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Martin

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09.06.2015
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Martin

Ich trete hinaus auf den Balkon und schaue hinunter auf die Straße. Es ist eine stille Straße mit alten Häusern. Auf den Fensterbänken stehen Blumen in bunten Töpfen, die Fensterläden sind weiß gestrichen und in den Vorgärten beugen sich hohe Bäume mit dichten Kronen beschützend über die Dächer. Vor zwei Tagen bin ich hier eingezogen. Noch stapeln sich Kisten und Kartons in allen Zimmern, es riecht nach frischer Farbe, fremde Geräusche erschrecken mich, alles ist neu und will entdeckt werden. Ich nehme meinen Einkaufskorb und mache mich auf den Weg zum Bäcker. Ich genieße die Wärme, atme den Duft der Blumen, der aus den Vorgärten strömt. Der Korb an meinem Arm bewegt sich rhythmisch im Takt, meine Augen wandern im Kreis. Dann sehe ich den Jungen am geöffneten Fenster eines Hauses stehen.
Mit großen Augen schaut er auf mich herab. Helle blonde Haare kräuseln sich auf seinem Kopf. Er sieht zerbrechlich aus, blass und schmal. Ich denke, er ist noch keine acht Jahre alt. Müsste er nicht um diese Zeit in der Schule sein? Vielleicht ist der Junge krank? Ich lächle hinauf zu dem Fenster und winke. Der Junge rührt sich nicht. Stumm bleiben seine Blicke auf mich gerichtet. Ich winke noch einmal, dann setze ich meinen Weg fort.

Als ich kurze Zeit später, mit den Brötchen im Korb, zu meiner Wohnung zurück laufe, höre ich schon von weitem Flötenspiel. Töne, zart und leise, wie das Zirpen von Meisen, dringen an mein Ohr. Ich gehe weiter und da sehe ich, es ist der Junge, der vorhin am Fenster stand. Jetzt hält er eine Flöte in der Hand und entlockt dem Instrument eine Melodie voller Sehnsucht. Ich bleibe am Gartenzaun stehen, schaue hoch und nicke. Schön spielst du, will ich sagen, doch der Junge scheint mich nicht zu bemerken. Seine Augen blicken weit in die Ferne, folgen den Tönen in die Unendlichkeit.

Den ganzen Tag über muss ich an die Begegnung mit dem Jungen denken. Ich hänge Vorhänge auf, ordne Bücher in Regale, suche Plätze für Fotos, für Andenken und all den Krimskrams, der eine Wohnung erst heimelig macht. Am späten Nachmittag falle ich erschöpft in meinen Lieblingssessel, strecke die Beine weit von mir und nicke ein. Ich träume von dem Jungen mit der Flöte und als ich aufwache, fühle ich mich beunruhigt. Was kümmerst du dich um ein fremdes Kind, versuche ich mich abzulenken. Doch es will mir nicht gelingen. Um acht Uhr schlüpfe ich in meine Schuhe und verlasse das Haus.

Die Sonne steht tief. In den Gärten sitzen Menschen um Tische herum, sie trinken Bier und Wasser, sie plaudern und lachen. Im Garten des Hauses, in dem der Junge wohnt, bewegt sich eine Gestalt. Als ich näher komme, sehe ich eine Frau die Blumenbeete auf und abgehen, sie trägt eine Gießkanne in der Hand. Als sie sich mir zuwendet, rufe ich „Guten Abend!“
Die Frau horcht auf. Sie ist nicht mehr ganz jung, sie ist klein, hat ein schmales, ernstes Gesicht, das glatte, helle Haar ist zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden.
„Hallo!“ rufe ich noch einmal. „Schöne Blumen haben Sie in Ihrem Garten!“
Jetzt kommt sie an den Zaun. „Hallo!“, ihre Stimme klingt weich und leise. „Danke! Sie sind wohl neu hier?“
„Vor zwei Tagen erst, bin ich hier eingezogen. Dort hinten, in dem weißen Haus, da wohne ich.“
Sie wischt sich die Hand an den Jeans ab und streckt sie mir durch die Gitterstäbe entgegen.
„ Willkommen! Ich hoffe, Sie fühlen sich bald zuhause!“
Ich bedanke mich, rede belangloses Zeug und verabschiede mich. Auf weiten Umwegen finde ich zu meiner Wohnung zurück. Der Gedanke an den Jungen beschäftigt mich die halbe Nacht. Gegen Morgen hat es zu regnen angefangen. Mit Regenschirm bewaffnet starte ich den Gang zum Bäcker. Vor dem Haus, in dem der Junge wohnt, bleibe ich stehen. Heute sind die Fenster alle geschlossen. Doch dann entdecke ich ihn hinter der Scheibe. Er bewegt sich nicht. Ich winke unter meinem Schirm hervor. Der Junge gibt kein Zeichen. Auf dem Heimweg sehe ich ihn immer noch an der selben Stelle stehen, versunken in seinen Träumen.

Es ist Sommer geworden. Die Fenster sind weit geöffnet. Wieder stehe ich vor dem Gartenzaun und lausche. Das Flötenspiel des Jungen perlt durch die schwirrende Luft. Eine ältere Frau gesellt sich zu mir. „Der hat einen Hau“, sagt sie und schüttelt den Kopf.
„Wie bitte?“, frage ich entsetzt.
„Na, der ist deppert, wissen Sie das nicht?“
„Nein, ich weiß das nicht. Ich höre nur das Flötenspiel. Und das gefällt mir.“
„Das ist Schicksal, sage ich Ihnen. Alle tot, nach dem Autounfall. Der Vater, der Bruder und der Martin ist deppert.“
„Sie meinen, der Junge hatte einen Autounfall?“
„Ja sicher. Künstliches Koma halt. Jetzt ist er stumm- und blöd.“
„Behindert, meinen Sie sicher.“
„Ja, ja, meinetwegen behindert. Bis dann!“ Die Frau schlurft davon.

Martin heißt der Junge. Wenigstens hat er jetzt einen Namen. Und Martin spielt Flöte, als hätte die Alte nichts gesagt. Mir ist schlecht. Zuhause koche ich Tee und lege eine CD auf. Jenseits von Afrika. Das tröstet.

Der Sommer ist lang und heiß. Auf meinem Fensterbrett stehen bunte Sommersträuße, meine Schreibarbeit geht gut voran, ich habe mich eingelebt. Immer wieder besuche ich das Haus von Martin, schicke ein Lächeln zu dem Jungen am Fenster hoch, ich winke ihm zu und lausche seinem Flötenspiel. Manchmal klingen die Weisen wie ein Suchen und Finden. Wie ein Schrei nach Liebe. Am Abend sehe ich die Mutter, wenn sie die Pflanzen im Garten wässert. Die Kanne ist viel zu schwer für sie, gerne würde ich helfen, doch mir fehlt der Mut.

Die Tage werden kürzer, der Herbst hat Einzug gehalten. Martin ist verschwunden. Mehrere Tage lang suche ich vergebens die Fensterfront ab. Ich vermisse den Jungen am Fenster, ich vermisse sein Flötenspiel. Aus dem geöffneten Fenster dringen jetzt laute Stimmen, die eindeutig von einem Fernseher ausgehen. Ich entdecke eine fremde Person, die sich im Zimmer bewegt. Der Mann ist groß und stark. Ich sehe ihn auch im Garten. Er trägt die schwere Gießkanne federleicht. Er legt den Arm um Martins Mutter, zieht sie an sich. Martins Mutter lacht. Sie lacht so unbekümmert. Martin? Wo ist Martin?

Im Supermarkt treffe ich die alte Frau wieder. Sie angelt Weihnachtgebäck aus einer Pyramide und erkennt mich sofort. „Hallo“, sagt sie und schaut mich herausfordernd an.
„Hallo“, erwidere ich.
„Die Werner hat sich von ihrem Sohn getrennt, wissen Sie das schon?“
„Getrennt? Von Martin?“, frage ich etwas irritiert.
„Ins Heim halt“, antwortet die Frau und nickt dabei. „Der Mann halt. Man kennt das.“
Ich kombiniere schnell. Martin kam ins Heim, weil der neue Mann es so wollte.
„Wo ist denn der Martin jetzt?
„In Sankt Christopherus. Ist ja nicht weit.“
„Vielen Dank, Frau ... wie war doch Ihr Name?“
„Konrad, Elisabeth Konrad. Wissen Sie, mein Mann ...“
„Sie entschuldigen, Frau Konrad, ich bin in Eile.“ Mit Riesenschritten bewege ich mich dem Ausgang zu.

Als die ersten Schneeflocken fallen, parke ich mein Auto vor dem Eingang zu Sankt Christopherus. Gleich hinter dem offenen Tor führt ein schmaler Weg zu den Wohnhäusern. Rund, rosa, mit tief gezogenen Dächern, auf denen weiße Schneehauben glitzern, sind sie um einen Platz herum gruppiert. Ein Pferd kommt an den Zaun, ich streichle seine Mähne. Im Stall entdecke ich Kühe und einen jungen Mann in hohen Stiefeln, der mir freundlich zunickt. „Wollen Sie die Ziegen sehen?“, fragt er etwas undeutlich. Ich verneine dankend und lasse mir den Weg zum Büro zeigen.
Eine junge Frau führt mich zu Martin. Er sitzt an einem langen Tisch zwischen vielen jungen Leuten und strickt. „Das ist die Wollwerkstatt“, erklärt Frau Müller. „Martin, du hast Besuch!“, sagt sie. Martin lacht. Er gibt unverständliche Laute von sich, zappelt herum und freut sich.
„Hallo Martin“, sage ich. Ich bin die Frau, die dir beim Flöte spielen zugehört hat. Erkennst du mich wieder?“ Martins Augen strahlen. „Martin spielt in unserem Chor“, sagt die Betreuerin.
Ich überreiche mein Geschenk. Eine große Packung Schokolade. Jetzt leuchten auch die Augen der anderen.

Auf dem Weg zurück, zu meinem Auto, wird der Schneefall dichter. Ich ziehe den Kragen hoch und beschleunige meine Schritte. Noch einmal drehe ich mich um. Das Dorf liegt friedlich und ruhig in der weißen Pracht.

 

Hallo AmelieS,

deine Geschichte hat mich berührt. Was ich allerdings nicht so verstehen kann, ist das Verhalten der Mutter, aber vielleicht ist das ja wirklich manchmal so, dass mit einem neuen Lebensabschnitt - und mit dem neuen Mann an ihrer Seite beginnt ein solcher - aufgeräumt wird und alles, was nicht in die neue Zeit passt, wird entsorgt. Das klingt vielleicht jetzt brutal, ist es aber wahrscheinlich auch. Wenn man nicht selber in einer solchen Situation ist, kann man das nicht objektiv beurteilen.
Ich vermisse aber heute Morgen einen Satz, der mir gestern Nacht noch gefallen hat, und zwar war das der Gedanke deiner Prot., wo sie denkt, was geht mich ein fremdes Kind an? Ist es so falsch, solche Gedanken zu haben? Nein. Viel wichtiger ist doch aber dann die Antwort zu sich selbst, zu sagen: Ja, mich geht das Kind etwas an. Und das hat sie ja dann auch gemacht. Das fand ich so menschlich.

Auf den Fensterbänken stehen Blumen in bunten Töpfen, die Fensterläden sind weiß gestrichen und in den Vorgärten beugen sich hohe Bäume beschützend über die Dächer.

Mir will kein richtiges Bild gelingen, wie sich Bäume schützend über Dächer beugen. Ich denke, sie breiten ihre Äste beschützend aus, wäre treffender. Der Baum selber steht ja gerade. Zumindest sollte er das ;).

Noch stapeln sich Kisten und Kartons in allen Zimmern, es riecht nach frischer Farbe, fremde Geräusche erschrecken mich, alles ist neu und will entdeckt werden.

Das finde ich sehr schön :).

Ich lächle hinauf zu dem Fenster, im ersten Stock und winke. Der Junge rührt sich nicht.

Ich weiß nicht. Wenn du den ersten Stock weglässt, schadet das der Geschichte nicht. Ich hatte das Gefühl, dass der Hinweis, das Fenster befindet sich im ersten Stock, stört. Es spielt ja auch nie wieder eine Rolle.

„Vor zwei Tagen erst[KEIN KOMMA] bin ich hier eingezogen.

„ Willkommen! Ich hoffe, Sie fühlen sich bald Zuhause!

Ich würde hier zuhause klein schreiben.

Schönen Gruß
khnebel

 

"Ich träume von dem Jungen mit der Flöte und als ich aufwache, fühle ich mich beunruhigt. Was kümmerst du dich um ein fremdes Kind, versuche ich mich abzulenken. Doch es will mir nicht gelingen."

Hallo khnebel, der Satz, den du vermisst ist immer noch da. Ich habe nichts verändert. Allerdings die Bäume haben jetzt dichte Kronen. Und auch sonst habe ich deine Verbesserungsvorschläge gerne aufgenommen.

Ein sensibles Thema, mit dem ich mich intensiv auseinander gesetzt habe. Und es gibt diese "neuen" Männer, die mit einem behinderten Kind nichts anfangen können und wollen. Es stört, eine Lösung muss gefunden werden.

Ich wollte zeigen, dass ein behindertes Kind in einem gut geführten Heim besser aufgehoben ist, als in einer Familie, in der es vereinsamt. Meine Geschichte nimmt, bei aller Tragik, ein glückliches Ende.
Die Mutter hat einen Mann gefunden, der die Gießkanne schleppt, und sie kann wieder lachen. Martin hat seinen Platz in einer Wohngruppe, in einem Heim, gefunden. Hier blüht er auf, hier erfährt er Anerkennung und Zuwendung.

Ich freue mich, khnebel, dass dich meine Geschichte erreicht hat und danke dir für alle Verbesserungsvorschläge.

Einen schönen Sonntag!
Amelie

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Amelie,

ich habe nun schon einige deiner Geschichte angelesen, das ist die erste, die ich fertig gelesen habe. Und ich hatte mti dieser ein ähnliches Problem mit denen, die ich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr weiterlesen wollte.

Dein Stil ist sehr lehbuchmäßig - das ist als objektive Feststellung gemeint. Es gibt eben nichts, was markant wäre (nichts, wo man merkt "Okay, das ist Amelie!"), sondern einfach, sauber, nett.
Man merkt, du gibst dir Mühe und deine Mühe zahlt sich aus. "Nett" ist eben einfach nicht mein Geschmack.
Exemplarisch:

Es ist eine stille Straße mit alten Häusern. Auf den Fensterbänken stehen Blumen in bunten Töpfen, die Fensterläden sind weiß gestrichen und in den Vorgärten beugen sich hohe Bäume beschützend über die Dächer.

Nette Beschreibung, eigentlich muss sie nicht sein - trägt nichts Essentielles zur Geschichte bei - aber lässt eine gewisse Atmosphäre aufkommen, mit der man sich anfreunden kann.

Was mich mehr stört, sind deine Handlungsverläufe und Figuren. Deine Figuren wirken sehr pappkameradig und distanziert, man wird mit keinem warm. Du willst den Leser auf Distanz halten.

Von deiner Prot. erfährt man nichts - gut, sie ist umgezogen und schreibt. Und von den anderen Personen eigentlich auch nichts. Bon Martins Wesen im Prinzip nicht (sie kennt ihn nur vom Fenster, er spielt eben Flöte und benimmt sich beim ersten Zusammentreffen gegen Ende, falls man sagen kann, dass er überhaupt Charakter zeigt, sehr klischeehaft.)
Martins Mutter wird konsequent abgestempelt - bzw. ihr Lebensgefährte. Man weiß ja nicht, wer jetzt wen für Martin das Heim beschlossen hat. Oder warum.

Das ist eine Situation mit großem Konfliktpotential, aber das schöpfst du in keiner Weise aus!
Die nette Tante, die den Jungen bis jetzt vom Fenster aus gestalkt hat, bringt ihm Schokolade. Wooow! Sie beschäftigt sich im Prinzip nur marginal mit ihm, sie reißt sich echt kein Bein aus - aber genau so soll das dargestellt werden, hat man als Leser den Eindruck am Ende. Die nette Tante mit der Schokolade als Kontrastprogramm zur Nachbarin, die sich das Maul zerreißt und der Mutter und dem "Stiefvater in spe", sie ihn einfach abschieben. Die Prot. hat diesbezüglich auch keinen sympathischen Eindruck auf mich gemacht.

Kommen wir zur Ebene Realitätsnähe/Glaubwürdigkeit:
Erstmal konnte ich es nicht nachvollziehen, warum der Junge ihr nach diesem kurzen Begegnen durchs Fenster nicht mehr aus dem Kopf geht. Sie sieht ihn einmal - er hätte ja wirklich nur krank sein können und deshalb nicht in der Schule etc. - und bekommt ihn dann nicht mehr aus dem Kopf? War für mich nicht nachvollziehbar.

Unrealistisch ist auch, dass man einen körperlich benachteiligten Jungen einfach so den ganzen Tag über alleine zu Hause lassen kann und arbeiten gehen. Das ist verantwortungsloser, als sein Kind in ein Heim zu gehen. Im Gegenteil: Dass er in ein Heim mit entsprechend intensiver Betreuung kommt, war das erste Vernünftige, was diese Mutter getan hat.
In der Zeit, in der er alleine in der Wohnung sitzt, kann er sich nichts zu essen machen, brennt das Haus ab, geht auf die Straße, wird überfahren, entführt ... Dass du ihn da Tag für Tag mit seiner Flöte vor dem Fenster sitzen lässt klappt nicht.

Dann die Belastung, die es darstellt, sich als Mutter in so einer Situation zu befinden. Dieser Tragödie bzw. diesem Konflikt trägst du in deiner Geschichte absolut keine Rechnung. Die Mutter (und der Freund gleich mit) ist böse, weil sie ihr Kind abschiebt.
Es wäre eine schönere "Lösung" gewesen, das darzustellen und zu zeigen, wie die Nachbarin der Mutter dann hilft (tagsüber auf Martin aufpasst, dass die Mutter arbeiten gehen kann zum Beispiel) und auch darzustellen, wie anstrengend es mit so einem Kind sein kann. Die lachen nämlich nicht nur die ganze Zeit und spielen nett ein Musikinstrument, sondern haben auch ihre Launen und brauchen spezielle Förderung.

Die Stelle fand ich lustig - auch wenn du das warscheinlich nicht beabsichtigt hattest:

„Ja sicher. Künstliches Koma halt. Jetzt ist er stumm- und blöd.“
„Behindert, meinen Sie sicher.“

Sowohl "blöd" als auch "behindert" sind im Prinzip politisch nicht korrekt.

Dann das nächste, woran ich mich massiv gestört habe: Wie gesagt ist die Entscheidung, sein Kind in eine Heimbetreuung zu geben, nicht so moralisch verwerflich, wie diese Geschichte hier andeuten will (zumindest war er mein Eindruck, dass du es verurteilst bzw. nicht reflektierst).
Aber dann darf da eine fremde Person einfach so reinspazieren und dem Kind Schokolade geben? Das geht nicht. Wenn sie keine Verwandte ist oder eine Bekannte, die von der Mutter die ausdrückliche Erlaubnis hat, ihr Kind zu sehen, lässt sie da niemand zu Martin.

Ich verstehe, wie khnebel auch schon meinte, dass du zu einer gewissen Art an Zivilcourage aufrufen wolltest. Dass man hinschaut, sich kümmert ... und das ist auch super und bewundernswert.
Aber wie du diese Botschaft "gelöst" hast, fand ich naiv (sie hat ja am Ende auch nichts für Martin verändert) und einseitig. Das wird der Realität, die eine solche Familiensituation mit sich bringt, in keinster Weise gerecht.
Die Mutter wird abgeurteilt, ohne dass die Prot. sich da auch nur einen Gedanken um sie macht (oder sie wenigstens mal auf ihr Kind anspricht, das wäre doch mutiger gewesen) und trotzdem fühlt sie sich wegen ihrer Bewunderung für das Flötenspiel und weil sie eben keine so dämliche Nuss ist wie die Nachbarin gleich als höchste moralische Instanz?

Ich sehe deine Absicht, sie ist lobenswert, aber ich denke, da musst du dir selbst noch ein paar Gedanken dazu machen. So überzeugt mich das einfach kein Stück.

Viele Grüße
Tell

 

Ich wollte zeigen, dass ein behindertes Kind in einem gut geführten Heim besser aufgehoben ist, als in einer Familie, in der es vereinsamt. Meine Geschichte nimmt, bei aller Tragik, ein glückliches Ende.
Die Mutter hat einen Mann gefunden, der die Gießkanne schleppt, und sie kann wieder lachen. Martin hat seinen Platz in einer Wohngruppe, in einem Heim, gefunden. Hier blüht er auf, hier erfährt er Anerkennung und Zuwendung.

Pardon, Amelie, das hatte ich erst jetzt gelesen.

Hm ... Ich hab nochmal nachgedacht, warum das bei mir einfach nicht so ankam bzw. ich dich - das gebe ich frank und frei zu - auch so missverstanden habe. ;). Wahrscheinlich wirklich, weil deine Figuren alle so "fern" sind. Dei Konflikte werden nicht angesprochen und deine Prot. trägt ja auch aktiv nichts zur Konfliktlösung bei. Ich hätte es - wie oben bereits erwähnt - spannender gefunden, wenn sie sich eingebracht und man Martin und seine Mutter kennenglernt hätte. Oder wenn du aus einer Perspektive berichtet hättest, die da näher dran ist.
Sonst ist es nur so eine Erzählung aus: "Ach übrigens, in meiner Nachbarschaft ist das und das mal passiert ..."

 
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Hallo Tell, du hast dich mit meiner Geschichte auseinander gesetzt, wie sonst niemand. Dafür möchte ich dir sehr herzlich danken!

Wie immer, habe ich eine Kurzgeschichte geschrieben. Eine Kurzgeschichte ist keine Erzählung.

Zu deiner Kritik: Dass der Junge den ganzen Tag alleine war, geht natürlich nicht. Hier muss ich eine Änderung vornehmen:

"Am Abend sehe ich die Mutter, wenn sie die Pflanzen im Garten wässert. Müde von der Arbeit schleppt sie die schwere Kanne. Ich würde gerne helfen, doch mir fehlt der Mut."

Vorurteile:

Leute schwatzen gerne. So wie die alte Frau das mit dem neuen Mann erzählt hat, lag der Verdacht nahe, dass er der Grund für die Veränderung war. Zu keiner Zeit nehme ich Stellung zu dieser Anklage. Später stehe ich vor dem Haus und sehe den neuen Mann. Und gebe dem Leser Raum für eigene Gedanken.

Nachbarschaftshilfe:

So man nicht selbst betroffen ist, kann man sich schwer vorstellen, mit einem behinderten Kind zu kommunizieren. Es gibt Berührungsängste. Die Leute sind willig doch unfähig über ihren eigenen Schatten zu springen. Ich wollte nicht das Bild einer Heldin zeichnen, nur eine Frau mit Mitgefühl.

Und sie hat den Jungen besucht. Liebe Tell, an dieser Stelle irrst du gewaltig. Es handelt sich bei diesem Heim nicht um eine geschlossene Einrichtung. Begleite meine Prot., wie sie durch die Pforte tritt. Es ist eine großzügige Dorfgemeinschaft und jeder darf hier spazieren gehen und Besuch machen. Das ist kein Irrenhaus mit vergitterten Fenstern. Ich war selbst schon dort, es ist eine andere Welt mit anderen Wertvorstellungen. Und es ist eine fröhliche Welt, ohne Konsumdenken, ohne den Anspruch, vollkommen zu sein.

"Sowohl "blöd" als auch "behindert" sind im Prinzip politisch nicht korrekt."

Das musst du mir bitte erklären. "blöd" sagt die alte Frau, und meine Prot. verbessert sie: "....behindert" Was ist da falsch?

Eine andere Perspektive? Ich schreibe in der ersten Person. Wie könnte man näher dran sein?

Nochmals Danke für dein Interesse und dass du die Geschichte zu Ende gelesen hast, finde ich wunderbar.

Liebe Grüße!
Amelie

 

Hallo Ammelie,

Hallo khnebel, der Satz, den du vermisst ist immer noch da. Ich habe nichts verändert.

dann schreibe es bitte der Hitze zu ;)

khnebel

 

Liebe Amelie,

kurz zum Gespräch der beiden Frauen. Die eine Nachbarin nennt den Jungen "blöd" - geht natürlich gar nicht, da sind wir uns einig. Ich hatte den Eindruck, dir Protagonistin will ihr klarmachen, wie man da einfach anständig sagt. "Behindert" ist tatsächlich in zwischen schon wieder so negativ konotiert ("Ey, du das ist doch alles voll behindert!"), dass es euphemistisch "körperlich und geistig eingeschrängt" oder noch schöner "entwicklungsgestört" heißt.
War nur eine witzige Stelle - die eine ganh lapidar, die andere will dann humanistischer/aufgeklärter sein und scheitert auch unwissentlich. Dass das keinesfalls in Richtung Diskirminierung gab, war mir klar. Wie gesagt, fand's unfreiwillig komisch.

Zu:

Zu keiner Zeit nehme ich Stellung zu dieser Anklage. Später stehe ich vor dem Haus und sehe den neuen Mann. Und gebe dem Leser Raum für eigene Gedanken.

und:

Das ist kein Irrenhaus mit vergitterten Fenstern. Ich war selbst schon dort, es ist eine andere Welt mit anderen Wertvorstellungen. Und es ist eine fröhliche Welt, ohne Konsumdenken, ohne den Anspruch, vollkommen zu sein.

Ich habe mich diesbezüglich (siehe meinen zweiten Kommentar) ja schon wieder selbst verbessert. Ich habe auch zu keinem Zeitpunkt behauptet, es handle sich um eine geschlossene Unterbringung, sondern dass das Heim als Option eine bessere Alternative darstellt als zu Hause zu sein.
Das mit dem "Raum zum Denken" war für mich persönlich nun eben das Problem. Du erzählst die Geschichte sehr objektiv herunter, auch in Bezug auf:

Eine andere Perspektive? Ich schreibe in der ersten Person. Wie könnte man näher dran sein?

Deine Ich-Erzählerin ist ja an sich schon weit weg.
Es ist praktisch Martins Geschichte und von dem Jungen ist die Protagonistin ja auch meilenweit entfernt. Es gibt keine wirklichen Berührungspunkte - sie hat ihre Berührungsängste und die behält sie die ganze Geschichte über bei. Das wollte ich damit sagen: Dein Aufruf, einfach mal was zu machen in vergleichbaren Situationen - dem wird die Geschichte auch nicht gerecht.

So man nicht selbst betroffen ist, kann man sich schwer vorstellen, mit einem behinderten Kind zu kommunizieren. Es gibt Berührungsängste. Die Leute sind willig doch unfähig über ihren eigenen Schatten zu springen. Ich wollte nicht das Bild einer Heldin zeichnen, nur eine Frau mit Mitgefühl.

Das Mitgefühl war für meine Begriffe auch sehr oberflächlich und für sie doch recht praktisch. Sie steht moralisch vielleicht über der Nachbarin, die abschätzig über Martin redet, aber was hat irgendjemand davon? Nicht viel (ne Tafel Schokolade, wenn man es auf deine Geschichte runterrechnet).
Das macht mir die Protagonistin, wenn ich ehrlich bin, sogar eher unsympathisch.

Da ist kein Konflikt, kein Einblick. Wenn ich mich einmal salopp ausdrücken darf: das ist öde.
Deshalb war ich auch dazu verleitet, es so anklagend zu sehen.

Am Abend sehe ich die Mutter, wenn sie die Pflanzen im Garten wässert. Müde von der Arbeit schleppt sie die schwere Kanne. Ich würde gerne helfen, doch mir fehlt der Mut."

Solchen wesentlichen Dingen, bei denen du mit Selbstreflektion anfängst (siehe das, was ich fett markiert habe) nehmen in deiner Geschichte sehr wenig Raum ein. Da verwendest du mehr Platz drauf, die Wohnungseinrichtung und den Hinterhof zu beschreiben.

 

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