- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Verständnissache
Verständnissache
Er lässt er so wenig Platz zwischen Tür und Türstock, dass ihm das Regenwasser vom Körper gezogen wird, als er eintritt. „Hast du den Revolver?“, fragt sie mit ihrer ruhigen Stimme. Er lächelt, zieht seinen Rucksack vom Rücken, öffnet ihn, zieht eine Waffe daraus und legt sie auf den Tisch. Er zieht die Hand zurück, überlegt es sich aber noch mal und schiebt die Waffe über die kleine Tischplatte zu ihr. Sie verfolgt mit Augen und Kopf den Revolver. Er setzt sich, indem er den Stuhl so leise wie möglich zurückzieht und seine Sachen gerade streicht. Er tropft nach wie vor den Boden voll. Seine Hand führt seine Haare aus dem Gesicht.
„Wir sind uns sicher?“
„Wir sind uns sicher.“
Er lächelt sie an, und sie schaut auf den Boden, um den missglückten Versuch zu kaschieren, ihr eigenes Lächeln zu unterdrücken. Er packt den Revolver und zieht eine Kugel aus seiner Tasche. Sie fängt an zu weinen, ohne ihn anzusehen. Er sieht immer wieder bedrückt zu ihr auf, muss sich aber hauptsächlich auf die Waffe konzentrieren, um sie, nach der mündlichen Anleitung des Verkäufers, zu laden. Die Waffe macht filmtypische Geräusche, was ihm bestätigt, dass er sie geladen hat. Der Verkäufer sagte ihm, sie habe acht Kammern. Er weiß nicht, ob sie dann ein Revolver ist, aber sie sieht so aus für ihn. Er freut sich: „Ich hab’s dann soweit“. Mit roten Augen schmunzelt sie: „Lass uns anfangen.“
Sie zögert kurz, bevor sie weiterredet: „Darf ich noch was sagen?“ Er legt die Waffe zurück auf den Tisch und nickt ihr erleichtert zu. „Folgendes“, fängt sie an: „Als ich damals springen wollte, hätte ich nie gedacht, dass du vorbeilaufen würdest. Es war kalt, es war auf der kack abgesperrten Brücke und es war scheiße noch mal zwei Uhr in der Nacht.“ Sie lacht und schluchzt gleichzeitig. „Und vor allem, was sollte das? Jeder hätte etwas anderes gesagt. <Würdest du das bitte nicht tun, darauf hab ich jetzt echt keinen Bock>, wer sagt so was?“ „Und du hast dich auch noch entschuldigt.“, platzt er lachend in ihre Rede, und sie kann sich auch nicht halten. Sie hebt die Hand und kriegt sich wieder: „Ja, naja, ich hab ja nicht wissen können, dass du mich verarschst. Aber als du mich dann mit deinem ernsten Gesicht angeschaut hast, als du mir gesagt hast, was du wirklich gedacht hast. Das war so schön. Es ist noch immer schön. Ich denke einfach gerne daran. Ich war richtig müde, wollte aber unbedingt weiterreden. Einfach nur dasitzen mit dir. Das war der Tag, der am besten bleiben hätte sollen. Aber das war eben nicht so. Ist ja klar. Du weißt was ich für dich empfinde, und ich bin sehr froh, dass du mich da runter geholt hast. Und jetzt sag du was, bitte, ich will mir jetzt nicht so blöd vorkommen. Ich bin mir eh immer kitschiger vorgekommen, wie zum Beispiel wegen dem Tattoo. Du hast doch bestimmt auch was zu sagen.“
„OK, Punkt Nummer eins, wir haben kein Klopapier mehr.“, beschwert er sich mit ernster Miene, muss seine Mundwinkel aber sichtlich nach unten zwingen. Sein Gesicht verzieht sich krampfhaft. „Halt die Fresse! Sag was Ernstes.“, würgt sie halb lachend halb schluchzend hervor. „Nun gut.“, formt er sehr langsam mit seinen Lippen, womit es ich lächerlich anhört, obwohl er nur nachdenkt. Dann setzt er nach kurzer Pause, in der er seine Hände inspiziert, neu zu reden an: „Ich mag die Tatsache, dass du kitschiger bist als ich, dadurch hab ich nie so viel sagen müssen, sondern konnte mich dir einfach anschließen, ohne mich blöd zu fühlen. Ich mag das Tattoo auch echt gern. Genau so wie alle anderen. Ich hätte mir vielleicht nicht alle stechen lassen, aber mindestens auf einen Merkzettel oder so geschrieben. Aber ich hab dich ja eh jeden Tag gesehen. Ich hab mich in deiner Welt sehr geborgen gefühlt. Einfach indem ich Anteil hatte. So wie wenn ich in einem Buch abtauche. Manche fühlen sich bei ihrer Familie geborgen, manche fühlen sich bei Gott geborgen, und ich fühle mich nun mal bei dir geborgen. Einfach, dass mir alles egal war, es war einfach OK. Alles war in Ordnung. Oder es war mir egal, ob nicht alles in Ordnung war. Ich weiß nicht so genau. Ich hab darauf vertraut, dass du jeden Tag da bist, wenn ich aufwache, wenn ich heimkomme. Ich wollte es so. Alles war so, wie wenn es so gewollt wäre. Es war fast, Achtung Kitsch, mystisch, dass ich dich gefunden hab. Ich weiß, dass ich das alles nie so gesagt habe, auf jeden fall nicht offen, aber ich glaube, es war immer klar zwischen uns, sonst hätte es nicht so funktioniert.
Ich hab mich mal spontan in eine Stripperin in Prag verliebt, aus verschiedenen Gründen, einmal in eine Postbotin, die ich vielleicht 30 Sekunden gesehen habe, ebenfalls aus verschiedenen Gründen. Obwohl das wahrscheinlich auch nur alles Spinnerei war. Aber dass du dich umbringen wolltest war für mich auf Anhieb so sympathisch, so verständlich, so interessant, dass ich es bereut hätte, wenn ich gegangen wäre. Ich wünschte mir, dass wir zur richtigen Zeit beide gleichzeitig in einem Autounfall oder was auch immer gestorben wären. Wenn ich es nicht erwartet hätte. Wenn ich nur eine Sekunde hätte, um zu realisieren, dass ich sterben werde, und dass alles gut ist.
Was Liebe ist, weiß ich nicht genau, du weißt wie ich darüber denke, aber ich bin mir sicher, dass ich für dich mehr empfinde, als was die meisten für Liebe halten.“
Er hat die ganze Zeit sehr ruhig gesprochen und den Blick nicht einmal zu ihr gehoben. Als er ihr doch ins Gesicht sieht, ist sie fast komplett aufgelöst. Er nimmt die Waffe, hält sie sich an den Kopf und drückt ab. Nichts passiert. Er schiebt sie zu ihr rüber. Sie nimmt zittrig die Waffe, und macht es ihm gleich. Er kann aber nicht hinsehen, während sie den Blick auf ihn gerichtet hat. Nichts passiert. So geht es ein paar Mal hin und her weiter. Zum Schluss sitzen beide Körper zusammengesunken auf ihren Stühlen. Einer von beiden ist Tod. Der andere hält weinend die Waffe in der Hand. Er hat überlebt. Im Zimmer steht nur ein Photo. Es zeigt, wie beide, aneinandergelehnt auf einer Bank im Sonnenschein, vor sich hin dösen, vielleicht sogar schlafen. Nachdem er sich für einige Zeit in dem Bild verloren hat, scheint es so, als würde ihm etwas Wichtiges einfallen. Er steht auf, sucht wie wild nach Stift und Zettel und fängt an zu schreiben:
Auch wenn wir einfach so aus dem Leben scheiden wollten, will ich trotzdem noch etwas loswerden. Ich kann es nicht ertragen, dass ihr sie als Drogenopfer oder als banalen Depressivling abstempelt. Das ist nicht so. Das war Punkt eins, Punkt zwei ist, dass ich nicht abtreten will, ohne euch allen Mal meine wirkliche Meinung gesagt zu haben, alles, was ich immer sagen wollte: FICKT EUCH
Stark schnaufend legt er den Stift weg und setzt sich in die Ecke des Raumes, die am weitesten von ihr entfernt ist. Er packt seinen Mp3-Player aus, setzt seine Kopfhörer auf und dreht die Musik so laut auf, bis er eindeutig keine Stille mehr hören kann. Es läuft ’I wanna be free’ von Manicure. Er singt leise mit.
I wanna be free,
Just you and me,
I am the only one,
You are the only one.
I can smile cause I feel loved,
Like a seventeen year old,
And my watch is fifteen minutes slow,
You turn me on,
Don’t turn me off.