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Ein heißer Sommertag

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19.05.2015
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Ein heißer Sommertag

Der Sommertag brennt. Dunst liegt über der Stadt. Menschen fließen über die Zeil. Am Rande der Straße, unter einem müden Baum mit verblichenen Blättern sitze ich auf einer Bank und beobachte die Menschen. Ich sehe starre, gierige Augen. Frauen, die ihre Haut zur Schau stellen. Männer, die ihre Frauen präsentieren. Ungeschützte Schönheit. Dazwischen meine Brüder, als Bettler verkleidet, gebückt im Dreck. Jeder geht an dem anderen vorbei und reiht sich ein in das Wogen der Masse.

Meine Augen sind klar und mein Herz fülle ich mit Liebe. Ich bin berufen, das Licht in die Welt zu bringen und werde sie zwingen, die Augen zu öffnen. Das Blut wird leuchten und die Jagenden, die Suchenden, werden die Plastiktüten mit ihren Einkäufen vergessen. Ich helfe ihren Seelen und sie werden schmerzhaft ihre Augen öffnen.

Kichernd gehen junge Frauen an mir vorbei, kaum jünger als ich. Sie erkennen und beachten mich nicht, obwohl ich auf den Ansatz ihrer Brüste schaue und ihre schwellenden Hintern in den engen Hosen oder Röcken entdecke. Sie sind fröhlich, leicht wie Vögel und ich wünsche mir, ihre Haut zu berühren. Haut wie Milch, die schmeckt wie Honig. Hinter ihnen junge Männer, Knaben eher, sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie lachen, zeigen ihre Muskeln, recken ihre Brustkörbe und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Mit Stolz tragen sie dieselben Turnschuhe, nach denen ich mich sehnte. Markenschuhe, auf die ich sparte, für die ich meine Eltern anbettelte, bis ich die 200€ in den Händen hielt, die ich brauchte. Ich erinnere mich wie neu und makellos sie rochen, wie unbefleckt sie waren. Ich dachte, dass jeder sehen müsste, welche Schuhe ich trage, dass alle, an denen ich vorbeigehe, mich und meine Schuhe bewunderten. Ich täuschte mich. Gestern habe ich meine überzähligen Kleider und Schuhe den Bedürftigen der Gemeinde gespendet. Ich brauche sie nicht mehr. Ich habe mich entschieden.

Während ich hier sitze, gehen Hunderte an mir vorbei und sehen mich nicht. Die Sonne brennt auf den Asphalt. Die Erde darunter wünscht sich, befreit zu werden. Im Brennglas meiner Gedanken schwitze ich nicht. Ich bete für die Menschen, die an mir vorbei wandern. Ich bin vorbereitet und mache die Sonne heller, weil ich wie ein Blitz bin, der aufzuckt und den Tag erhellt. Eins muss mir noch gelingen: das Mitleid besiegen, hart sein, den Schmerz ertragen und mich im Licht zeigen. Heute will ich meinen Mut testen und mich vorbereiten auf das Größere, das kommen wird. Nur ein Versuch. In meiner Tasche habe ich eine Wollmütze mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen. Und den Brandsatz nach einer Anleitung aus den Flüssigkeiten gemixt, die ich mir besorgt habe.

Ich lasse mich in die Menge gleiten, biege ab in Richtung Paulskirche und Römer. Als ich in der Schule war, besuchten wir die Paulskirche. Lehrergerede über Freiheitskampf. Nichts hat sich geändert. Was ist das für eine Freiheit kommen, solange es erlaubt ist, Geld zu scheffeln, andere mit den Mitteln des Rechts zu betrügen und sich dabei wohl zu fühlen?

An eine Wand gelehnt, sehe ich eine junge Frau. Sie trägt Jeans und einen zerschlissenen Pullover und um den Hals ein Pappschild. Darauf steht: „Ich bin alleinerziehend und arm, bitte helfen Sie mir.“ Vor sich hat sie eine Plastikschale auf den Asphalt gestellt. Münzen darin, Centbeträge, mehr nicht. Schnell und ohne sie zu beachten, gehen Leute mit gefüllten Beuteln an ihr vorbei. Die Frau gefällt mir mit ihrer weißen Haut. Wenn sie nur aufstünde und ihren Körper aufrichtete, um ihn den Menschen entgegen zu strecken, die sie übersehen, die Augen vor ihr verschließen, sich wegdrehen. Früher hätte ich das genauso gemacht, weggeschaut. Meine Schritte werden langsamer, ich beuge mich zu ihr herab, hole mein Portemonnaie aus der Hosentasche. Ich schütte alle Münzen, die sich darin befinden, in das Tellerchen und den 50€-Schein lege ich obendrauf. Sie schaut hoch zu mir, zu dem Mann mit dem schwarzen Bart und den dunklen Augen und ich erkenne wie hell und durchscheinend ihre Augen sind. Ein vorsichtiges, verkniffenes Lächeln. Für einige Augenblicke halten sich unsere Blicke.

„Danke.“
„Ich freue mich, dir zu helfen, Schwester.“

Ein stiller Blick von ihr, verwundert, ängstlich. Hastig richte ich mich auf und gehe weiter. Kein Blick zurück. Ich fühle mich leicht. Für einen Moment überlege ich mir, ob die Frau eine Ganovin ist, die sich verkleidet und abends in ihrer komfortablen Wohnung ihre Tageseinnahmen zählt. Ich unterdrücke den Gedanken, besser ist es, zu glauben und zu hoffen.

Mein Schädel brennt. Ich bin wenige Schritte vom Römerplatz entfernt. Ich mag diese Häuser, die aussehen, als stünden sie jahrhundertelang hier und kämen aus einer alten Welt, die ehrlicher war. Vor der Fassade des Rathauses bleibe ich stehen, mitten unter Touristen aus Asien. Mein Blick wandert hin und her, um die Menschen zu spüren, die sich gegenseitig fotografieren und anlachen. Eine ganze Gruppe in der ländlichen Kleidung ihrer Heimat geht an mir vorbei. Sie sehen nach Indern aus. Die Frauen tragen lange, bunte Kleider, in Farben, die hier keiner tragen würde, warme Töne, orange, ein helles Blau.

Der Anblick der Farben erinnert mich an einen Sommertag auf dem Land, an eine Sommerwiese mit vielfarbigen Blumen, an die Frau, die ich dort geküsst und begehrt habe, an ihre Haut, ihre Lippen, die sich geöffnet haben, an sie, die sich geöffnet hat. Unsere Küsse füllten unsere Münder aus und wir vergaßen, was um uns war. Erst als wir die Augen wieder aufmachten, bemerkten wir, wie schön das Meer der Blumen war. Vollendeter war kein Sommertag. Heute ist ein Tag wie damals. Ich habe genug gewartet und gehe zurück zur Einkaufsstraße, weg von den idyllischen Häusern des historischen Zentrums. Als ich an die Stelle komme, wo die Bettlerin sitzt, wende ich meinen Blick ab, um sie nicht anschauen zu müssen.

Ich will mich auf meine Aufgabe konzentrieren und denke an diejenigen, die mir die Augen geöffnet haben, höre die wohlklingende Stimme von Anton in mir, der mir erklärte, dass Satan die Welt beherrsche und wie schön diese Welt wäre, wenn sie gereinigt sei. Wir Kinder des Lichtes atmeten anschließend freier und die Angst verschwände, das Gift für die Seelen. Nachdem er von Satan gesprochen hatte, begann ich, die Gesichter des Teufels auf den Straßen zu suchen und fand sie in den Blicken meiner Eltern, die aufblitzenden Augen, wenn sie davon sprachen, was sie unbedingt haben wollten, sei es ein Auto oder Schmuck. Der Satan war im Blick meines Vaters, der eines Abends sagte, er gehe mit Freunden etwas trinken, obwohl er mit einer anderen Frau ins Restaurant ging. Er saß da und lächelte die Fremde an, während meine Mutter ihm zu Hause die Wäsche bügelte. Ich lief schnell an ihm vorbei. Für alle sichtbar hatte er einen Platz am Fenster gewählt. Die Frau mit ihren dunklen Haaren und dem harten Gesicht war nicht besonders hübsch. Mein Vater lachte und gestikulierte dennoch mit ihr. Am nächsten Tag war ich bei Anton und habe ihm von meinem Vater erzählt. Er hat mich an das Lachen Satans erinnert. Wir müssen die Welt reinigen, dem Satan entgegen treten. Ich hab verstanden, was Anton meint und werde handeln. Heute ist der richtige Tag.

Langsam nähere ich mich meinem Ziel, der geschäftigen Kleinmarkthalle. Wo man Gemüse, Obst, Fleisch und Fisch kaufen kann, die angefüllt ist mit Gerüchen. Bei meinem letzten Besuch holte ich mir ein französisches Maishühnchen und Fisch, der ein Tag zuvor glücklich im Ozean schwamm. An diesem frühen Nachmittag wird es nicht voll sein in der Halle. Mein Plan ist einfach: eine unbelebte Stelle auf der Empore suchen, meine Tasche platzieren und den Zünder entsichern. Wenn das erledigt ist, bleiben mir zehn Minuten, um die Halle zu verlassen.

Als ich reingehe, genieße ich den kühlen Luftzug der Klimaanlage nach der Hitze draußen. Ich rieche ein Gemisch aus Kräutern und süßem Obst, während ich an den ersten Ständen vorbei gehe und das aufgetürmte Obst betrachte. Die Erdbeeren sind rot und glänzend als wären sie poliert. Ich stelle mir vor, Erdbeeren mit Sahne zu vermischen und mir in den Mund zu stopfen. Oder sie gleich ungewaschen zu vertilgen, wie ich es als Kind auf dem Feld gemacht habe. Frauen und Männer in grünen Schürzen stehen hinter den Ständen. Ich beobachte eine kleine, alte Frau mit weißen Haaren und unsicherem, hinkendem Gang. Für einen Moment schaut sie mir direkt in die Augen und lächelt, häuft Äpfel auf und stapelt die Früchte. Wenige Leute kommen mir entgegen. Wie ich es erwartet habe. Ich bleibe entschlossen und konzentriert. Ich muss nicht überlegen, jede Einzelheit ist durchdacht. Eine Treppe führt mitten in der Halle zur Empore. Dorthin führt mein Weg. Hochgehen, die Tasche ohne Zögern abstellen und die Halle verlassen. Oben auf der Empore angelangt, schaue ich mir die Stände mit Fisch und Kaviar an. Kaum was los, die Verkäufer schauen gelangweilt ins Leere. Die Köstlichkeiten sind teuer, der Lohn eines ganzen Tages für das Prekariat. An einer Stelle finde ich eine Lücke zwischen aufgestapelten Kisten und Eimern. Die anderen Plätze sind unbrauchbar, weil dort überhaupt nichts steht und ein herumstehender Gegenstand auffiele. Ich beschließe die Tasche in die oberste der gestapelten Kisten zu legen. Die ausgewählte Lücke zwischen den Ständen befindet sich vor einem der letzten Fischbuden. Langsam nähere ich mich, vorsichtig schaue ich mich um, ob jemand sich hinter mir befindet. Eine Frau und ein Mann überholen mich. Ein junges Pärchen, das sich an den Händen hält, in beständigem Austausch von Worten, Gesten und Berührungen. Sie sind vor mir und stehen an einem Fischstand. Vielleicht feiern sie das Jubiläum ihres Kennenlernens. Sie sollten sich mit ihrem Einkauf beeilen.
Es riecht nach Fisch und Meer. Feuer wird den Geruch vertreiben. Hinter mir befindet sich eine ältere Frau, die sich ziellos umschaut. Ich bemerke sie, als ich nur noch wenige Meter von der Lücke mit den Kisten entfernt bin und mich an die Balustrade lehne, um auf den Moment zu warten, die Tasche abzustellen. Ich fühle mich unbeobachtet. Wenn ich fliehen muss, werde ich die Mütze überziehen, die ich mir zurechtgeschnitten habe. Meine Kleidung ist unauffällig. Jeans, schwarzes T-Shirt ohne Aufdruck. Mein Blick wandert von der Balustrade über die Stände im Erdgeschoss. Menschen. Manche mit gefüllten Tüten voller Obst und Gemüse. Andere schlendern ziellos und genießen die Kühle der Halle.

Ich bin entspannt, hellwach und absolut konzentriert. Was werden die Leute machen, wie werden sie sich bewegen, sobald sie den Brandsatz bemerken? Panik? Das Paket sieht wie ein sehr großer Kaugummi aus und wird ein Loch in den Boden reißen, wahrscheinlich die Balustrade beschädigen. Die Fische werden in der Luft tanzen und das Gemüse wird fliegen.

An die Menschen darf ich nicht denken, das Ziel zählt. Der Moment ist gekommen. Mit festen Schritten, ohne mich zu beeilen, gehe ich zu der Lücke zwischen den Ständen und lege die Tasche in die oberste Kiste, die dort stehem, als wäre sie mir zu schwer, als wollte ich sie nach meinen Einkäufen wieder abholen. Ich wende mich ab und gehe mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen kann, zur Treppe, bleibe kurz stehen und hole das Handy mit dem installierten Zeitzünder aus der Tasche. Ich brauche nur ein Signal senden und die Bombe ist aktiviert, programmiert von Brüdern. Das Handy habe ich von Anton. Ich drücke hastig auf den Knopf und sende das Signal.

Mir bleiben zehn Minuten. Bis dahin will ich auf der Zeil sein und mich in der Menge auflösen. Aus der Ferne werde ich Sirenen hören, Blaulicht sehen, den Knall der Bombe hören, Unruhe wird sich in der Stadt ausbreiten und ich werde weitergehen, einfach weitergehen. Ich bin kein Märtyrer und will nicht sterben, obwohl ich keine Angst vor dem Tod habe. Solange ich lebe, kann ich größere Aufgaben übernehmen, die Welt verändern. Es geht ohnehin nicht um mich, es geht um Würde und ein Leben im Einklang mit Gott. Es geht um Wahrheit in einer Welt, die von Geld und falscher Propaganda beherrscht wird. Sie lügen, wenn sie sagen, wir seien dumm, fanatisch und verblendet. Wir sind das Licht. Die Propheten - unter ihnen Jesus - sprachen vom Licht Gottes. Die Wahrheit muss durch die Dunkelheit hindurch sichtbar werden.

Schnell die Treppe hinab, ohne dass es nach einer Flucht aussieht. Einer, der es eilig hat. Dann passiert etwas, womit ich nicht gerechnet habe. An einem der Stände mit Blumen, nicht weit vom Ausgang, stehen Muriel und Hicham, meine Tante und mein Onkel. Sie riechen an Blumen und kichern wie Kinder. Ich muss eine Entscheidung treffen. Entweder gehe ich an ihnen vorbei, als hätte ich sie nicht gesehen und sie bleiben hier, wenn das Feuer und das Chaos ausbricht, oder ich versuche sie so schnell es geht, nach draußen zu locken. Meine Tante backt die besten Kuchen der Welt. Sie lieben Kinder, obwohl sie keine eigenen haben. Sie streiten nie, lächeln immer und sind wunderbar. Als Kind habe ich sie oft gesehen, in den vergangenen Jahren selten. Ich bin erwachsen und halte mich von der Familie fern. Ausgerechnet jetzt sehe ich sie hier, heute, in dieser Stunde. Die Zeit verrinnt. Ich muss sie ansprechen und wegbringen. Als ich bei ihnen ankomme, bemerken sie mich anfangs nicht. Dann wendet meine Tante ihren Kopf und sieht mich. Ihr Lachen zieht sich über das ganze Gesicht.

„Asik, Junge, bist du das wirklich? Wir haben dich lange nicht gesehen,“ sagt sie. Schulterklopfen und eine stumme Umarmung meines Onkels folgen. Ich versuche ruhig zu bleiben. Minuten verrinnen.
„Kommt ihr mit mir nach draußen? Ich habe es eilig, draußen könnte ich noch eine Zigarette mit euch rauchen.“
„Du musst wirklich gleich los?“
„Lasst uns raus gehen, da können wir besser reden.“
„Ja, gleich. Du siehst gut aus“, sagt mein Onkel.

Der Onkel ist ein stämmiger, kleiner Mann. Wir gehen zusammen los. Es sind nur wenige Schritte bis zum Ausgang. Die beiden sind langsam und betrachten mich immer wieder. Wir kommen an dem Stand mit den Rindswürsten vorbei, vor dem eine lange Schlange Menschen ein heißes Stück Wurst ergattern will. Die Tür öffnet sich automatisch und die gleißende Helligkeit blendet uns, Hitze schlägt uns entgegen, stärker und spürbarer als vor dem Betreten der Halle. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt, bleiben wir an einer Stelle stehen, die Schatten bietet. Meine Tante hat sich bei mir eingehakt und sich auf dem Weg an mich gedrückt.

Gleich wird es losgehen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Ich zünde mir die Zigarette an, meine Tante fragt mich, wie es mit dem Studium läuft. Da hören wir den Knall. Eine Scheibe zerbricht über der Stelle, an der wir stehen. Rauch spuckt heraus, grauer, dunkler Rauch. Meine Ohren dröhnen. Schrecken bricht aus. Tante Muriel zittert, klammert sich an mich und den Onkel. Menschen rennen schreiend aus der Halle. Onkel Hicham schaut mich an, fragend, mit starren Augen. Er nimmt seine Frau an der Hand und drängt von der Halle weg. Dicht hinter ihnen folge ich. Meine Kehle schnürt sich zu. Angst. Beschleunigung. Alles wird schneller. Die Ruhe des Sommertags ist vorbei, wie ich es wollte, genau wie ich es wollte.

Immer mehr Menschen drängen aus der Halle. Wie ein Sturm. Sie treiben in alle Richtungen, weg von der Halle. Meine Zigarette ist längst auf den Boden gefallen. Wir gehen weiter, schneller. Ich weiß, dass ich mich verabschieden muss, obwohl ich Tante und Onkel nicht allein lassen will, auf deren Gesichtern Furcht das Lächeln gelöscht hat.

Eine zweite Explosion. Schreie. Leute, die an uns an uns vorbei rennen. In der Nähe höre ich Martinshörner. Ich drehe mich um und blicke zum Eingang der Halle zurück. Rauch. Verletzte. Einige wanken, werden gestützt. Genau kann ich es nicht sehen. Ich muss weg. Auf der Straße liegen herausgeschleuderte Gegenstände, Fische darunter, neben Bruchstücken von Plastik und Holz. Die Bombe muss eine viel stärkere Wirkung entfaltet haben, als ich es vermutet habe. Ich bereue nichts, überhaupt nichts bereue ich. Die Fische flogen in den Himmel empor und liegen jetzt auf dem Asphalt, mit glänzendgrauen Schuppen, glitschigem Leib. Mein Werk gefällt mir, die Schreie gefallen mir.

Ich höre die leise Stimme Onkel Hichams: „Wir gehen weg von hier, mein Junge.“ Er sagt es ins Nichts. Ohne noch auf mich zu warten, nimmt er die Hand meiner Tante und geht los. Langsam und energisch. Er achtet nicht darauf, ob ich mitkomme. Mag sein, dass er mich vergessen hat. Ich bleibe dicht hinter ihnen. Wir begegnen Menschen, die vom Geschehen weg eilen, anderen, die sich hin drängen. Mein Onkel wird schneller. Wie von alleine gehe ich, als wären die Beine nicht mehr Teil von mir, wie in einem Traum. Der Platz vor dem Römer ist leergefegt.

„Wer mag das angerichtet haben? In der Halle war es so friedlich“, sagte Tante Muriel.
„Die Welt ist grausam. Hauptsache euch ist nichts passiert.“
Es klingt wie eine Lüge. Ich muss gehen, weg von ihnen, weg von dem Rauch, der hinter mir aufsteigt. Ich suche nach der Stelle, wo die junge Bettlerin war. Sie ist verschwunden.
Ich umarme Tante und Onkel und verabschiede mich. Auf meiner Wange bleibt eine Träne von Tante Muriel zurück.
„Ich muss gehen.“
Mein Blick geht nicht zurück.

 

Hallo wieselmaus

schön, dass du vorbei schaust. (wenngleich zu einem Text mit einem schwierigen Thema)
Den Text habe ich mir aus mehreren Gründen wieder vorgenommen. Es war einer der ersten Texte, die ich veröffentlicht habe. Mit dem Abstand, den Erfahrungen und (ich hoffe auch) besserem Handwerkszeug, habe ich ihn überarbeitet. Zudem stelle ich derzeit ein paar Texte zusammen, die ich in halbprivatem Kreis vor einem Publikum vorlesen möchte. (wenn ich den Mut dazu finde :hmm:)

Du wolltest wohl kaum Identifikation stiften, aber doch ein gewisses Maß an Empathie erzeugen, weil du - wie ich glaube - davon überzeugt bist, verstehen heißt nicht entschuldigen, sondern möglicherweise verhindern. Ich finde es von dir sehr verdienstvoll, dieses Thema weiter zu bearbeiten.
Warum ich dieses Thema so gewählt habe? Weil ich der Überzeugung bin, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir solche Menschen einfach als Irre stigmatisieren, eintauchen, verstehen wollte ich...

Schon allein, um hier im Forum ein Gegengewicht zu so vielen trivialen Texten zu schaffen und auch deshalb, weil derzeit viele Menschen in Deutschland leichtfertig und auch unbedarft den Einsatz von Gewalt akzeptieren.
Unterhaltung ist in Ordnung, aber nicht alles. Ich wähle manchmal für meinen Geschmack zu oft die weniger unterhaltsamen Themen, die, bei denen man das Lob nicht sofort, wenn überhaupt, bekommt, weil es kein cleanes politisch korrektes Wohlfühlpaket für alle ist,,,

Vielen Dank für den Kommentar
liebe Grüße
Isegrims
sunny16 Thomas: wow; wahnsinnsgenauer Kommentar, ich schreib später was dazu; die Anregungen aus dem ersten Kommentar habe ich größtenteils umgesetzt, den zweiten muss ich mir durch den Kopf gehen lassen... ausführlich später
Gretha Antwort folgt, danke für die Zeit und das Lob...

 

Hallo sunny16 oder besser: lieber Thomas,

ich hoffe, du hast die Gräuel deiner Englisch-Korrekturen gut überstanden und genießt den Sonnentag. Übrigens dachte ich, dass die schriftlichen Abiprüfungen schon vor einiger Zeit waren. :D Da wird's Zeit ...

Deine sprachlich-stilistischen Anmerkungen sind superwertvoll, vielen Dank. Das meiste davon habe ich umgesetzt. Texte sind wahrscheinlich nie ganz fertig...

Die Tatsache, dass man direkt drin ist, in seinem Kopf, verstärkt meine Bestürzung. Das ist kein Hörensagen. Das ist Info aus erster Hand.
na ja: aus erster Hand ist das naturgemäß nicht, aber wenn es so wirkt, dann habe ich alles erreicht, was ich wollte...

"Erika Fuchs also let Donald Duck sometimes quotations from Schiller say."
who the fuck is Schiller :bonk:

Ich bin mir nicht sicher, was ich von dem Abschnitt halten soll. Stilistisch gibt's da nichts auszusetzen, aber inhaltlich? Der Bursche ist ja ein richtiger Philosoph, ein Denker, ein Klassenkämpfer. Überleg' dir doch noch mal, ob du das wirklich willst, oder ob du ihn nicht doch auf die "persönlichen" Gedanken reduzieren möchtest. Das würde nichts wegnehmen.
den Abschnitt über die Paulskirche habe ich deutlich gekürzt... absolut korrekt, was du anmerkst

Dann kommt die Szene mit der "Schwester", und die gefällt mir gut. Das geht mir fast zu schnell hier. Aus dieser Begegnung könnte man mehr machen. Im Grunde ist er doch ein ganz netter Kerl ... vielleicht einer, mit dem man mal ausgehen möchte und sich unterhalten ... wenn da natürlich nicht ein gravierender Fehler wäre.
klingt verlockend einen längeren Dialog mit der Bettlerin zu machen, geht glaube ich nicht, weil ich sonst die Episode mit Tante und Onkel wegfallen lassen müsste, die folgt, ein overkill an empathie wäre das...

Weiter unten habe ich den Erzählfluss beschleunigt, wie du es vorgeschlagen hast...

ich geh jetzt raus in die Sonne: to sun or not to sun ist sozusagen die Frage :Pfeif:

Deshalb antworte ich Gretha am Abend

my hottest regards
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Isegrims,

nein, leider kann ich mir den Luxus nicht leisten und mich hinaus in die Sonne begeben. Die Korrektur wird mich bis Freitag fesseln, und dann wird prompt das Wetter schlecht.

Ich freue mich, dass du mit meinen edits was anfangen kannst und in den kleinen Pausen, die ich mache, lese ich ein bisschen. Hier kommt Teil 3 meiner Ideen zu "Ein heißer Sommertag":

Erst mal ein wenig Kleinkram. Hier habe ich Probleme ...

Da hören wir den Knall- Eine Scheibe zerbricht
mit dem Bindestrich

Dicht hinter ihn folge ich.
mit dem Akkusativ

Ich folge ich ihnen.
mit der Doppelung des "ich"

Wir begegnen. Menschen, die vom Geschehen weg eilen, anderen, die sich hin drängen.
mit dem unvollständigen Satz / Punkt

Wie von alleine gehen meine Beine, wie in einem Traum.
mit dem ungewollten Reim ... klingt ein wenig wie Pumuckl

Der Römerplatz ist leergefegt.
Ich kenne nur "Römer"

Ich muss sagen, deine Geschichte beschäftigt mich weit übers erste Lesen hinaus. Kann es in so einem Menschen wirklich so aussehen ... dieser Zwiespalt, diese hin und her Gerissenheit? Wahrscheinlich schon. Es ist eben EINE Möglichkeit ... eine andere wohl, dass alles von glühendem Hass aufgefressen wird. Ich überlege schon seit Tagen, ob die 2. Explosion sein muss, aber du wolltest es eben so, also ist das OK. Beim ersten Lesen habe ich sogar gedacht, dass sein Onkel auch einen Bombe gelegt hat, aber das wäre zu viel Coincidence. Dann dachte ich wieder an die "Brüder" aus den ersten Zeilen, die sich ja als Bettler "verkleiden", also auch Böses im Schilde führen könnten.

Am Ende bleibt die Träne, die Tante Muriel auf seine Wange weint.

lg,

Thomas

 

Hallo Gretha

der Text ist einer der ersten, den ich hier veröffentlicht habe und auch einer der ersten, den ich mit einem gewissen Anspruch geschrieben habe. Dem Forum hier habe ich es zu verdanken, dass ich den Mut finde und ein wenig auf das Handwerkszeug vertraue, das ich hier (durch Kritiker und Kritiken) erworben habe, solch einen Text erneut anzugehen und - wie ich hoffe . zu verbessern.

Deshalb freue ich mich wirklich sehr über deine Worte:

Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass Du den Text draußen auf der Straße geschrieben hast. Handschriftlich, wie Du sagst. Es sind sehr gute Beobachtungen drin, die so meistens eben nur beim Beobachten entstehen.
Gut gemacht.
Ist übrigens wirklich so: ich saß an einem sonnigen Tag auf der Zeil, habe die Leute beobachtet und wir in einem winzigen Heftchen ein paar Notizen gemacht. Zu Hause habe ich die Geschichte handschriftlich in eine Kladde geschrieben und einige Tage später eingetippt. Für mich ist diese Vorgehensweise gut, ich kann nicht rauschhaft schreiben und bin auch nicht immer gleich konzentriert. Überarbeitungen, Streichungen folgen, das kennen bestimmt die meisten. Texte werden gefühlt nie "fertig".

Die Erzählstimme, daran habe ich am meisten gearbeitet (und kostet angesichts des Themas auch Überwindung). Wenn die gelungen ist, bin ich sehr froh.

Was mir auch sehr gut gefällt, ist die Sprache, in der er denkt. Das ist sehr arabisch. Ich schreibe gerade auch eine Geschichte in dem Milieu und habe mir etliche Dialoge angehört, um ein Gefühl für die arabische Sprache und Denkweise zu bekommen. Das ist also ziemlich gut gemacht:
das ist ein spezielles Milieu, muss man sich einhören, einfühlen...

Aus irgendeinem Grund ist mir Asik ziemlich sympathisch. Und das mag ich an dem Text. Ich bin generell sehr interessiert daran, die Menschen, die eine Gräueltat vollbringen kennenzulernen. Dass er nicht als brutaler, skrupelloser Fanatiker dargestellt wurde, gefällt mir.
Ich glaube, dass das der Kern ist. Wir machen es uns einfach, zu einfach, wenn wir diese Leute als Verrückte sehen. Die Dinge differenziert betrachten ohne dadurch die Taten zu rechtfertigen. Schmaler Grat, ich weiß...

Hat mich gefreut Gretha
Viel Erfolg bei deiner Geschichte, bin gespannt darauf
liebe Grüße
Isegrims

 

Hallo sunny16, lieber Thomas

zum dritten Teil deiner Anmerkungen...
die Flusen habe ich beseitigt, vielen Dank...

Der Römerplatz ist leergefegt.
Ich kenne nur "Römer"
der Römerplatz ist halt der zentrale Platz in Frankfurt, der Römer das Rathaus. Vom Balkon herab haben die Kaiser nach ihrer Krönung gegrüßt... ;)

Ich muss sagen, deine Geschichte beschäftigt mich weit übers erste Lesen hinaus.
wenn ich das mit dem Text bewirkt habe, ist einiges richtig gelaufen...

Kann es in so einem Menschen wirklich so aussehen ... dieser Zwiespalt, diese hin und her Gerissenheit? Wahrscheinlich schon. Es ist eben EINE Möglichkeit ... eine andere wohl, dass alles von glühendem Hass aufgefressen wird.
wir machen es zu einfach, wenn wir leugnen, dass es sich hier um Menschen handelt, die auch im Hass denken und fühlen....

Ich überlege schon seit Tagen, ob die 2. Explosion sein muss, aber du wolltest es eben so, also ist das OK.
die zweite Bombe ist eine Finte, da kannst du als Leser das machen, was deine Fantasie hergibt. Ebensogut kann ja ein Tank in der Halle explodiert sein...

Am Ende bleibt die Träne, die Tante Muriel auf seine Wange weint.
die Träne ist etwas wie Trost...

viele Grüße und einiges an Energie für deine aufreibende Tätigkeit :) c'mon :D
Isegrims

 

Hallo,

erstmal ist es natürlich ein sehr aktuelles und ernsthaftes Thema was hier erzählt wird.

Loben möchte ich dich für die sehr spannende Atmosphäre die du aufbaust. Sehr bild reich dargestellt wie der Hauptcharakter den Sommertag in Frankfurt verbracht hat, dies gefiel mir auch sehr.

Etwas unglaubwürdig finde ich die Tatsache, dass er vor seinem Anschlagsplan noch einer Bettlerin über 50 € gegeben hat.

Ansonsten wirklich sehr gut geschrieben, diese Zerrissenheit des jungen Migranten in der westlichen Welt mit all seinen Verlockungen nicht klar zu kommen und es allen auf negativer Art und Weise zeigen zu wollen.

 

Hallo Rapha88

vielen Dank für deinen Kommentar, gerade weil es eine Geschichte ist, die versucht, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, die allzu oft politisch korrekt und allein von der Oberfläche her betrachtet werden.

diese Zerrissenheit des jungen Migranten in der westlichen Welt mit all seinen Verlockungen nicht klar zu kommen und es allen auf negativer Art und Weise zeigen zu wollen.
diese Zerrissenheit, genau das, wollte ich zeigen, freut mich, dass das rüberkommt...

Etwas unglaubwürdig finde ich die Tatsache, dass er vor seinem Anschlagsplan noch einer Bettlerin über 50 € gegeben hat.
mm. vielleicht, vielleicht nicht. Ich wollte zeigen, dass dieser Mensch keine Fratze ist, kein Zerrbild. über Empathie verfügt...

sehr spannende Atmosphäre die du aufbaust. Sehr bild reich dargestellt
:Pfeif:

viele Grüße
Isegrims

 

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