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Von dieser Welt
Sie wartet auf den Kaffee. Nora sitzt im Café und liest Zeitung. An der Wand hängt ein Rennrad, das Mobiliar ist schlicht und das Personal überfordert. Eine beliebte Einkehr für den modernen Hipster. Nora fügt sich nahtlos in das Bild des urbanen Individualismus ein. Sie wirkt etwas verloren an diesem großen Tisch, die Wochenzeitung darauf liegt ausgebreitet wie ein Stadtplan. Alle zehn Minuten jedoch checkt Nora ihr Smartphone in der Hoffnung, jemand interessiere sich für ihr Leben oder wolle sie am jeweils eigenen beteiligen. Doch nichts dergleichen.
In der Zeitung wird wieder einmal Weltbewegendes verhandelt. Der Geist der intellektuellen Gesellschaft gedruckt auf Papier, quasi zum Anfassen. Nora fühlt sich in diesem Moment eins mit den Geistesgrößen, von denen die Zeitung ausladend fabuliert. Als wäre es auch an ihr, den Weltlauf zu bestimmen, sie, die viel über die Welt liest, weiß und spricht, aber an ihr keinen wirklichen Anteil hat.
Der Kaffee kommt und schmeckt dünn. Serviert in einem Marmeladenglas bemüht er sich um seinen Alternative-Anschein, doch dahinter steckt nicht mehr, wie hinter jenem hippen Lebensgefühl der Leute im Café. In dieser Hochburg der Prätention spielt auch Nora sich etwas vor. Eigentlich ist ihr Leben beschränkt auf wenige flüchtige Bekanntschaften, Gelegenheitsfreunde und entfernte Freunde. Selten pflegt sie mit ihnen mehr als nur Smalltalk, redet oft über Belangloses, mit einer Inbrunst, als hinge ihr Leben daran.
Nora versteht sich als geistiger Mensch. Die Gesellschaft existiert in ihrer Überlegung nur als Abstraktum, die sie bloß als solche interessiert. Die Menschen, die ihr begegnen, betrachtet sie abschätzig, nein, vielmehr verabscheut sie ihren Lebenswandel und will das auch strikt vom Menschen an sich trennen. Letztlich verzweifelt sie an einem richtigen Menschenbild. Immer wieder richtet sie es neu aus, um es mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen - oder doch nur mit ihrem blanken Idealismus. Nora denkt allgemein zu viel. Was nützen ihre Überlegungen, wo sie doch keine echten Freunde hat, an denen sie zum Tragen kommen würden. Nora ist davon überzeugt, dass sie ein Mensch mit noblen Ansichten und einer liebenswerten Art ist, wie sie die wenigsten vorzuweisen haben.
Doch sie kann sich damit nur selbst imponieren, wie sie diese Gedanken in einem überteuerten Kaffeehaus ausformuliert, Feuilleton liest und sich ausmalt, wie toll die Menschen sie doch finden müssten. Und doch vergleicht sie sich nur mit einer Illusion der Anderen und damit mit sich selbst. So kreist Nora um ihr eigenes Ich, es bleibt ihr sonst auch niemand übrig, sie selbst ist ihre Freundin. Narzissmus und Selbsthass vereint in einer Person, Hadern mit der Welt in der nur sie vorkommt.
Keine Deutung scheint zuzutreffen, alles nur Ausflucht und fadenscheinige Rechtfertigung. Jede Erklärung der Welt kommt ihrer Vernichtung gleich. Lieber erträgt Nora das Unbehagen die Getriebenheit, anstatt Klarheit erlangen zu wollen. Dann könnte sie ja gleich in die Kirche eintreten. Allein macht sie an diesem Samstag ihre Schritte durch die Stadt, die Großstadt, die für sie unheimlich und machtvoll dicht in die Höhe ragt. So wie ein Landstreicher in den zwanziger Jahren Berlin vor Augen hatte.
Erleichtert betritt Nora die leere Wohnung. Die Zeitungen verstopfen die Schubladen, die Gedanken den Kopf, Fotos jedoch hängen keine, die Wände sind kahl. Es ist still im Zimmer; draußen das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos.