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Auszeit
Maren gibt immer ihr Bestes:
Schmiert Brote für die Kinder und lächelt für den Mann,
verrenkt sich für die Kunden und schminkt sich für den Chef,
kniet nieder für den Haushalt, spart fleißig für die Bank,
fährt Fahrrad für die Umwelt, schluckt Pillen für den Arzt,
bäckt Kuchen für die Nachbarn und joggt für die Figur.
„Sei doch mal locker“, sagt ihr Mann.
Ihre Muskeln und Sehnen zerren die Mundwinkel nach oben zu einem Lächeln. Das schmerzt bis zu den Ohren, den Hals hinunter ins Genick, von dort den Rücken herab bis zum Steiß.
Du bist nicht mehr wie früher, sagen ihre Freunde.
Freue dich! Wir schenken dir zum Vierzigsten ein Wellnesswochenende.
Sei einfach mal du selbst! Entspanne!
Auch das noch, denkt Maren.
Von der Terrasse ihres Ahlbecker Kurhotels blickt sie auf das Getümmel an der Seebrücke. Ganz in Ruhe. Jetzt bloß nicht nach Souvenirs hetzen.
Vorsichtig nippt sie an der Teetasse und freundet sich mit dem säuerlich mulchigen Sanddorngeschmack an. Sie schaut auf die Uhr. Anwendungszeit.
Im Wellnessbereich liegt sie bäuchlings auf der Liege und lauert auf die Entspannung.
Achtung. Eine brühwarme Moorpackung klatscht auf den unteren Rücken.
Falls es zu heiß wird, Bescheid sagen, hört Maren noch von Weitem.
Bloß nichts zugeben. Wenn es gesund sein soll, muss es schmerzen.
Maren erduldet alles.
Am Strand bremst sie ihr Tempo in den Zeitlupen des Chi Gong.
Sie unterwirft sich Massagen und öffnet sich den Klangschalen und Meditationen.
Manche benötigen Jahrzehnte, um den ersehnten Zustand des Zen zu erreichen. Maren will es in drei Tagen schaffen.
Sie schwebt mit guten Vorsätzen bis zu den Ohren im warmen Kräuterbad.
Genießen Sie eine Minute für sich selbst, sagt der Bademeister, als er durch den Vorhang verschwindet.
Eine Minute bloß? Und das ohne Uhr. Ihre Zehen zappeln und schicken sanfte Wellen zur Nase.
Der grüne Geruch des Wassers erinnert sie an ihre Kindheit, als sie mit ihrer Freundin auf der Wiese spielte. Sie kochten auf ihrem imaginären Herd Sauerampfer und Käseecken. Schmeckten Gras. Käseecken? Wie hieß das Kraut mit den dreieckigen Blättchen wirklich?
Stopp. Sie soll an nichts denken, an nichts. Absolut nichts. Aus dem Lautsprecher wabert ein leises Stöhnen. Ein auf- und abschwellender Ton. Geisterstimmen. Nichts denken. Wale singen. Nichts denken. Pause. Eine zarte, ferne Antwort. Maren lächelt.
Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu tun und nichts zu besitzen. Wenn der Geist Ruhe findet, verschwindet er von selbst. Ihr Ich löst sich, wird eins mit ihrer Umgebung, verflüssigt sich.
Der Bademeister kommt zurück, sieht nur das trübe Badewasser in der Wanne. Er greift zur Kette, zieht. Mit einem Plupp löst sich der Stöpsel.
Das Wasser gurgelt.
Und Maren fließt im Strudel der Essenzen völlig entspannt durch den Abfluss ins Nichts.