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Eine kurze Geschichte über Freundschaft

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01.04.2015
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Eine kurze Geschichte über Freundschaft

Jetzt hatte sie sich auch noch ausgesperrt! Um halb drei Uhr morgens saß sie auf der Bank vor dem Haus und versuchte, eine möglichst umstandslose Lösung zu finden.
Diese Wohnung hatte sie schon seit Jahren nicht mehr genutzt. Lange Zeit war sie vermietet, nun war die Familie ausgezogen und sie musste in ihre Heimatstadt reisen, um einen neuen Mieter in Empfang zu nehmen. Es war allerdings auch ein erfreulicher Anlass, ihre alten Freunde zu treffen.
Zu dumm, dass die fehlende Gewohnheit, ebenso die Dringlichkeit, es am späten Samstagnachmittag noch in die Werkstatt zu schaffen, die Tür ins Schloss fallen ließ.
Nun überlegte sie, ob sie ihre alte Freundin Grace um ein Nachtasyl bitten konnte und schloss diese Möglichkeit sogleich aus. Grace hatte eine kleine Tochter und es wäre unmenschlich, sie um diese Uhrzeit aus dem Bett zu klingeln.
Nachbarn? Hmh, niemanden kannte sie heute noch so gut, dass sie mitten in der Nacht vor der Tür auftauchen konnte.

Der Anruf fiel ihr leicht.
"Hi. Wie viele Zimmer hast du in deiner Wohnung?", fragte sie, nachdem sie seine wie ihr schien in keiner Weise überraschte Stimme hörte.
Er stöhnte auf, antwortete aber ohne weiter nachzufragen:
"Genügend".
Er nannte seine neue Adresse und legte auf.
Die Nachtlichter ihrer Heimatstadt blendeten sie, also schloss sie die Augen und träumte weg, träumte zurück an den vergangenen Tag, an die vergangenen Jahre, bevor sie aus Berlin wegging, bevor sie diese große vielversprechende Stadt gegen eine kleine, jedoch sehr bekannte Region eintauschte.
Sie wusste nicht mehr, wie es dazu gekommen war, dass der vergangene Tag so ein trauriges Ende genommen hatte. Dabei wollte sie nur ihre besten Freunde treffen, wieder mit ihnen lachen, Essen gehen, über die Bekannten, die alten Schul- und Studienfreunde reden...
*
Sie hatte Konstantin nur um Hilfe bitten wollen, bei der Suche nach einer Werkstatt. Er kam sofort. Er umarmte sie, drückte sie wie üblich an seine Brust, die immer noch breit und fest war, obwohl er seine Sportkarriere schon vor einigen Jahren an den Nagel gehängt hatte. Ihr Herz hüpfte vor Freude, weil seine Stimme, seine Bewegungen und die ganze große Person Konstantin eine so unbegreifliche Wärme ausstrahlte, die sie die ganzen Jahre über in einem Eckchen ihrer Innenwelt gespeichert hatte, um sich daran in schweren Stunden zu wärmen.
Konstantin war immer ihr verlässlicher Freund gewesen. Bereits im Sandkasten verteidigte er sie gegen die Sandschaufelangriffe böser Jungs. In der Schule deckte er sie und sie ihn. Sie halfen sich gegenseitig durch schwere Lebensabschnitte in der Jugend und durch die Krisen in den jeweiligen Elternhäusern.
*
Sie öffnete hin und wieder die Augen, aber Berlin ignorierte die nächtliche Stunde und setzte alles ein, um die verträumten Nachtreisenden aus ihren Träumereien zu reißen und zum Leben, das hier nie still stand, zu verführen. So schloss sie wieder die Augen und ließ sich von den frischen Eindrücken tragen, nicht zuletzt, um alles das zu begreifen, was gerade vor ein paar Stunden passiert war.
*
Konstantin brachte sie in die Werkstatt. Danach fanden sie sich in einem Restaurant wieder. Sie hatte Hunger. Sie verschlang Riesenportionen von Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch und wunderte sich etwas über seine Appetitlosigkeit und ausweichenden Blicke, die jedoch ab und an so lange an ihr haften blieben, dass sie ihren Kopf zur Seite geneigt prüfend in seine Augen schauen musste. Er aß nicht viel. Sah ihr beim Essen zu und stellte keine Fragen. Als ihr das alles zu ernst wurde, versuchte sie ihn über andere Freunde auszufragen.
"Ich weiß nichts", bekam sie eine merkwürdige Antwort.
"Wie? Und Philipp?" Sie wollte doch wissen, was ihre alte Schulliebe machte.
"Philipp geht es gut. Er ist Modefotograf, sein Sohn ist schon auf dem Gymnasium."
Die Antwort war wieder nicht zufriedenstellend.
"Komm, lass uns Philipp anrufen", sprudelte sie plötzlich los. - "Vielleicht hat er spontan Zeit."

Philipp hatte Zeit. Ganz spontan. Genauso spontan war seine Umarmung, als er sie sah.
"Das muss gefeiert werden, Mensch! Hab dich seit Jahren nicht mehr gesehen! Du hast dich kein Bisschen verändert!" Er hielt sie immer noch an den Schultern gepackt und musterte von oben nach unten mit unverhohlener Bewunderung.
Sie befreite sich sanft aus seinem Griff, lächelte zufrieden:
"Von dir kann ich das selbe behaupten."
Sein blondes Haar war immer noch lang und wirr, ein Markenzeichen eines Vertreters der Berliner Bohème eben. Ein ziemlich berühmter Vertreter, musste man dazu sagen.
Ihr fiel es allerdings auf, dass Konstantin und Philipp sich recht kühl begrüßten, wenn man bedachte, dass sie einmal unzertrennlich gewesen waren. Welche Geschichte mochte das Leben wohl bei ihnen beiden Leben geschrieben haben?
Sie gingen in ein Lokal, tranken unzählige Cocktails, lachten Tränen.
Konstantin saß so nah an ihr, dass sie die ganze Zeit seine Körperwärme bewusst wahrnahm und in sich aufzunehmen versuchte, um die Zeit bis zum nächsten Wiedersehen von ihr zehren zu können. Sein muskulöser Oberarm lehnte öfters an ihrer Schulter und flehte sie an, berührt zu werden. Ihr fiel es immer schwerer, dieser indirekten Berührungsbitte zu widerstehen. Auf diese Weise hatte sie Konstantins Nähe noch nie erlebt. Seine Wärme kannte und vermisste sie, jedoch das, was sie heute Abend erlebte, war anders. Er mied ihren Blick und persönliche Themen und ihr Herz hörte nicht auf zu rasen.
Hätte man das auf die Getränke schieben können, wäre sie erleichtert gewesen, aber sie wusste, dass der Grund für die Pulsbeschleunigung ein anderer war. Sie hatte Konstantin schmerzlich vermisst.
*
Sie zuckte zusammen, als jemand draußen hupte, aber sie öffnete diesmal nicht die Augen. Sie träumte sich wieder zurück in das Gefühl, was sie neben Konstantin empfunden hatte, dieses Gefühl der Geborgenheit, vermischt mit unerklärlicher Verzweiflung und Verlangen, ihm noch näher zu sein. Sie war irritiert, ihren besten Freund so Weise zu empfinden.
Philip dagegen schien nichts davon zu bemerken und mit jedem getrunkenen Glas wurde er immer offener. Er startete schließlich einen direkten Annäherungsversuch, indem er ihre Hand in seine nahm und recht lange dort behielt.
Es wurde ihr unangenehm. Obwohl auch Philipp ihr guter Freund war. Oder gerade deshalb. Es war später Stunde und sie wollte sich nicht mit unangenehmen Gedanken herum plagen.
Konstantin spürte ihre Verunsicherung:
"Es ist genug für heute. Für mich jedenfalls. Zahlen, bitte!"
Philips Augen saugten sich an ihrem Gesicht fest.
"Ich habe in der Nähe eine neue zweite Wohnung, ein Penthouse, vor kurzem erworben und noch nicht vermietet, die muss ich dir zeigen. So hast du Berlin bestimmt noch nie gesehen. Komm mit."
Er wollte sie wieder an der Hand packen, aber dieser plötzliche Aufbruch versetzte sie in Panik, schreckliche unerklärliche Angst davor, sich jetzt von Konstantin verabschieden zu müssen. Sie stotterte verzweifelt:
"Konstantin, du hast die Wohnung bestimmt auch noch nicht gesehen. Kommst du mit?" Bitte, flehte sie ihn stumm an.
Er schien sie sofort verstanden zu haben, obwohl seine ganze Haltung eine unbegreifliche Ablehnung ausstrahlte.
Die Wohnung war wunderschön. Aber Philipp war wie von Sinnen. Er ignorierte Konstantin vollkommen, kam ihr immer näher, berührte sie bei jeder Gelegenheit.
Es war irreal. Sie verstand das alles nicht mehr. Sie musste das beenden, versuchte locker zu bleiben und machte sich über die Annäherungsversuche von Philipp lustig.
"Junger Mann, du weißt, dass ich verheiratete Mutter von zwei Kindern bin! Lass den Unsinn!"
"Du bist unglaublich schön", war seine Antwort. Er trat zu ihr und seine Finger strichen ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie konnte nicht zurückweichen, stand sie doch mit dem Rücken zur Wand.
"Und du bist auch verheiratet", versuchte sie noch die missliche Lage freundschaftlich zu lösen.
Konstantin hatte sich seit dem Betreten der Wohnung nicht von der Stelle gerührt, er lehnte mit vor der Brust gekreuzten Armen am Türrahmen, sprach nichts und beobachtete das Geschehen mit ausdrucksloser Miene. Aber in dem Moment, als sie ihre Hände Philipp an die Brust legte, um ihn zu stoppen oder auch von sich zu schieben, riss er die Tür auf und verließ die Wohnung mit den Worten:
"Ich wünsche euch eine gute Nacht, ihr Turteltäubchen."
"Warte!", schrie sie nun außer sich vor Panik. "Ich muss auch los!".
Sie schob Philipp schon weniger sanft zur Seite, verabschiedete sich hastig und stürmte Konstantin hinterher.
Er wartete auf sie vor dem Aufzug. Sie stiegen ein. Er drückte auf den Knopf. Nach unten. Sie redeten nicht. Sie versuchte in seinem Gesicht zu lesen, aber es war wie immer undurchdringlich. Nur angespannter Unterkiefer deutete auf innere Spannung.
Sie hatte nur noch Angst und konnte sich selbst nicht erklären, weshalb.
Als unten angekommen Konstantin sein Handy zückte, um für sie ein Taxi zu rufen, griff sie danach und drückte die gewählte Nummer weg.
"Ich habe den Eindruck, wir müssen noch reden", sagte sie leise.
Er ging nicht darauf ein. Sagte nur: "Komm, ein Stück weiter ist ein Taxistand."
Er machte einen Schritt nach vorne, aber sie packte ihn an der Schulter und zwang ihn zum Anhalten. Sie hätte genauso gut einen Felsen anfassen können, aber er ließ es geschehen, blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
*
Sie musste geschluchzt haben, weil der Mann am Steuer besorgt fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Sie murmelte etwas Unverständliches und machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. Lieber Gott, wann sind wir endlich da? fragte sie sich nur…
*
Jetzt blickte Konstantin ihr direkt in die Augen, und sie merkte, wie er mit sich rang.
"Konstantin, was ist hier los? Was ist mit Philipp los? Ich habe ihn noch nie so erlebt. Ihr seid beste Freunde, du musst es wissen."
Konstantin knurrte und sprach ganz langsam, jedes Wort betonend:
"Wir - sind - nicht - beste – Freunde."
"Dann sag mir, was zum Teufel passiert ist!" Sie konnte sich nicht länger beherrschen.
Er zögerte noch kurz, aber dann brachen schließlich alle Dämme und er fing an, zu reden:
"Er liebt dich, Mensch! Es kann wirklich nicht sein, dass du so blind bist!"
"Unmöglich. Ja, klar, wir waren in der Schule kurz zusammen, aber da waren wir beide fast noch Kinder. Er hat heute nur zu viel getrunken", antwortete sie misstrauisch.
"Genau. Deshalb hat er sich heute benommen wie ein Schwein."
"Ja, ok, er war heute etwas frech, aber wie ein Schwein... Warum sagst du das? Es ist doch nichts passiert."
"Er hat sich deshalb so benommen, weil ich dabei war. Ich muss zugeben, er ist mutig, viel mutiger, als ich."
"Was? Verstehe ich nicht. Wieso?"
Er zog die Luft scharf ein, schloss die Augen und sagte kaum hörbar:
"Weil er weiß, dass ich dich auch liebe."
Sie schwieg eine Weile. Nicht vor Überraschung, nein, sie hatte bereits geahnt, dass sich hinter dieser grenzenlosen Zuneigung auch stärkere Gefühle verbergen konnten, vor allem weil Konstantin ihre Hochzeitseinladung ignoriert hatte.
Deshalb versuchte sie auch, dieses Bekenntnis herunterzuspielen:
"Ach komm schon, das sind doch alles Sandkastengeschichten. Du und Philipp, ihr seid doch schon große Jungs."
Da öffnete er die Augen, tief getroffen von ihrer Reaktion. Sie musste doch wissen, welche Überwindung es ihn gekostet hatte, es zuzugeben?
"Du wolltest es wissen. Nun weißt du es. Und ich will dich nie wieder sehen. Lass mich bitte in Ruhe."
Sie begriff. Ihre Knie wurden weich, im Magen breitete sich eine Leere aus, als ob ihr jemand mit einem Großkaliber ein Loch hinein geschossen hätte. Sie konnte nur noch flüstern:
"Du hast nie etwas gesagt."
Er wollte wütend klingen, die Worte, die über seine Lippen kamen, klangen jedoch nur erschöpft:
"Vor 15 Jahren habe ich dich angefleht, nicht wegzugehen. Hatte es für dich nichts bedeutet?"
"Hättest du damals gesagt, dass du mich liebst, wäre ich geblieben."
"Wärst du nicht. Ich war nicht gut genug für dich. Mit mir wärst du nie das geworden, was du jetzt bist."
"Du bist mein bester Freund". Tränen füllten ihre Augen und vernebelten ihr den Blick auf sein kantiges Gesicht mit den zärtlichsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte.
"Tja, das will ich nicht mehr sein. Es bringt mich um."
Und er ging weg ohne sich noch mal umzudrehen.
*
"Wir sind gleich da", sagte der Taxifahrer. Wahrscheinlich hatte er langsam Angst wegen der schluchzenden Frau auf dem Rücksitz. Nicht, dass sie einen Nervenzusammenbruch bekam. Was sollte er dann bloß mit ihr anstellen?
Aber sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, und als das Taxi anhielt gab dem Fahrer das Geld und stieg aus.

Sein Haus stand am Rande eines Parks, von ruhiger Dunkelheit eines Berliner Vororts umgeben. Alles schlief. Die ersten Vögel jedoch wachten bereits auf und grüßten sich in Erwartung eines baldigen Sonnenaufgangs.
Sie wusste überhaupt nicht, was sie erwartete und was sie tun wollte. So verloren war sie in ihrem Leben noch nie gewesen. Aber sie war dem Schicksal oder wem auch immer unendlich dankbar, dass sie Konstantin noch einmal sehen durfte.
Die Tür war nur angelehnt, anscheinend hatte Konstantin das Taxi kommen hören. Sie blieb auf der Schwelle stehen und zweifelte nun, ob sie vielleicht doch seinen Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, respektieren sollte. Aber er war immer noch ihr Freund. Wie immer der Einzige, den sie ungeachtet der Umstände um Hilfe bitten konnte. So machte sie einen Schritt hinein.
Seine Stimme ertönte irgendwo aus dem Inneren des Hauses:
"Komm rein. Ich mache einen Tee. Den brauchst du jetzt bestimmt."
Die Stimme war so warm, so vertraut, einfach so, als gehörte sie zu ihrem Leben.
Sie ging hinein, in die Richtung, aus der die Stimme kam. Konstantin füllte gerade den Wasserkocher mit Wasser. Er blickte sie nicht an, sagte nur:
"Nimm Platz, fühl dich aber nicht wie zu Hause."
Seine Worte und sein Ton taten ihr weh. Sie versuchte, es zu ignorieren. Sie mochte ihn. Sie war froh, ihn zu sehen. Aber die Sehnsucht nach seiner Wärme brachte sie jetzt schon um den Verstand.
Sie sprachen eine Weile nichts. Als er den Tee aufgoss, vor ihr eine Tasse hinstellte und sich ihr gegenüber auf einen Sessel setzte, fragte sie:
"Ist deine Tochter nicht hier?"
Es war so lange still, dass sie schon sicher war, keine Antwort darauf zu bekommen. Aber dann sprach er schließlich mit heiserer Stimme:
"Sie lebt jetzt bei ihrer Mutter in den USA."
Verflucht, konnte sie denn gar nichts mehr sagen, ohne ihm weh zu tun!
"Tut mir Leid."
"Was tut dir Leid?" Er hob seinen Blick, sprach langsam und betont kalt. "Das braucht dir alles nicht Leid zu tun, es geht dich einfach nichts an."
Es hatte keinen Sinn. Sie wollte ihren besten Freund nicht so in Erinnerung behalten. Nicht kalt und zynisch, nicht verletzt und verletzend.
Er blieb sitzen, als sie aufstand und sich in Richtung Tür begab. Er blieb auch dann sitzen und schaute zu Boden, als sie zu ihm sprach:
"Alles tut mir Leid. Dass ich dich nicht verstanden habe, dass ich nicht hartnäckig genug war, um dich zu verstehen. Dass ich immer nur nahm, statt zu geben. Dass ich dich benutzt habe."
"Du kannst noch hinzufügen, dass du mein Herz gebrochen hast", warf er verbittert dazwischen.
"Ja, das tut mir auch Leid. Ich will dir auf keinen Fall noch mehr weh tun. Du wirst mich nie wieder sehen."
Sie öffnete die Tür und wollte hinaustreten, in das sanfte Licht des rötlichen Himmels, als sie plötzlich am Arm gepackt und herum gewirbelt wurde. Sie prallte zuerst gegen seine eiserne Brust, dann wurde sie gegen die Wand geschleudert und zwei Fäuste knallten links und rechts neben ihrem Kopf an die Wand, dass der Wandputz einriss. Konstantin stand ganz dicht vor ihr, berührte sie jedoch nicht und brannte seinen Blick in ihre Augen. Er war so außer sich vor Wut, dass er seiner Sprache nicht mehr mächtig war.
Was empfand sie? Das wusste sie nicht mehr. Sie sog nur seine Wut, seine Hitze, seinen Atem in sich hinein, schloss die Augen und spürte ihn, ohne ihn berühren zu müssen. So lebendig wollte sie ihn in Erinnerung behalten. So leidenschaftlich und offen. Er war für sie kein Rätsel mehr. Aber das, was mit ihr nun geschah, war unvorhersehbar gewesen. Sie reagierte auf ihn, sie rührte sich nicht, ihre Augen waren geschlossen, aber sie fühlte ihn überall.
Schließlich sprach er durch zusammengebissene Zähne:
"Was bist du nur für ein Mensch? Warum bist du gekommen? Willst du mich erniedrigt sehen? Willst du, dass ich auf die Knie falle und dich anflehe, bei mir zu bleiben? Glaub mir, ich würde alles Erdenkliche tun, um dich bei mir zu behalten. Willst du das?"
Sie schüttelte nur den Kopf, ohne die Augen aufzumachen.
"Warum dann? Warum?"
Sie spürte eine Veränderung in seiner Stimme, die nicht mehr nur wütend klang, sondern auch noch heiserer und dunkler wurde. Sie spürte auch, dass sein Gesicht dem ihren noch näher gekommen war. Sein heißer Atem streifte ihre rechte Wange, dann die Schläfe. Sie bildete sich ein, seine Lippen auf ihrer Haut zu spüren. Die Gefühle, die sie plötzlich überfluteten, waren für sie so überraschend, dass sie die Augen öffnete und ihm direkt in seine vor Wut und Verlangen verschleierten Augen blickte.
Er begegnete ihrem Blick mit Erwartung:
"Warum verteidigst du dich nicht?", stieß er hervor.
"Hat es denn einen Sinn?", fragte sie flüsternd zurück und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Diese Flut an Gefühlen konnte sie einfach nicht bewältigen. Sie redete jetzt schnell, schnappte zwischendurch nach Luft, als ob sie Angst hätte, dass er ihr das Wort für immer abschneiden würde.
"Ich will dich nicht erniedrigen, das ist das Letzte, was ich will. Es ist nur unerträglich für mich zu wissen, dass ich dich nie wiedersehen darf. Du bedeutest sehr viel für mich. Schon immer. Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht liebe ich dich auch, aber mein Mann ist die Liebe meines Lebens. Aber dich liebe ich irgendwie auch. Ich weiß nicht, geht das denn, kann man zwei Menschen lieben? Sag`s mir, geht das denn? Du hast auch eine andere Frau geliebt, du hast schließlich eine Tochter mit ihr."
Er unterbrach sie nicht, antwortete nicht, öffnete nur seine Fäuste, entspannte etwas die Muskeln und trat einen Schritt von ihr zurück.
Sie verstummte eine Weile vor plötzlicher Kälte, die sie umhüllte, als er von ihr zurückgewichen war. Dann fasste sie sich wieder:
"Soll ich dich auf Knien anflehen? Bitte, bitte, sag nicht, dass ich dich nie wieder sehen darf..."
Sie sah in seinen Augen, was für ein Kampf in seinem Inneren tobte. Schließlich hob er den Kopf.
"Du hältst mich für einen Heiligen. Du irrst dich, verdammt!"
Dann riss er sie in seine Arme und bedeckte ihr Gesicht, ihre Augen, ihre von Tränen feuchten Wangen mit Küssen.
Sie wehrte sich nicht, sie brauchte ihre ganze Kraft für ihren eigenen inneren Kampf.
Er hatte verloren, er, der immer alles wusste und konnte, der sich nie aus der Ruhe bringen ließ, und sie, die er immer für hilflos und schutzbedürftig hielt, wollte sich nicht so leicht ergeben.
Konstantin suchte ihre Lippen, fand sie jedoch verschlossen und hielt plötzlich inne, da auch der salzige Geschmack ihrer Tränen endlich in sein Bewusstsein drang. Er löste sich von ihrem Gesicht, stöhnte schwer und drückte sie ganz fest an sich.
So blieben sie eine Weile umarmt stehen, sie spürte seinen brennenden Atem in ihrem Haar, dann auch seine Finger, die durch ihr Haar fuhren.
Er flüsterte:
"Verzeih mir. Du bist stark. Du bist stärker und mutiger als ich. Es ist gut, dass du nicht bei mir bist. Ich habe dich nicht verdient."
Sie antwortete nur:
"Es ist nicht fair von mir, das zu verlangen, aber halt mich einfach nur fest, ok?"
"Immer. Ich werde immer für dich da sein."

 
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Hallo Isabela,

Willkommen hier!

grundsätzlich gefällt mir die Geschichte, da ist ein anständiger Konflikt vorhanden, und man fragt sich bis zuletzt, wie es wohl enden wird. Das Ende fand ich besonders gelungen. Allerdings fiel es mir etwas schwer, die beiden Jungs zu verstehen. Wirken eher wie Teenager. Dass sie beide nach einigen Jahren immer noch auf diese Frau stehen, obwohl sie bereits ein ganzes Leben trennt. Ich weiß nicht. Vllt wäre das deutlicher rausgekommen mit einem bestimmten Ereignis in der Vergangenheit, das die Drei so richtig zusammenschweißt, das sie fürs Leben geprägt hat.
Die Handlungen und das Denken der Protagonistin konnte ich stets nachvollziehen.

nachdem sie seine[,] wie ihr schien[,] in keiner Weise überraschte Stimme hörte.

bevor sie diese große vielversprechende Stadt gegen eine kleine, jedoch sehr bekannte Region eintauschte.
Entweder solltest du konkret werden oder es einfach weglassen. Adjektive solltest du nämlich vermeiden, wo es geht. Und eine kleine, sehr bekannte Region, das sagt mir gar nichts.

und die ganze große Person Konstantin eine so unbegreifliche Wärme ausstrahlte, die sie die ganzen Jahre über in einem Eckchen ihrer Innenwelt gespeichert hatte, um sich daran in schweren Stunden zu wärmen.
Ist sicher eine Geschmacksfrage. Mir ist es hier zu schnulzig und aufgeblasen. Wenn man den Satz reduziert steht da: Sie wärmte sich an seiner ausgestrahlten Wärme. Das ist nicht schön. Zudem ist es immer besser, so etwas zu zeigen. Die beiläufigen Schulterberührungen zum Beispiel. Da kommt das richtig gut rüber, diese Sehnsucht.

Sie war irritiert, ihren besten Freund so Weise zu empfinden.
Meinst du "auf diese Weise"?

und sie wollte sich nicht mit unangenehmen Gedanken herum plagen.
herumplagen

Sie hätte genauso gut einen Felsen anfassen können, aber er ließ es geschehen, blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
Generell hast du nicht viele Vergleiche im Text, und ich vermiss die auch gar nicht. Aber wenn du dann einen bringst, musst du dir schon sicher sein, dass der auch passt. Er setzt sich ja gerade in Bewegung. Ein Stein ist eher starr. Außerdem lässt er sich ja anhalten.

Lieber Gott, wann sind wir endlich da? fragte sie sich nur…
Indirekter Fragesatz. Kein ? sondern Komma. Auch zwischen nur und ... gehört ein Leerzeichen. Immer ein Leerzeichen davor, außer ein Wort reißt in der Mitte ab. So in et...

Und er ging weg[,] ohne sich noch mal umzudrehen.

Nicht,[Komma kann weg] dass sie einen Nervenzusammenbruch bekam. Was sollte er dann bloß mit ihr anstellen? [Hier bleibst du nicht in der Person. Sie ist gerade verzweifelt, da fragt sie sich doch nicht, was der Fahrer mit ihr anstellen würde.
Aber sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, und als das Taxi anhielt[,] gab [sie] dem Fahrer das Geld und stieg aus.

Konstantin füllte gerade den Wasserkocher mit Wasser. Er blickte sie nicht an, sagte nur:
Ersteres Füllwort, letzteres kann man sich erschließen.

Hat mir gefallen, bleib dran

Hacke

P.S. hab dir den Titel ausgebessert. Der ist übrigens nicht gut gewählt, erzeugt keine Spannung oder Erwartung beim Leser. Hier musst du dir echt Gedanken machen. Ist ja auch im Buchhandel so, dass unser Selektionsprozess erst sehr grob abläuft. Erst wird nach Titeln ausgewählt, dann wird vllt der Klappentext gelesen, anschließend vllt die ersten Seiten und dann wird das Buch evtentuell gekauft.

 

Ich habe die Geschichte auch mit Spannung gelesen.
Aber die Emotionen waren mir zu stark. Da müsste, wie Hacke schon sagte, etwas sehr Dramatisches in der Jugend vorgefallen sein.
Etwas weniger Tränen würden der Geschichte gut tun.
Ansonsten: Superschreibstil! Lässt sich gut lesen. Ute19

 

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