles an zu kippen.
Stan hat zwar eine gewisse Veranlagung zum Genie, ist aber ein Dreckskerl und ein Schweinehund.
In letzter Zeit stehen der Whiskey oder irgendein Rotwein immer in seiner Nähe. Er hat angefangen zu spielen. Die Leute, mit denen er am Spieltisch sitzt, gefallen mir nicht. Und da er fast nie gewinnt, gefällt mir das Ganze nicht. Ganz und gar nicht.
Er lässt einfach nicht mit sich reden, stößt mich zurück, argumentiert, dass er nicht immer nur arbeiten, arbeiten, arbeiten könne – das sei schließlich nicht sein ganzes Leben!
Er wird nachlässig. Früher ließen ihn seine Gäste hochleben - das kommt jetzt nur selten vor.
Wir hatten Pläne. Wenn das Bistro weiterhin so gut liefe, würden wir zwei Kinder haben. Wir könnten das Haus kaufen – alles würde uns gehören. Wir wären frei und glücklich! Anbauen wollten wir, vergrößern. Zu Stan’s Entlastung einen Koch einstellen und endlich einmal ein vernünftiges Auto fahren. Doch unsere Umsätze sind nicht mehr wie früher. Die Schuld daran gibt Stan der benachbarten Schuhfabrik, die über zweihundert Leute entlassen hat. Ich schweige zu allem, um mir kein blaues Auge einzuhandeln.
Uns fehlt Geld. Stan’s Spielen führt uns an den Abgrund, doch er ist wie ferngesteuert – er hat sich nicht mehr im Griff. Diese Typen nehmen ihn aus, er trinkt zuviel, unterschätzt die anderen und überschätzt sich. Ich kriege das heulende Elend, wenn ich unseren immer schäbiger werdenden Laden anschaue, wenn ich auf Stan blicke und schlussendlich mich im Spiegel sehe.
Ich sehe beschissen aus. Ich könnte mehr aus mir machen. Doch wofür?
Für Stan vielleicht? Für einen Mann, der sich so gehen lässt?
Ich hasse ihn.
Was ist das für eine Reise? Wohin steuern wir? Die Antwort könnte sein: nach nirgendwo. Wir werden hier versauern, grau werden, mit einem schmierigen Tuch über den Tresen wischen und die letzten Gäste als Störenfriede empfinden. Kinderlos werden wir altern und in Stumpfsinn versinken. Gütiger Himmel! Mir tränen die Augen und die Mundwinkel zucken.
Stan musste seinen Führerschein abgeben - der Sheriff hatte lange genug zugeschaut.
Als ich meine driver’s license machen wollte, redete Stan mir’s aus. Leider hörte ich auf ihn.
Wir müssen Ware kaufen, um etwas verkaufen zu können, aber wie? Stan’s frühere Freunde kennen uns nicht mehr, sie essen schon längst woanders. Wenn in den schönen Zeiten unser Ford einmal streikte, dann half ein Freund. Stan’s jetzige „Freunde“ haben leider keine Zeit für Gefälligkeiten.
Unser letztes Rettungsfloß sind drei mit einer Eisenstange und viel Draht zusammengezurrte Einkaufswagen von Trader Joe’s. Penner ziehen so durch die Straßen.
Ich fühle mich wie Dreck. Mit dem falschen Kerl auf falschem Kurs. Wir biegen um die letzte Ecke mit unserem Zigeunerwagen. Die Leute übersehen uns.
Unser Fuhrwerk schieben und zerren wir in den Hauseingang und tragen die Sachen in die Küche. Ich kann nicht mehr. Ich möchte abhauen, zu Fuß, mit dem Flieger, mit einem geklauten Auto.
Vorher versenke ich das größte Messer in Stan’s Brust. Ich verspüre eine mächtige Begierde nach Betäubung, Alkohol, einem Riesenjoint – nach irgendetwas, das den übergroßen Druck in mir lindert. Ich gehe zur Spüle und trinke Wasser. Ich bin nicht bei mir. Stan nähert sich von hinten, greift nach meinen Schultern, fährt mir über’s Haar. In mir verhärtet sich alles. Vielleicht ist es der Kobold der Liebe, der früher aus Lava bestand, der jetzt in meiner inneren Kälte zu Stein wird.
Ich fühle mich wie gelähmt. Bin unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
Ein Glas Wasser wird mich nicht erlösen aus dieser Starre. Stan versucht, meinen Hals zu küssen, sein Indianerhaar fällt über meinen Arm, sein Atem ist furchtbar, aber sein Körper presst immerfort diesen Stan-Duft hervor, der in unserer schönsten Zeit mein Marihuana war, meine Leichtnarkose, mein Willenskiller und Lieblingsparfüm.
Seine Hände fahren über meine Brüste, kneten sie ganz sanft, wie ich es immer gern hatte. Das registriere ich wie ein Automat – ohne Regung, ohne Gefühl. Er streift meinen Rock nach oben, meinen Slip nach unten. Ich merke, wie seine Geilheit zunimmt und wächst.
Er will in mich dringen. Die Fliesen vor meinen Augen werden zu Spiralen, drehen sich feuerrot, touren hoch wie Turbinen. Wut glüht auf.
Ich befreie mich aus seinem Griff, schütte ihm das Wasser ins Gesicht, wünsche, es wäre Salzsäure. Er ist blockiert, schaut ungläubig. Ich schlage ihm das leere Glas an die Stirn, Blut läuft ihm in die Augen. Ich stoße ihn weg, stürme durch den Flur hinaus auf die Straße. In panischer Furcht, dass er mir folgen könnte, renne ich auf der Mittellinie wie um mein Leben, fuchtele mit den Armen, um alles von mir abzuschütteln, werde noch schneller, erreiche den Park.
Ich gehe zu Boden, ringe nach Luft. Einige Leute halten mich für eine verrückte Joggerin. So stemme ich die Arme auf den Rasen und versuche, meinen Zusammenbruch als sportliche Übung darzustellen. Ich knicke ein und liege so flach, dass niemand meine Tränen sehen könnte. Doch ich weine nicht.