Was ist neu

Serie Der dunkle Spiegel V

Seniors
Beitritt
08.07.2012
Beiträge
897
Zuletzt bearbeitet:

Der dunkle Spiegel V

Schweigen, Finsternis und Nacht

Juan Fernando Riperdá saß mit seiner Frau Rosa und seiner Tochter Mercè beim Abendessen, als sich ein maskierter Mann über das Edelstahlgeländer der Terrasse schwang und einen Schuss abfeuerte. Die Kugel traf den Leibwächter der Familie in die Stirn. Er sank mit einer halben Drehung zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Der Schreckensschrei der siebzehnjährigen Mercè ließ Riperdá zusammenfahren. Mit bleichem Gesicht starrte er auf den Fremden, der eine schallgedämpfte Glock auf ihn richtete und zu überlegen schien, ob er den Comisario auf der Stelle töten sollte. Riperdá spürte, wie der Mann ihn taxierte. Er sah das Glitzern hinter den Augenlöchern der Balaclava und wusste, dass die letzten Minuten seines Lebens angebrochen waren.
Ohne den Blick von dem Angreifer abzuwenden, hob Riperdá die Hände und sagte: »Bitte ... Schießen Sie nicht. Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen.«
Der Maskierte löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel und warf sie Riperdá zu. Mit einer Kinnbewegung hin zum Terrassengeländer sagte er: »Fessle deine Weiber.«
Die drei Worte genügten dem Comisario, um einen Akzent zu identifizieren. »Polnisch oder Tschechisch«, schoss es ihm durch den Sinn, und er überlegte fieberhaft, mit wem er es zu tun haben mochte.
Jeder, der hier an der Costa del Sol für die GRECO arbeitete, wusste, dass er ein Risiko einging. Das galt auch für einen hochrangigen Beamten wie Riperdá. Die Sondereinheit gegen die organisierte Kriminalität schob überall in Andalusien Überstunden, denn Camorra, russische Mafia und Gangster aus Ex-Jugoslawien kämpften an der gesamten Sonnenküste, besonders aber in Marbella und Fuengirola um die Vorherrschaft.
Nachdem er seine Frau und seine Tochter an den Handlauf des Geländers gefesselt hatte, wandte er sich dem Maskierten wieder zu und sagte: »Bitte tun Sie meiner Familie nichts. Ich gebe Ihnen alles, was ...«
Der Hieb eines Teleskopschlagstocks traf ihn über der linken Augenbraue. Rosa und Mercè schrien auf. Riperdá beobachtete, wie sich die Bodenfliesen der Terrasse unter ihm drehten. In einem Zustand sonderbarer Klarheit, bemerkte er das rote Sprühen, das von ihm selbst auszugehen schien, und er registrierte den Aufprall seines Körpers, als er auf den Boden schlug.
Irgendwo über ihm holte der maskierte Mann erneut zum Schlag aus, unendlich fern, unendlich langsam. Riperdá hörte die Möwen vom nahen Strand, und ihm fiel auf, dass sich in den Kupferton des Abendlichts ein violetter Schimmer gemischt hatte. Etwas drängte ihn, sein Gesicht zu schützen, doch seine Arme gehorchten nicht mehr. Er spürte, wie sich seine Hände verkrampften, und dann fuhr der Schlagstock krachend auf ihn nieder.
Jetzt kam auch der Schmerz. Er stülpte sich über ihn, leckte brennend an der Schläfe, fraß sich zwischen die Wirbel seines Rückgrats und erfasste schließlich seinen gesamten zitternden Leib. Durch blutrote Nebelschleier beugte sich die Gestalt des Maskierten herab. Riperdá vernahm das Wimmern von Rosa und Mercè und dann eine Stimme ganz nahe an seinem Ohr: »O Schmerz. Die Zeit trinkt unsren Lebenssaft. Der dunkle Feind, der uns am Herzen zehrt. Und sich von unsrem Blute stärkt und mehrt.«
Die Stiefel des Fremden knarrten, als er sich von Riperdá entfernte.
»Bitte ... Verschone sie«, flüsterte der Comisario.


Lenka schloss die Augen und atmete die kühle Luft ein. Es roch nach Herbst. Sie hörte Sundbergs Schritte lange bevor er sich zu ihr auf die Parkbank setzte.
»Bitte nehmen Sie den Akku aus Ihrem Telefon«, sagte er statt einer Begrüßung.
Lenka öffnete die Augen, drehte den Kopf und betrachtete Sundberg. Er sah müde aus. Seine Haut wirkte noch grauer als sonst.
»Was ist mit Ihrem Handy?«, fragte sie, während sie die Rückseite ihres Smartphones aufklappte.
»Keins dabei.«
Lenka schloss das Telefon und ließ den Akku in ihre Manteltasche gleiten.
»Okay, ich habe nicht viel Zeit«, sagte Sundberg.
Es war einer der Momente, in denen Lenka sich fragte, was in ihrem Boss vor sich gehen mochte. Der Mann schien der geborene Geheimdienstler zu sein. Wenn er wollte, konnte er offen und charmant wirken. Doch diese Mühe machte er sich nur selten.
»Wir haben den Killer gefunden, der für den Tod Ihres Vaters verantwortlich ist«, sagte er.
Die Nachricht traf Lenka wie ein Schlag.
»Ich hatte Ihnen bereits gesagt, dass es kein Unfall war«, fuhr Sundberg fort. »Jetzt kennen wir die genauen Umstände.«
Lenka ahnte seit ihrem zehnten Lebensjahr, dass mit der offiziellen Version vom Tod ihres Vaters, der in Brünn als Ingenieur für die Waffenfabrik Uherský Brod gearbeitet hatte, etwas nicht stimmte. Als Bedingung ihres Geheimdienst-Deals, in den sie vor einem Jahr eingewilligt hatte, verpflichtete sie Sundberg deshalb zur Aufklärung der Angelegenheit, und der erste Schock kam vor einigen Monaten, als sie erfuhr, dass ihr Vater einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war.
»Der Name des Mannes ist Kovar Brom«, sagte Sundberg. »Er stand bis neunzehnhundertneunzig im Dienst des tschechischen Geheimdienstes und wechselte dann auf den privaten Sektor.«
Welchen Unterschied machte es, ob man einen geliebten Menschen durch Unfall oder durch Mord verlor? Lenka wusste, dass es keine Möglichkeit gab, die gemeinsame Zeit, die ihr und ihrem Vater gestohlen worden war, zurückzugewinnen. Was auch immer jetzt geschehen würde, nichts könnte den Schmerz dieses Verlusts lindern.
»Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass Ihr Vater im Verdacht des Hochverrats stand und deshalb auf Anordnung beseitigt wurde.«
Lenka schüttelte entschieden den Kopf. »Blödsinn. Mein Vater war kein Verräter.«
Sundberg zuckte die Schultern. »Wie auch immer. Brom handelte auf Anweisung von oben. Er manipulierte den Wagen ihres Vaters und drängte ihn in einem böhmischen Waldgebiet von der Straße.«
Lenka hatte den Mund geöffnet, doch jetzt schloss sie ihn wieder und presste die Lippen zusammen. Sundberg zog einen Umschlag aus seiner Manteltasche und reichte ihn ihr.
»Hier sind die wichtigsten Fakten. Auch zum letzten bekannten Aufenthaltsort. Eine Quelle behauptet, dass Brom vor zwei Wochen einen Kommissar der Anti-Mafia-Einheit in Marbella getötet hat. Offenbar hat er sich dann die Frau und die Tochter des Comisarios vorgenommen, während der Mann in einer Blutlache verreckte. Steht alles da drin."
Lenka schluckte. »Und werden Sie etwas gegen ihn unternehmen?«
Sundberg schüttelte langsam den Kopf. »Offiziell weiß ich nichts von Brom. Ich werde meine Quellen nicht für die Jagd nach diesem Mann aus der Deckung holen. Die Sache ist für mich erledigt.«
Sundberg erhob sich und zog seinen Mantel glatt.
»Wenn Sie eine Woche Urlaub brauchen«, sagte er in beiläufigem Tonfall, »sind Sie entschuldigt. Erholen Sie sich. Südspanien ist um diese Jahreszeit wundervoll.«


»Señora Sýkora, schön Sie kennenzulernen«, sagte Pablo de Valdés in rauem Englisch und streckte Lenka die Hand entgegen. »Wie war Ihr Flug?«
Lenka schüttelte die Bärenpranke des Capitáns, der im Dienst der Guardia Civil stand, jetzt aber keine Uniform trug. Entweder war Sundbergs Desinteresse an Brom geheuchelt oder er machte sich Sorgen um seine Agentin. Lenka wusste nicht, weshalb ihr Boss einen seiner Verbindungsleute in Málaga aktiviert hatte, aber sie war dankbar für jede Hilfe.
»Nur zur Sicherheit: Wo singt der Drache?«
»Der Drache singt im kahlen Wald«, gab Lenka zurück und Valdés lächelte.
»Ein paar Dinge vorab«, sagte er, während er Lenka durch die Empfangshalle des Flughafens lotste. »Ich bin als Privatmann hier.«
»Alles klar.«
»Ja. Und sobald wir Ihre Zielperson aufgespürt haben, verschwinde ich von der Bildfläche.«
Lenka nickte.
»Amnesty International sitzt uns seit Jahren im Nacken. Das wäre ein gefundenes Fressen für die Presse, wenn ein Capitán der Guardia Civil ... Ich weiß nicht, wen Sie suchen, aber da unser gemeinsamer Freund Sie hierher geschickt hat, kann ich mir vorstellen, wie die Sache enden wird.«
»Ich wurde nicht geschickt«, sagte Lenka. Sie verließen das Flughafengebäude und überquerten den Parkplatz vor dem Terminal.
»Aha, demnach sind Sie in eigener Sache unterwegs?«
»In eigener Sache?«
Valdés öffnete den Kofferraum seines Wagens und verstaute Lenkas Reisetasche.
»Sie haben eine Rechnung zu begleichen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Soll mir recht sein. Aber bevor es knallt, verschwinde ich.«


Das letzte Licht des Tages dämmerte über der Stadt Huelva. In den Straßen des Hafenviertels roch es nach Ölschlick und Brackwasser. Kovar Brom lag auf dem Dach eines Hauses der Avenida Méjico und kontrollierte den Zustand seiner Waffe. Seit einigen Jahren verwendete er für Jobs dieser Art ein Remington Police 700, ein Scharfschützengewehr, das als Standardausrüstung der US-Polizeieinheiten einen ausgezeichneten Ruf besaß.
Brom montierte das zugehörige 6x42 Zielfernrohr auf das Gewehr. Er spähte über die flache Brüstung nach unten auf die Freifläche direkt vor dem Haus. In wenigen Minuten würde Antonio Perrotto, der als Staatsanwalt eng mit der GRECO zusammenarbeitete, vom Hafen heraufkommen und die Kreuzung überqueren, um in seinen Wagen zu steigen.
Es war nicht zuletzt ein Mangel an Tugend und Charakter, der Perrottos Schicksal besiegelte, denn der Mann, der im Auftrag der spanischen Justiz Krieg gegen die Camorra führte, stand auf der Gehaltsliste einer Familie aus Neapel.
Die Camorristi, die das Pestgeschwür der Mafia nach Andalusien gebracht hatten und die Costa del Sol bereits als Costa Nostra bezeichneten, übten überall in Politik und Wirtschaft der Provinz Druck und Einfluss aus. Es ging das Gerücht, die lokalen Behörden würden über die massive Geldwäschepraxis hinwegsehen, solange es nicht zu militanten Aktionen nach neapolitanischem Vorbild kam.
Perrotto hatte seinen Unterweltkontakt bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Tage getroffen, um die neuesten Entwicklungen zu besprechen, denn der Clan war wegen des Todes von Comisario Riperdá in Aufruhr. Nicht, dass man dem Comisario in Neapel auch nur eine Träne nachgeweint hätte. Was unter den Camorristi für Unruhe sorgte, war der Umstand, dass Riperdá von der Konkurrenz ermordet worden war und die Angelegenheit jetzt eine Menge Staub aufwirbelte. Die Camorra betrachtete die spanische Küste als strategischen Rückzugsraum und beabsichtigte, allzu plumpe Provokationen zu vermeiden. Irgendjemand spuckte dem Clan in die Suppe. Und das bedeutete Ärger oder sogar Krieg.
Während Perrotto über die Kreuzung schritt, an der sich die Avenida Méjico und die Avenida de la Ría trafen, beobachtete sein Leibwächter aufmerksam die Umgebung. Insbesondere die Situation kurz vor dem Einsteigen in ein parkendes Auto galt im Metier des Personenschutzes grundsätzlich als besonders gefährlich.
Brom klappte die Abdeckungen des Zielfernrohres zurück und visierte durch das Glas auf das Profil seines Opfers. Er hatte mit Hilfe einer elektronischen Karte die Entfernung ermittelt, die seine Kugel zurücklegen musste - von der Laufmündung des Remington abwärts, über die Freifläche der Kreuzung hinweg bis zum Parkplatz, wo sie Perrottos Kopf durchschlagen sollte. Es handelte sich um eine Distanz von etwa fünfundneunzig Metern. Brom wusste genau, wo der ideale Einschusspunkt lag – mittig, etwas über dem Ohr. Eine Kugel, die an diesem Punkt den Schädel traf, würde das Kleinhirn zerreißen. Das garantierte ein sofortiges Versagen aller motorischen Funktionen.
Noch einmal prüfte er seinen Anschlag. Er hatte sich in gerader Linie hinter seiner Waffe positioniert, der Rückstoß würde direkt in die Schulter laufen, ein schneller Nachschuss wäre kein Problem.
Perrotto näherte sich seinem Wagen.
Brom flüsterte: »Von dessen Dach gestrahlt der hellsten Lichter Pracht. Auf ihn sank Schweigen jetzt und Finsternis und Nacht.«
Er suchte den Druckpunkt des Abzuges. Kurz darauf brach der Schuss. Das Projektil im Kaliber .308 Winchester zerschlug Perrottos Schläfenbein wie eine Eierschale und sprengte einen großen Krater in die Schädelhöhle. Der Staatsanwalt sackte mit dem Gesäß auf seine Unterschenkel, und war tot, bevor sein Leibwächter ihn packen konnte. Brom hatte die Wirkung des Schusses durch das Glas des Remington verfolgt und grunzte zufrieden.


Nachdem Valdés die Fakten präsentiert hatte, sprach er kaum ein Wort, und die nächtliche Fahrt auf der Autovía A-7 zog sich in die Länge. Offenbar verfügte die Guardia Civil über ein hervorragendes Informationsnetzwerk, das ihnen Einsicht in die Fallakten anderer Behörden ermöglichte, denn obwohl es dem Capitán und seinen Fahndern nicht gelungen war, Kovar Brom aufzuspüren, konnte sich das Ergebnis ihrer Bemühungen sehen lassen: Sundbergs Dossier enthielt Hinweise zu Broms Kontakten in Europa und Übersee. Ein Mann, der auf dieser Liste stand, befand sich seit einiger Zeit im Visier der spanischen Polizei.
»Der Typ heißt Manuel Risco«, hatte Valdés Lenka erklärt. »Hängt mit Soldaten der Russenmafia rum, hat aber auch Kontakte zu Organisationen aus Serbien und zu tschechischen Banden. Gehört zu der Sorte umtriebiger Gangster, die die Staatsanwaltschaft lieber überwachen als einbuchten lässt. Und jetzt schnappen wir uns den Kerl und quetschen ihn aus.«
Lenka starrte durch die Windschutzscheibe. Auf der Autobahn herrschte kaum Verkehr. Ein paar rote Lichter schwammen weit entfernt in der Dunkelheit.
Ein Mann mit sanften Augen, leiser Stimme und schmalen Händen, so lebte Lenkas Vater in ihrer Erinnerung. Sie sah ihn vor sich, wie er das alte Küchenradio reparierte, während sie ihm dabei assistierte. Acht oder neun Jahre alt mochte sie da gewesen sein.
»In Wahrheit, Schascha, gibt es keine toten Dinge«, hatte ihr Vater gesagt. »Siehst du, zwischen diesen Drähten und Spulen hier fließt Energie. Überall ist Bewegung, auch wenn wir sie nicht sehen können.«
Und dann war da das Gesicht des Killers. Lenka hatte das Foto, das Kovar Brom auf einem spanischen Flughafen zeigte, lange betrachtet. Es war Sundbergs Dossier angefügt und stammte von einer Sicherheitskamera mit geringer Auflösung. Gern hätte Lenka darauf das hässliche, grausame Monster gesehen, das hinter dem Mord an ihrem Vater stecken musste. Doch alles, was sie sah, war ein Mann in den mittleren Jahren, mit blondem Haar und ausdruckslosen Augen.
Valdés riss sie aus ihren Gedanken.
»Möglichweise bekommen wir ein Problem mit Brom«, sagte er und kratzte sich am Kinn.
Lenka warf ihm einen schnellen Blick zu. »Weshalb?«
»Falls er wirklich diesen Riperdá umgelegt hat, sitzt ihm vielleicht jetzt schon die GRECO im Nacken, also die Nationalpolizei.«
»Ich dachte, Sie haben die Fallakte von Riperdá gecheckt.«
»Das habe ich«, erwiderte Valdés. »Und Broms Name taucht da nicht auf.«
»Gut für mich«, sagte Lenka.
»Nicht unbedingt. Wegen der grassierenden Korruption halten die Ermittler der GRECO ihre Erkenntnisse häufig eine Zeitlang zurück.«
»Okay. Und was bedeutet das?«
»Naja, Sie müssen Brom erwischen, bevor es jemand anderes tut.«
Sie erreichten Estepona gegen Mitternacht. Unter den Reifen knirschte der Kies, als der Wagen in einer Gasse ausrollte, die von flachen weißgekalkten Häusern gesäumt war.
»Für Sie«, sagte Valdés und reichte Lenka eine Glock 23 mit Holster. Er hatte die Waffe unter seinem Sitz hervorgeholt. »Machen Sie sich bereit.«
»Danke.«
»Hier sind noch zwei Magazine. Mehr werden Sie wohl nicht brauchen. Wir ziehen ja nicht in den Krieg.«
»Wer weiß«, erwiderte Lenka düster, öffnete den Verschluss der Pistole ein wenig, um den Sitz der obersten Patrone zu prüfen. Dann strich sie ihren Mantel zurück und klippte das Holster in den Gürtel.
»Ich habe vorhin einen Anruf gemacht«, sagte Valdés. »Die observierenden Beamten schauen heute nicht so genau hin. Trotzdem sollten wir Aufsehen vermeiden.«
»Verstehe.«
»Denken Sie an Ihre Handschuhe. Und noch was. Bleiben Sie hinter mir. Lassen Sie mich sprechen.«
Sie stiegen aus dem Wagen. Im trüben Licht der Straßenbeleuchtung wirkte die Gasse heruntergekommen und schäbig. Lenka streifte ihre Lederhandschuhe über. Sie roch den Schimmel, der sich durch das Mauerwerk der Häuser ringsum arbeitete. Ganz in der Nähe durchstöberten zwei Katzen einen aufgeplatzten Müllsack. Am Ende der Straße, etwa fünfzig Meter entfernt, parkte ein schwarzer Van.
Valdés ging voraus. Vor einem schiefen Flachbau, dessen zweite Etage jeden Moment ins Parterre durchzusacken schien, blieb er stehen.
»Wir gehen hinten lang«, sagte er leise und deutete auf einen schmalen Gang, der seitlich am Haus in unbestimmbares Dunkel führte. Lenka schob ihren Mantel zurück, legte die Hand auf ihre Waffe und folgte Valdés. Kurz darauf standen sie im Patio des Hauses. Der Capitán zog seine Pistole, stieß mit einem Fußtritt die Hintertür auf und stürmte los.
Was auch immer Risco mit seinen Botengängen und Geschäften in der Unterwelt verdienen mochte, viel konnte es nicht sein.
»Was für ein Rattenloch, Manu!«, sagte Valdés auf Spanisch und richtete seine Waffe auf Risco, der im Sessel vor seinem Flachbildfernseher saß, eine halbe Calzzone in der Schachtel des Telepizza-Lieferservice auf den Oberschenkeln. »Bezahlen dich die Russen so schlecht in letzter Zeit?«
»Verdammte Scheiße«, stieß Risco hervor und hob die Hände. In sein grobes Gesicht mit den wuchernden Bartstoppeln und den gelben Zähnen stand für einen Moment das Erschrecken eines Mannes geschrieben, der unbewusst Tag für Tag mit dem Tod rechnete, doch dann gewann die Gangsterseele wieder Oberhand, und Risco setzte ein verächtliches Grinsen auf.
Lenka sah sich um - ein zerschlissenes Sofa, ein paar wurmzerfressene Schränke, an den Wänden Corrida-Poster, die das Gemetzel jeweils im Augenblick des tödlichen Stoßes zeigten, bei dem der Matador seinen Degen tief zwischen die Schulterblätter des Stiers trieb. Auf dem Boden leere Flaschen, Pizzaschachteln, Zigarettenasche, Essenreste. Überall Staub und Schmutz.
»Machen wir es kurz«, sagte Valdés, nachdem er den Fernsehapparat auf Stumm geschaltet hatte. Er zog Broms Foto aus der Innentasche seines Mantels, während er mit der Pistole weiter auf Risco zielte. »Wir suchen diesen Kerl. Weißt du, wo wir ihn finden?«
Riscos Marderaugen wanderten vom Foto zu Valdés, dann zu Lenka und wieder zurück zum Capitán.
»Du bist ein Cop«, stellte er sachlich fest und nickte Valdés mit einem höhnischen Lächeln zu. »Bullenschweine erkenne ich am Geruch. Aber wer ist die Pussy?«
Valdés verpasste ihm einen so harten Tritt, dass er mit dem Sessel nach hinten kippte. Noch bevor er sich aufrappeln konnte, war Valdés über ihm und schlug ihm den Magazinboden seiner Pistole ins Gesicht.
»Lass das Gequatsche, Manu.« Valdés packte Risco am Kragen und bohrte ihm die Mündung der Waffe in die Wange. »Wir wissen, dass du ihn kennst. Mach´s Maul auf oder ich blas dir die Birne weg.«
Lenka sah Riscos hasserfüllten Blick. Blut sickerte dunkel aus seiner Nase und den aufgeplatzten Lippen. Dieser Mann würde nicht leicht zu knacken sein, und für ein langwieriges Verhör fehlte ihnen die Zeit.
Valdés zerrte Risco hoch und versetzte ihm einen Schlag mit dem Ellbogen gegen den Kopf. Risco taumelte, stürzte aber nicht. Als er sein schiefes, zorngerötetes Gesicht hob, sah Lenka das zertrümmerte Jochbein des Gangsters.
»Das Spiel können wir die ganze Nacht lang spielen, Manu«, sagte Valdés und stieß mit dem Kopf zu. Risco ging zu Boden. Valdés schob schwer atmend seine Pistole ins Holster und sagte wie zu sich selbst: »Der Cabrón wird singen. Ist gleich soweit.«
»Das denke ich nicht«, sagte Lenka auf Englisch, zog ihren Mantel aus und legte ihn über den umgestürzten Sessel.
Valdés warf ihr einen fragenden Blick zu. »Was wird das?«
»Sie hatten Ihre Chance«, erwiderte Lenka. »Jetzt bin ich dran.«
Risco stemmte sich ächzend vom Boden hoch. Er hustete, würgte und dann erbrach er sich auf die Bodenfliesen des Wohnzimmers.
Lenka sagte leise: »Entkleiden Sie ihn.«
»Was?«
»Sie sollen ihn ausziehen.«
Valdés betrachtete sie einen Moment lang.
»Also gut«, sagte er schließlich und packte Risco. »Du hast es gehört, Manu. Runter mit den Hosen!«
Eine Minute später kniete der Gangster nackt vor Lenka. Valdés hielt ihn an der Schulter. Er hatte wieder seine Waffe gezogen, presste sie gegen Riscos Schläfe und sagte warnend: »Keine Dummheiten, Puto!«
Lenka trat dicht an Risco herantrat. Im Zimmer breitete sich Stille aus. Fast hörte man das Geräusch des Blutes, das von Riscos Kinn auf den Boden tropfte.
Lenka hockte sich zu Risco. Ihre Lippen berührten beinahe sein Gesicht.
»Schau mich an«, sagte Lenka auf Spanisch und strich mit ihrer Linken, die noch immer in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, über Riscos Stirn. Mit flackerndem Blick suchte der Gangster Lenkas Augen, und als er sie fand, diese klaren, grünen Katzenaugen, glitt Lenkas Hand an seiner Wange hinab, glitt, eine blutige Spur zeichnend, über seine Brust und seinen Bauch.
»Hey Bulle«, ächzte Risco. »Was hat die verrückte Schlampe vor?«
Valdés lachte rau: »Tja, gleich hat sie dich bei den Eiern. So wie ich das sehe, solltest du endlich das Maul aufmachen, Manu.«
Als Lenka zwischen Riscos Schenkel griff, kreischte er los, aber der Capitán hielt ihn mit eisernem Griff an der Schulter fest.
»Die ist ja komplett irre«, presste Risco heraus. Die Adern an seinem Hals, wie zum Platzen gespannt, traten dick und dunkel hervor, und ein unbezwingbares Zittern schüttelte ihn.
»Schau mich an«, sagte Lenka noch einmal, und in diesem Moment zuckte die Klinge des Springmessers, das sie in der rechten Hand hielt, direkt vor Riscos Augen wie eine Flamme in die Höhe.
»Letzte Chance«, sagte Lenka.
Riscos Augen traten aus den Höhlen.
»Okay«, flüsterte er.


Die Villa, in die sich Brom einquartiert hatte, gehörte einer Gruppe von Gangstern aus Belgrad. Das war nur auf den ersten Blick überraschend. Risco konnte sicher nicht als sonderlich gut informierte Quelle gelten, aber setzte man das Wenige, das er wusste, in den Kontext der Informationen aus Sundbergs Dossier und der Erkenntnisse des Guardia Civil-Netzwerks, dann ergab sich ein stimmiges Bild: Die serbische Mafia plante, ihrer russischen und italienischen Konkurrenz das Leben in Andalusien solange schwer zu machen, bis diese bereit war, einen Burgfrieden zu schließen. Und da sowohl Russen als auch Neapolitaner in Spanien eine Menge zu verlieren hatten, entsprach diese Taktik des Brunnenvergiftens durchaus der Mafia-Logik. Statt also direkt gegen gegen die feindlichen Gangsterclans vorzugehen, waren die Serben auf die Idee verfallen, den spanischen Staat herauszufordern. Das würde die Karten im schmutzigen Poker um Drogenschmuggel, Geldwäsche, Waffenhandel und Schutzgelderpressung neu mischen. Und Brom spielte dabei offenbar den willfährigen Handlanger.
»Schätze, in dreißig Minuten sind wir da«, sagte Valdés. »Schwer zu sagen, bei den Straßenverhältnissen.« Im Licht der Scheinwerfer tanzten lange Schatten hinter Schutthaufen, die die Schotterpiste beinahe unpassierbar machten – knochenbleiches Geröll, das von angrenzenden Felshängen gerutscht war.
Lenka schaute auf die schwarz ausgegossene Landschaft, die an den Fensterscheiben vorbeizog und dachte an Riscos Verhör. Wie viel Wahrheit steckte in den Worten des Gangsters? Risco sagte, er hätte den Kontakt zwischen den Belgradern und Brom hergestellt und den Killer persönlich vom Flughafen abgeholt, um ihn zu seinem Hide-Out in der Sierra Morena zu chauffieren, aber das war sicher ein wenig übertrieben. Immerhin hatte er so viel von dem Deal mitbekommen, dass er wusste, wo Brom abgestiegen war. Zumindest behauptete er das.
»Was wird jetzt aus Risco?«, fragte Lenka.
»Wenn er klug ist«, sagte Valdés und schaute kurz auf das Navi-Display, »kratzt er sein Geld zusammen und verlässt Spanien, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
»Es war ein Risiko, ihn einfach so zurückzulassen. Wenn er Brom warnt, haben wir nichts erreicht.«
»Das haben wir doch schon besprochen«, erwiderte Valdés. »Glauben Sie mir, sollte rauskommen, dass Risco gesungen hat, ist er ein toter Mann. Der wird einen Teufel tun, Brom oder die Serben zu warnen.«
Das Handy des Capitáns brummte.
»Im Übrigen, Señora: Was wäre die Alternative gewesen? Ihm eine Kugel verpassen?«
Während Valdés sein Telefon aus der Gürteltasche zog, steuerte er mit der linken Hand. Er wechselte ein paar Worte mit dem Anrufer und stoppte abrupt den Wagen, ohne das Gespräch zu unterbrechen. Lenka beschloss, die Pause zu nutzen, um sich nach der dreistündigen Fahrt die Beine zu vertreten und stieg aus.
Über den Bergen der Sierra Morena starrten die Sterne auf die menschenleere Landschaft herab. Das Himmels-W, die Kassiopeia, war deutlich zu erkennen und daneben, im Zenit - Andromeda. Lenka dachte daran, wie ihr Vater sie die Sternbilder gelehrt und ihr erklärt hatte, dass die Menschen wenig über den grenzenlosen Kosmos wussten - einen auf unveränderlichen Urgewalten gründenden Kosmos, der gegen das Schicksal der Menschen gleichgültig war. Und in dieser Nacht schien ihr das kalte Licht der weitentfernten Sonnen besonders abweisend.
»Schlechte Nachrichten«, sagte Valdés, als Lenka sich wieder neben ihn setzte. »Der Anruf eben, das war ein Bekannter bei der Nationalpolizei. Vor ein paar Stunden wurde ein Staatsanwalt der GRECO erschossen. Hier in Andalusien.«
Lenka schwieg einen Moment. Ihr Blick ruhte auf Valdés, der den Wagen startete.
»Wo genau?«, fragte sie schließlich.
»Huelva. Könnte mir vorstellen, dass das unser Mann war.«
Lenka dachte nach.
»Zwei Anschläge auf GRECO-Beamte in weniger als drei Wochen, das kann kaum Zufall sein«, fuhr Valdés fort.
»Und es würde zu dem passen, was Risco sagte.«
Valdés schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht. Die zetteln einen Krieg an.«
»Der die Russen und die Italiener schwächen wird.«
»Die Serben selbst aber auch. Ich kann mir das nicht vorstellen.«
»Wie lange braucht er für den Rückweg?«
Valdés starrte auf die Uhr im Armaturenbrett und rechnete.
»Ist eine lange Fahrt von Huelva, aber falls er sofort nach dem Attentat aufgebrochen ist, könnte er schon wieder da sein.«
»Gut«, sagte Lenka. »Dann wird er erschöpft sein, und ich schnappe ihn, wenn er sich ausruht.«


Valdés und Lenka hockten hinter einer weitausladenden Agave am Rande des Grundstücks. Der Capitán hatte den Wagen abseits der Einfahrt neben einer hüfthohen Bruchsteinmauer geparkt, die das Anwesen einfriedete. Die Villa lag mitten in der Sierra, etwa eine Stunde von der Stadt Linares entfernt, am Fuß eines Berghangs, der dem zweistöckigen Haus den Rücken zu stärken schien. Zur Villa, die aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen mochte und ihre besten Zeiten wohl hinter sich hatte, gehörte ein verwilderter Garten. Zwischen Steineichen und Zypressen wucherten Seidelbaststräucher, und der herbe Duft von Opuntienblüten lag in der Luft.
»Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, sagte Valdés mit gedämpfter Stimme, während Lenka mit einem Nachtglas Haus, Hof und Garten nach Hinweisen für Broms Anwesenheit absuchte.
»Dieser Typ ist ein harter Hund.«
»Keine Sorge«, erwiderte Lenka leise. »Ich hatte eine gute Ausbildung.«
Sie setzte das Glas ab.
»Kein Licht zu sehen. Ich gehe rein.«
»Vielleicht sollte ich doch mitkommen.«
»Nicht nötig, Capitán.«
»Okay«, sagte Valdés. »Ich zeige Ihnen die Ausrüstung.«
Etwa dreißig Minuten später war es Lenka gelungen, sich zwischen Rosmarinsträuchern und Zistrosen-Gebüsch bis zur Terrasse der Villa vorzuarbeiten. Unter anderen Umständen mochte dies ein wunderbarer Ort sein, ideal, um bei einem Sherry die Schönheit der geheimnisvollen Sierra Morena zu bewundern, doch jetzt wirkte alles kahl und trostlos.
Lenka schwang sich über die niedrige Mauer, die die Terrasse säumte und huschte in einen Winkel an der Hauswand. Auch wenn die Fassade des Hauses mit ihren Türmchen, Erkern und Giebeln gute Klettermöglichkeiten bot, würde es sicher nicht leicht sein, lautlos bis zum zweiten Stock zu gelangen. Lenka überlegte kurz, ob sie lieber versuchen sollte, die Eingangstür der Villa aufzubrechen, aber dann verwarf sie den Gedanken. Sie drehte das Handgelenk und schaute auf die Leuchtzeiger ihrer Uhr. Zwanzig vor fünf.
Flach an die Wand geschmiegt suchte sie nach der ersten günstigen Trittposition. Sie fand sie an der Kante einer Fassadenverzierung aus Terrakotta. Als sie darüber eine weitere Unebenheit ertastete, griff sie zu und zog sich daran empor.
In der Dunkelheit des Gartens hinter ihr rief ein Steinkauz sein fragendes Guip, und etwas weiter entfernt, vielleicht im nächsten Dorf, bellte ein Hund. Dann wurde es wieder still, so still, dass Lenka beim Klettern innehielt. Es war ein Moment tiefen Schweigens, das auf der ganzen Welt zu lasten schien, und Lenka überwältigte ein Gefühl der Einsamkeit.
Sie spürte, wie die Sehnen in ihrem Armen brannten. Sie fühlte das Zittern ihrer Muskeln im ganzen Leib.
»Weiter«, sagte sie sich.
Kurz darauf erreichte sie die zweite Etage. Sie kletterte über die Balustrade des Balkons, den sie als Einstieg ausgewählt hatte. Die Balkontür stand eine Handbreit offen. Während Lenka die Pistole zog, überschlugen sich ihre Gedanken. Den Glasschneider würde sie also nicht benötigen, müsste sich nicht mit einer Alarmanlage befassen. Es genügte, diese Tür zu öffnen und voilà! Konnte es wirklich so einfach sein?
Lenka schlüpfte durch die Tür ins Innere des Hauses. Sie ging in die Hocke und hob ihre Waffe. Den Finger am Abzug, starrte sie in die Finsternis und horchte. Stille. Kein Laut zu hören.
Allmählich zeichneten sich die Konturen des Zimmermobiliars ab. Der Raum schien nicht besonders groß zu sein, vielleicht war es das Gästezimmer der Villa. Da standen eine Kommode, ein Tisch, ein Schrank und ... ein Bett. Lenka hielt den Atem an, zog die Stableuchte aus dem Gürtelholster und richtete sie zusammen mit der Pistole auf das Bett. Mit dem Klicken des Druckschalters durchschnitt der Lichtstrahl die Finsternis wie ein Laser. Das Bett war leer. Decke, Laken und Kissen schienen unbenutzt. Lenka sah sich im Zimmer um. Hier war niemand. Sie löschte das Licht und dachte nach. Bei dem Gedanken, das ganze Haus durchsuchen zu müssen, verkrampfte sich ihr Magen. Lenka spürte, wie das Blut in ihren Halsarterien pochte und sie begriff, dass sie an ihrem Vorsatz zu zweifeln begann.
Welcher Sinn lag in all dem hier? Sie setzte ihr Leben aufs Spiel, um diesen Mann ... Ja, was wollte sie eigentlich mit Brom anfangen, wenn er vor ihr stand? Gerechtigkeit, sagte etwas in ihr. Es ging um Gerechtigkeit. Sie würde den Killer ihres Vaters nicht einfach davon kommen lassen.
Lenka schlich zur Zimmertür und lauschte. Da war nichts, außer das Schlagen ihres Herzens. Sie umfasste den Knauf der Tür und drehte ihn. Das Schloss klickte leise.
Und dann krachte es, und die Tür flog Lenka entgegen. Sie traf sie an Kopf und Schulter, schleuderte sie zu Boden. Blitze zuckten durch die Schwärze, und Lenka stöhnte, denn ihre Augen schmerzten, als müssten sie aus den Höhlen platzen.
Eine Haftladung an der Tür!, ging es ihr durch den Kopf. Bleib nicht hier liegen! Hoch mit dir!
»Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen«, sagte eine Stimme in das Pfeifen hinein, das in Lenkas Ohren sang. »Die Teufelsschar, die uns zerstören muss.«
Es war eine tiefe, knarrende Stimme. Lenka schüttelte den Kopf, versuchte, sich zu orientieren, aber sie fühlte bereits, wie sie ins Dunkel rutschte.
»Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss«, rauschte die Stimme neben ihrem Ohr. »Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.«
Lenka spürte, wie jemand sie am Handgelenk packte und über den Boden schleifte, heraus aus dem Zimmer und polternd eine enge Treppe hinab. Bleib wach, hämmerte etwas in ihrem Verstand, und sie kämpfte gegen den Sog, der sie in die Tiefe zerrte. Und dann verschluckte sie die Nacht.


Als Lenka hörte, wie ein Streichholz angerissen wurde, öffnete sie die Augen. Sie spürte das Blut, das heiß und klebrig aus ihren Augenwinkeln und den Ohren lief. In ihrer Brust brannte ein Feuer, und jeder Atemzug schmerzte – offenbar hatte sie sich bei der Explosion der Türladung eine Lungenprellung zugezogen.
Aus kreisenden Schleiern formte sich die Gestalt eines Mannes, der einige Meter entfernt stand und auf sie herabblickte. Lenka wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, und jetzt erkannte sie den Mann.
Brom zielte mit einer Pistole auf ihren Kopf. Im Licht der Kerze, das den Salon der Villa mit einem rötlichen Schimmer überzog, wirkte sein lächelndes Gesicht wie eine Maske.
»Kovar Brom«, ächzte Lenka. »Du Stück Scheiße hast meinen Vater getötet.«
Das Lächeln im Gesicht des Killers wurde zu einem harten Strich.
Er setzte gerade zu einer Erwiderung an, da zerplatzten die Fensterscheiben im Salon mit einem Knall, und etwas von der Größe einer Cola-Dose segelte herein.
Die Blendgranate explodierte, noch bevor sie auf den Boden schlug. Es krachte ohrenbetäubend, und Lenka spürte die Druckwelle, als der Salon in einem Lichtblitz verschwand. Scheiben klirrten, und dichter Rauch wallte auf.
Lenka rollte sich an die Wand, die der Fensterfront gegenüberlag und zog das Messer, das sie in einem Holster unter dem Ärmel ihrer Jacke trug.
Vor der Villa feuerte jemand mit einer Schrotflinte.
»Nicht reinkommen!«, schrie Lenka. »Haftladung an der Tür!«
In diesem Moment erschütterte eine weitere Explosion den Salon. Holzsplitter zischten wie Geschosse durch die Luft, und ein giftig beißender Qualm schien alles zu ersticken.
Einen Arm vor dem Mund, stemmte Lenka sich hoch und sah sich um. Keine Spur von Brom. Sie rannte los. Der Eingangsbereich der Villa war ein Trümmerfeld, die Haftladung hatte die Tür aus der Wand gesprengt.
Hustend taumelte Lenka nach draußen. Auf der Treppe vor dem Haus lag die Leiche des Capitáns im Licht des anbrechenden Tages. Die Wucht der Detonation hatte Valdés von der Tür weggeschleudert und sein halbes Gesicht fortgerissen. Mit der rechten Hand umklammerte er noch immer die Schrotflinte.
Ehe Lenka danach greifen konnte, traf sie ein Hieb im Genick. Sie kippte nach vorn, stürzte auf Valdés´ toten Körper und sah mit Entsetzen, wie Brom die Waffe aus den verbrannten Händen der Leiche nahm.
Der Killer wirkte angeschlagen – sein grünes Seidenhemd war von einer Druckwelle zerfetzt, Blut klebte an seinen Wangen.
»Ende«, sagte Brom und lud die Schrotflinte durch.
»Warum hast du meinen Vater ermordet?«, sagte Lenka. Ihre Finger pressten den Griff des Messers, das sie unter ihrem Körper verborgen hielt.
Brom zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist.«
»Er war Ingenieur in Uherský Brod. Du hast ihm achtundneunzig die Bremsen durchgeschnitten und ihn dann von der Straße gedrängt.«
Im maskenhaften Gesicht des Killers regte sich etwas.
»Ah«, sagte er. »Der Verräter.«
»Mein Vater war kein Verräter«, sagte Lenka und stieß zu. Brom wich zurück, doch das Messer durchbohrte seinen Oberschenkel. Lenka schnellte hoch, um sich auf ihn zu stürzen, aber sie begriff sofort, dass sie es nicht schaffen würde. In einer unheimlichen, zeitlupenartigen Vision beobachtete sie, wie Brom die Waffe hob. Die Mündung der Schrotflinte starrte sie an. Ende.
Ein peitschender Knall jagte durch die Morgendämmerung, und Lenka sah, wie die Flinte aus Broms Händen rutschte, während das Echo des Schusses in den Himmel stieg. Über der Brust färbte ein Fleck das Hemd des Killers dunkelrot. Ein zweiter Schuss hallte von den Bergen wider. Die Kugel traf Brom unter dem rechten Auge und zerschmetterte sein Jochbein. Mit einem Ächzen brach er zusammen.
Eine Minute später war Lenka von den Männern eines Spezialkommandos umringt, die ihre Waffen auf sie richteten. Andere Polizisten stürmten ins Haus. Lenka ging auf die Knie und hob die Hände. Kurz darauf trat ein Mann in Zivil an sie heran. Er warf einen Blick auf Valdés Leiche und wandte sich dann Lenka zu.
»Das wird ein interessantes Verhör, Señora.« Er öffnete seinen zerknitterten Mantel und fischte ein Päckchen Fortuna aus der Innentasche.
»Ich bin Comisario Martinez«, sagte er, während er sich eine Zigarette ansteckte. »Und ich habe viele Fragen.«
Lenka holte tief Luft und erwiderte: »Ich habe nur eine, Comisario Martinez.«
Martinez hob belustigt das Kinn. »Und die wäre?«
»Das geht nur unter vier Augen.«
»Soso.« Martinez lachte und überlegte einen Moment.
»Also gut«, sagte er schließlich. Er wedelte mit der Hand. »Geht mal ein paar Schritte zurück, Männer. Aber schön die Augen offen halten.«
Nachdem sich die Polizisten zurückgezogen hatten, beugte sich der Comisario zu Lenka herab.
»Also, Señora, ich höre.«
Es war ein Schuss ins Blaue, aber den Versuch wert.
»Wo singt der Drache?«, flüsterte Lenka.
Der Comisario erstarrte einen Moment lang. Dann richtete er sich wieder auf, nahm einen Zug von seiner Zigarette und blies den Rauch aus, während er in die Ferne schaute.
»Der Drache singt im kahlen Wald«, sagte Martinez.

 

Hallo Achillus.

Schön, dass man mal wieder in Deinen dunklen Spiegel gucken kann. Und was sieht man? Einen fünften Teil, der den anderen Kapiteln in puncto Qualität in Nichts nachsteht, vielleicht sogar eine Steigerung darstellt. Ich fürchte, mit meinem Kommentar kann ich dir nicht weiterhelfen, weil ich glaube, dir ist nicht mehr zu helfen. Will sagen, für diese Art Geschichten hast du einfach den perfekten Stil gefunden. Kompliment. Straight, atmosphärisch, spannend und, wie ich finde, filmreife Action-Sequenzen.
Genug geschleimt, eine Kleinigkeit habe ich gefunden, die mich ein bisschen gestört hat:

Da war nichts, außer das Schlagen ihres Herzens.
Vielleicht: außer dem Schlagen, oder: außer dem Schlag …
Sehr gern gelesen. Wunderbarer letzter Satz.

Schöne Grüße
Harry

 

Hallo Harry,

vielen Dank für Deinen Kommentar und das Lob zum Text. Schön, dass Du reingeschaut hast. Die Schwierigkeit bei diesem Serien-Projekt liegt für mich darin, jeden einzelnen Teil so zu bauen, dass man ihn lesen und verstehen kann, ohne die anderen Teile zu kennen. Das ist sehr knifflig, und ich verstehe jetzt, weshalb es im Forum kaum Serien gibt, die eine komplexe Story erzählen.

Vielen Dank auch für den Hinweis zu dieser Stelle mit dem schlagenden Herzen. Ich finde auch, dass das irgendwie schief klingt und lass mir was einfallen.

Beste Grüße
Achillus

 

Hallo Achillus,

ich kann mich Harry anschliessen. Das ist so gut geschrieben und spannend wie die anderen Teile auch. So kann man nicht mehr viel dazu sagen. Am Schluss häufen sich kurze Cliffhanger, vielleicht einer zu viel. Eine eigenartige Brutalität zieht sich konstant durch diese Serien-Geschichten. Ebenso werden die Waffen immer genau bezeichnet. Dein Schreibstil hat mir wieder sehr gefallen und ich bin nirgends – ausser dem unten zitierten - stecken geblieben.
Du sagst, eine Serie zu machen sei schwer. Aber Du zeigst, dass man es kann.

In wenigen Minuten würde Antonio Perrotto, der als Staatsanwalt eng mit der GRECO zusammenarbeitete, vom Hafen heraufkommen und die Kreuzung überqueren, um in seinen Wagen zu steigen.
Arbeitet der Staatsanwalt jetzt nicht mehr mit der GRECO zusammen?

»Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen«,
Da fehlt was.

Viele Grüsse
Fugu

 

Hallo Fugu,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mich gefreut, dass Du beim neuen Teil reingeschaut hast. Vielen Dank auch für das Lob zum Text. Das Ende ist eigentlich nicht als Cliffhanger gedacht, sondern soll nur zeigen, wie Lenka sich mit Hilfe des Code-Words aus der Affäre zieht. Das legt nahe, dass es ein Netz von Leuten gibt, die irgendwas mit Sundberg zu tun haben. Gut, wenn man so will, kann man es als Cliffhanger betrachten, denn dazu wird es sicher noch eine Folge geben, die das näher beleuchtet. Falls ich an der Serie weiterarbeite. (Bei dem geringen Interesse daran, scheint sich das nicht so richtig zu lohnen.)

Deine Beobachtung ist schon richtig, die gesamte Serie ist ziemlich hart und düster. Ich hatte schon beim dritten Teil überlegt, ob das der richtige Stoff für das Forum ist. Aber irgendwie passt es eben zu der kompromiss- und skrupellosen Welt der Geheimdienste, finde ich.

Und die Waffenbeschreibung sind deshalb so präzise, weil ich mich da ein wenig auskenne und gehofft habe, dass es für Leser, die das nicht kennen, interessant sein könnte. Allerdings habe ich das ein bisschen zurückgefahren. Detaillierte Beschreibungen von Waffenmechaniken, wie ich sie anfangs drin hatte, langweilen die meisten Leser wahrscheinlich und tragen zur Kern-Story auch nicht viel bei.

In wenigen Minuten würde Antonio Perrotto, der als Staatsanwalt eng mit der GRECO zusammenarbeitete, vom Hafen heraufkommen und die Kreuzung überqueren, um in seinen Wagen zu steigen.

Die Formulierung "der als Staatsanwalt eng mit der GRECO zusammenarbeitete" bedeutet nicht "der, als er Staatsanwalt gewesen war, eng mit der GRECO zusammenarbeitete", sondern "der in der Funktion eines Staatsanwaltes eng mit der GRECO zusammenarbeitete". Ich werde mal schauen, ob es andere Leser gibt, die sich daran stören.

Und jetzt zu den Würmern: Du hast recht, das klang merkwürdig. Das Original geht so:

Gleich Würmern wimmelnd ist ins Hirn gedrungen
Die Teufelsschar, die uns zerstören muss,
Wir atmen, und ein unsichtbarer Fluss,
Der Tod, strömt klagend hin durch unsre Lungen.

Ich habe jetzt die Teufelsschar einen Absatz höher gestellt, damit der Zusammenhang deutlicher wird.

Fugu, vielen Dank fürs Lesen.

Beste Grüße
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Achillus,
wieder einmal bin ich beeindruckt von deinen sprachlichen Möglichkeiten und der detailreichen Konstruktion deiner Geschichte. Ich glaube, die Freunde des Genres werden ihren Spaß an ihr haben.

Ich tue mich ein wenig schwer mit ihr. Die Flut unterschiedlicher Informationen (die verschiedenen sich bekämpfenden Gruppen, die Einordnung des Personals, die Waffen-Spezifika, die Hintergrundinformationen), die auf den ersten neuen Seiten auf mich als Leser niederprasseln, ließen mich irgendwann aufgeben und über sie hinweglesen. Ich habe dann beschlossen, mich nicht weiter für diese Einzelheiten zu interessieren und mich nur noch auf Lenka und ihr Handeln zu konzentrieren. Und das wurde sogar belohnt: Denn ungefähr ab Seite neun wird deine Geschichte (für mich) richtig lesenswert. Da kommt dann auch endlich Andalusien als Ort der Handlung ins Spiel. Vorher bleiben Malaga, Marbella, Estepona, sogar die Sierra Morena leere Orte ohne Gesicht. Wer nicht schon einmal dort war, verbindet mit ihnen nichts und das Geschehen hätte überall irgendwo auf der Welt stattfinden können. Dagegen beschreibst du die alte Villa in der Morena so, dass für mich Atmosphäre entsteht. Auch das Geschehen wird jetzt klarer, miterlebbar und nachvollziehbar. Für mich liegt die Stärke deiner Geschichte in der Beschreibung dieses letzten Teils. Auch sprachlich gefällt er mir am besten.

Aber ich habe noch ein Problem mit deiner Geschichte. Dazu muss ich ein bisschen ausholen:

Es ist lange her, dass ich Texte, wie den, den du hier jetzt eingestellt hast, gelesen habe. Zuletzt waren es wohl Bücher von le Carré, deren Thematik der in deiner Geschichte in etwa vergleichbar ist. Ich erinnere mich, dass ich diese Bücher verschlungen habe, ebenso, wie ich ein großer Krimi-Fan war. U.a. habe ich eine Zeitlang keinen ‚Tatort’ verpassen können und auch Filme, die sich irgendwie mit dem Kampf gegen die Mafia beschäftigten, waren meine Favoriten. Doch das hat sich geändert. Schaue ich mir heute einen Tatort an, so interessiert mich natürlich die Handlung und das Beziehungsgeflecht, aber ich schalte häufig nach einer halben Stunde aus, weil sich dieses 'déjà vu-Gefühl’ einschleicht. Ähnlich geht es mir bei Büchern dieses Genres. Und das hat nichts mit der Qualität der Filme oder Bücher an sich zu tun, sondern damit, dass ich mich an ihnen ‚satt’ gesehen oder gelesen habe. Die Spannung des Geschehens alleine hält mich heute nicht mehr. Ich möchte daneben gut gezeichnete Charaktere vorfinden, die Atmosphäre des Ortes spüren und von der Interaktion der handelnden Personen gefesselt werden. In früheren Zeiten hätte mir das spannende Geschehen allein gereicht, im Fokus meines Interesses hätte das Agieren der Hauptpersonen und das Gelingen oder Nichtgelingen ihrer Aktionen gestanden.
Das vorweg, um dir die Subjektivität meines Kritikpunktes zu verdeutlichen.
Die Charaktere: Was erfahre ich als Leser über Lenka? Sehr wenig. Sie möchte den Tod ihres Vaters rächen, ist sehr gut ausgebildet, sie ist allein und kann sehr brutal sein, wenn es die Situation erfordert. Aber es gibt nur wenige Stellen, an denen sie mir als Leser näher kommt. Ich habe wirklich nur zwei gefunden (vielleicht habe ich etwas übersehen):

Lenka spürte, wie das Blut in ihren Halsarterien pochte und sie begriff, dass sie an ihrem Vorsatz zu zweifeln begann.
Welcher Sinn lag in all dem hier? Sie setzte ihr Leben aufs Spiel, um diesen Mann ... Ja, was wollte sie eigentlich mit Brom anfangen, wenn er vor ihr stand? Gerechtigkeit, sagte etwas in ihr. Es ging um Gerechtigkeit. Sie würde den Killer ihres Vaters nicht einfach davon kommen lassen.
und
Lenka dachte daran, wie ihr Vater sie die Sternbilder gelehrt und ihr erklärt hatte, dass die Menschen wenig über den grenzenlosen Kosmos wussten - einen auf unveränderlichen Urgewalten gründenden Kosmos, der gegen das Schicksal der Menschen gleichgültig war. Und in dieser Nacht schien ihr das kalte Licht der weitentfernten Sonnen besonders abweisend.

Ansonsten bleibt sie für mich leer. Du als Autor lässt mich nicht in ihre Gefühlswelt hinein. Sie ist eine Agentin, sicher, aber eine Agentin wie viele andere, eine Frau ohne Eigenschaften. Und so geht es mir leider mit all deinen Personen. Sie gewinnen für mich kein Profil, sie spielen ihre Rollen und beziehen ihre Motivation und ihre Eigenart aus ihrer Rolle, nicht aus ihrer Persönlichkeit. Ich weiß, das ist ein bisschen pauschal, aber so war mein Eindruck. Einschränkend muss ich natürlich sagen, dass ich die ersten Geschichten der Serie nicht gelesen habe und du Lenka dort vielleicht genauer skizzierst. Dann würde meine Kritik sich nur auf die übrigen der handelnden Personen beziehen.
Lenkas Vater dagegen zeichnest du sehr liebevoll und vorstellbar:
Ein Mann mit sanften Augen, leiser Stimme und schmalen Händen, so lebte Lenkas Vater in ihrer Erinnerung. Sie sah ihn vor sich, wie er das alte Küchenradio reparierte, während sie ihm dabei assistierte. Acht oder neun Jahre alt mochte sie da gewesen sein.
»In Wahrheit, Schascha, gibt es keine toten Dinge«, hatte ihr Vater gesagt. »Siehst du, zwischen diesen Drähten und Spulen hier fließt Energie. Überall ist Bewegung, auch wenn wir sie nicht sehen können.«

Fazit: Ich, als schon ‚satter’ Leser, suche nach etwas Besonderem, nach einer Konstellation, die irgendwie anders ist, als die mir schon bekannten, suche nach einem besonderen Charakter, einem besonderen inneren/äußeren Konflikt. Den finde ich in deiner Geschichte leider nicht.
Ich glaube, wer reine, gut gemachte Action sucht, wird Spaß an deiner Geschichte haben. Mich verwirrte die Vielzahl an Details und das Fehlen einer echten Charakterzeichnung. Aber, wie könnte es anders sein, das ist eine sehr subjektive Meinung.
Achillus, ich wünsche dir ein schönes Wochenende.

barnhelm

 

Hallo Achillus,
ich möchte auf Deine Antwort noch was ergänzen.

Das Ende ist eigentlich nicht als Cliffhanger gedacht, sondern soll nur zeigen, wie Lenka sich mit Hilfe des Code-Words aus der Affäre zieht.
Ich habe das Ende auch nicht als Cliffhanger aufgefasst. Das Ende mit dem Code fand ich sogar sehr originell und super gelöst. Nein, die Mini-Cliffhanger kommen für mich davor; ab dort, wo der erste Sprengstoff an der Tür explodiert. Wenn dir an maximaler Action gelegen ist, dann sind diese kurzen Cliffhanger-Szenen natürlich in Ordnung. Diesen Teil kann ich mir gut als Action-Comic vorstellen.
Frage am Rande: Wie ist denn die Türbombe angebracht und wie könnte man sie entschärfen?
Viele Grüße und ein schönes Wochenende
Fugu

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Barnhelm, vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Du geschrieben hast. Deine Kritik kann ich in jeder Hinsicht nachvollziehen. Ein paar Details:

Ich tue mich ein wenig schwer mit ihr. Die Flut unterschiedlicher Informationen (die verschiedenen sich bekämpfenden Gruppen, die Einordnung des Personals, die Waffen-Spezifika, die Hintergrundinformationen), die auf den ersten neuen Seiten auf mich als Leser niederprasseln, ließen mich irgendwann aufgeben und über sie hinweglesen.

Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt. Ich habe die Story ziemlich dicht gepackt. Da gibt es eine Menge Stoff zu verdauen. Das kann einen Leser überfordern. Mir selbst geht es auch oft so, dass ich eine Geschichte lesen will und plötzlich merke, mir ist das alles zu viel Information und Drumherum. Meine Hoffnung war, dass es der Mix aus Information, Dialog und Action leichter macht, das alles zu schlucken.

Und das hat nichts mit der Qualität der Filme oder Bücher an sich zu tun, sondern damit, dass ich mich an ihnen ‚satt’ gesehen oder gelesen habe. Die Spannung des Geschehens alleine hält mich heute nicht mehr. Ich möchte daneben gut gezeichnete Charaktere vorfinden, die Atmosphäre des Ortes spüren und von der Interaktion der handelnden Personen gefesselt werden.

Das kann ich gut verstehen. Ich halte das für eine Verfeinerung und Weiterentwicklung Deines persönlichen Geschmacks. Du achtest auf höhere Qualität. Ich kenne das aus einem anderen Bereich. Ich weiß noch, wie sehr mich CGI (Computer-Generated Imagery) fasziniert hat, als der Film Jurassic Park rauskam. Ist Ewigkeiten her. In den Jahren, die dann folgten, hat mich CGI immer mehr gelangweilt, weil der Effekt eben abgenutzt wirkt.

Und so ist das auch mit Action oder Spannung. Das sind Effekte. Auch qualitativ minderwertige Filme können phantastische Action haben und sehr spannend sein. Genau so in der Literatur. Der Sprung von einem gut gemachten Thriller zu einem guten Thriller ist enorm. Ich denke, dass ich so weit einfach noch nicht bin. Im Augenblick freue ich mich darüber, wenn es mir gelingt, eine komplexe Geschichte spannend in guter Sprache zu erzählen. Bis das dann mal die Qualität eines Le Carré oder Dennis Lehane erreicht, ist es ein verdammt langer Weg. Ich bin auch nicht sicher, ob das im Format einer Kurzgeschichte überhaupt möglich ist.

In früheren Zeiten hätte mir das spannende Geschehen allein gereicht, im Fokus meines Interesses hätte das Agieren der Hauptpersonen und das Gelingen oder Nichtgelingen ihrer Aktionen gestanden.

Ja, es gibt ja die klassische Unterteilung von Story-orientierten Geschichten vs. Charakter-orientierten Geschichten. Ich glaube, diese Unterteilung gilt nur bedingt, denn egal welcher Richtung man eine Erzählung zuschlägt, sie braucht eben beides, gute Story und gute Figuren. Im Fall meiner Serie hier, liegt der Fokus definitiv auf der spannenden Story. Das ist keine Charakterstudie, obwohl sie einiges Potenzial auch in dieser Richtung hat. Ich werde mal schauen, ob ich das zukünftig mehr ausbauen kann.

Denn Action, Spannung oder Plot werden ja durch eine intensivere Charakterzeichnung nicht gefährdet. Weltenläufer hatte zu meiner Jagdgeschichte angemerkt, dass ihn die biografischen Einschübe ein bisschen aus der Story rausbringen. Das ist natürlich ein Phänomen, das bei dieser Technik auftauchen kann. Aber sicher ist das auch eine Frage der Dosierung. Außerdem kann ein Charakter ja auch durch andere Techniken als biografische Einschübe gezeichnet werden.

In jedem Fall finde ich Deine Kritik hilfreich. Sie erinnert mich daran, wie viele Details zu einer wirklich guten Geschichte gehören. Vielen Dank dafür.

Gruß Achillus

_______________________________________

Hallo Fugu, schön, dass Du noch mal reingeschaut hast. Danke für die Aufklärung zu den Cliffhangern. Was die Türladungen betrifft, habe ich mir einen seismischen Erschütterungszünder vorgestellt. So etwas existiert für Antipersonen-Minen und wird per Infrarot oder Funkwelle (wenn ich mich nicht irre) scharfgestellt bzw. deaktiviert. Dabei nimmt ein Sensor Erschütterungen über den Boden auf. Schritte in Reichweite des Sensors lösen den Zünder aus.

Ob es industriell gefertigte Türladungen mit Erschütterungssensor gibt, weiß ich nicht. Aber ich denke, ein Profi wie Brom hätte sicher Zugang zu solchem Equipment. Angebracht wird die Haftladung immer an der Gegenseite. Also wenn man einen von außen angreifenden Gegner ausschalten will, bringt man die Türladung innen an.

Ursprünglich wollte ich Lenka beim Entschärfen einer Alarmanlage zeigen, aber das wurde viel zu umfangreich und wäre sich nur für wenige Leute interessant (Insider-Info hin oder her). Deshalb hab ich das Ganze ein bisschen vereinfacht.

Gruß Achillus

 

Hallo Achlllus,

wie versprochen ein paar Anmerkungen zu deinem Text, obwohl ja unterdessen barnhelm einiges kommentiert hat, das ich genauso empfinde.
So als Leseeindruck: alles klingt stilistisch-handwerklich gut, aber doch kalt und seelenlos... warum ist das so bzw, warum empfinde ich das so?
Da ist zum einen das Genre. Geheimdienste, Verbrecher, Waffen, Mord und Protagonisten, die wie Maschinen handeln, deren Motive mir nicht bekannt sind und auch nicht recht nachvollziehbar... Warum will Lenka Rache? Und warum besteht die Rache darin den Mörder zu richten? Was treibt den Killer? Was die anderen Personen?
Hinzu kommt die Genauigkeit, mit der du deine Szenerie garnierst... Eine Remington XXX (kenne ich nicht), irgendwelche Opuntien oder ähnliches... ein schmaler Grat, manchmal gelingt es dir, dadurch Stimmung zu erzeugen (immer dann wenn ich es mir selbst vorstellen kann), wenn aber nicht wird es manieristisch und klingt wie schlechte Stellen bei Marcel Proust ....
weiter unten ein paar Beispiele...

Ich meine. ich habe es echt gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt, aber da fehlte doch etwas und der Hinweis darauf, um wie viel besser irgendwelche Autoren das machen, bringt ja auch nichts (jedenfalls dann nicht, wenn man vor Ehrfurcht vor irgendwelchen Riesen erstarrt)
Kennst du Krmis von Fred Vargas? Die schafft es jeder Figur eine eigene Note zu geben und das mit Kleinigkeiten, irgendeine Marotte, irgendetwas...
Ich meine: versuch doch mal was, die Grundlagen hast du doch...

So und nun zum Text:

»O Schmerz. Die Zeit trinkt unsren Lebenssaft. Der dunkle Feind, der uns am Herzen zehrt. Und sich von unsrem Blute stärkt und mehrt.«
wie kommt die Killermaschine auf so einen affektierten Spruch?

Lenka wusste, dass es keine Möglichkeit gab, die gemeinsame Zeit, die ihr und ihrem Vater gestohlen worden war, zurückzugewinnen. Was auch immer jetzt geschehen würde, nichts könnte den Schmerz dieses Verlusts lindern.
hier wäre so eine Stelle aus der du mehr machen kannst und Lenka damit lebendiger wird... hier verlierst du dich ins Allgemeine (obwohl du sonst so präzise bist)... sie könnte doch stattdessen zB an einen Sommerabend denken, den sie mit ihrem Vater verbracht hat...

Seit einigen Jahren verwendete er für Jobs dieser Art ein Remington Police 700, ein Scharfschützengewehr, das als Standardausrüstung der US-Polizeieinheiten einen ausgezeichneten Ruf besaß.
wenn du das mit der Remongton schon bringst, dann erklär wenigstens die Vorteile dieser Waffe...

Insbesondere die Situation kurz vor dem Einsteigen in ein parkendes Auto galt im Metier des Personenschutzes grundsätzlich als besonders gefährlich.
so: jetzt weiß ich wie ich es mache ;)

Es handelte sich um eine Distanz von etwa fünfundneunzig Metern. Brom wusste genau, wo der ideale Einschusspunkt lag – mittig, etwas über dem Ohr. Eine Kugel, die an diesem Punkt den Schädel traf, würde das Kleinhirn zerreißen.
also ich kann 95 Meter nicht einschätzen, zwischen 80 und 100 vielleicht.... das mit dem Einschusspunkt ist irgendwie logisch, da würde ich auch draufhalten, müsste ich es, aber dann ist das Gewehr schlecht eingestellt und ich treffe das Ohrläppchen...

Sie roch den Schimmel, der sich durch das Mauerwerk der Häuser ringsum arbeitete. Ganz in der Nähe durchstöberten zwei Katzen einen aufgeplatzten Müllsack. Am Ende der Straße, etwa fünfzig Meter entfernt, parkte ein schwarzer Van.
das ist gut: genau das richtige Maß

»Verdammte Scheiße«, stieß Risco hervor und hob die Hände. In sein grobes Gesicht mit den wuchernden Bartstoppeln und den gelben Zähnen stand für einen Moment das Erschrecken eines Mannes geschrieben, der unbewusst Tag für Tag mit dem Tod rechnete, doch dann gewann die Gangsterseele wieder Oberhand, und Risco setzte ein verächtliches Grinsen auf.
das ist Klischee, als ob jeder Verbrecher gelbe Zähne hat, aus ner Pizzaschachtel isst usw.

»Schau mich an«, sagte Lenka noch einmal, und in diesem Moment zuckte die Klinge des Springmessers, das sie in der rechten Hand hielt, direkt vor Riscos Augen wie eine Flamme in die Höhe.
»Letzte Chance«, sagte Lenka.
Riscos Augen traten aus den Höhlen.
»Okay«, flüsterte er.
klar: der Macho lenkt ein, als es ihm an die Eier geht... dabei gibt es waterboarding und den ganzen anderen scheiß

Lenka dachte daran, wie ihr Vater sie die Sternbilder gelehrt und ihr erklärt hatte, dass die Menschen wenig über den grenzenlosen Kosmos wussten - einen auf unveränderlichen Urgewalten gründenden Kosmos, der gegen das Schicksal der Menschen gleichgültig war. Und in dieser Nacht schien ihr das kalte Licht der weitentfernten Sonnen besonders abweisend.
hier versuchst du was über die Beziehung zu ihrem Vater zu sagen, das kommt aber spät und unvermittelt...

Garten. Zwischen Steineichen und Zypressen wucherten Seidelbaststräucher, und der herbe Duft von Opuntienblüten lag in der Luft.
hier die Opuntien und deine kleine Einführung in die Fauna der Gegend um Huelva... herb riecht auch Dreck... und Opuntien muss ich erst mal googlen und das Wort klingt schon hässlich...

Da standen eine Kommode, ein Tisch, ein Schrank und ... ein Bett.
bei Naturbeschreibungen bist du genau, warum hier nicht?

»Die Teufelsschar, die uns zerstören muss.«
wieder so ein Spruch... als wollten Verbrecher Poeten sein...

Da geht noch einiges, Achillus. Du hast gute, ja sehr gute Grundlagen...
Mehr Leben, mehr Licht :)
viele Grüße
Isegrims

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Isegrims,

vielen Dank für Deinen Kommentar und die vielen hilfreichen Hinweise. Das ist viel guter Stoff zum Nachdenken und auch Material, mit dem ich sowohl diesen fünften Teil ein wenig verbessern, als auch zukünftig meine Geschichten mehr ausbalancieren kann.

Da ist zum einen das Genre. Geheimdienste, Verbrecher, Waffen, Mord und Protagonisten, die wie Maschinen handeln, deren Motive mir nicht bekannt sind und auch nicht recht nachvollziehbar... Warum will Lenka Rache? Und warum besteht die Rache darin den Mörder zu richten? Was treibt den Killer? Was die anderen Personen?

Ja. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Genres, dass wir häufig wenig bis gar nichts über die Motivlage der Helden erfahren. James Bond ist ein kalter Hund, von dem keine Sau weiß, was den antreibt. Ebenso Sam Fisher oder Kurt Wallander. Offenbar genügt den Autoren häufig der Beruf des Helden, um seine Motivation hinreichend zu begründen. Man kann es aber auch besser machen, wie beispielsweise Graham Greene oder Le Carré.

Im Fall meiner Thriller-Serie wurde die grundsätzliche Motivation von Lenka (bei Sundberg im Geheimdienst mitzumachen) bereits behandelt. Die aktuelle Geschichte zeigt, dass sie den Killer ihres Vater zur Strecke bringen will. Das finde ich keine zu weit hergeholte Motivation, wenn man berücksichtigt, in welchen Kreisen Lenka sich bewegt.

Die Motivation der anderen Personen zu beleuchten ist nicht ganz leicht. Einerseits würde es vielleicht den Rahmen einer Kurzgeschichte sprengen, andererseits ist eben ein Auftragskiller wie Brom einfach jemand, der Menschen für Geld tötet. Und drittens ist ein Wechsel zur die Innenperspektive des Killers handwerklich schwierig, weil sich das schnell mit der Perspektive von Lenka beißen könnte.

Hinzu kommt die Genauigkeit, mit der du deine Szenerie garnierst... Eine Remington XXX (kenne ich nicht), irgendwelche Opuntien oder ähnliches... ein schmaler Grat, manchmal gelingt es dir, dadurch Stimmung zu erzeugen ... wenn aber nicht wird es manieristisch

Ja, ich sehe, dass es ein Problem gibt, wenn man über die Benennung von Klassen (Gewehr/ Pflanze) zu Elementen (Remington/ Opuntia) hinausgeht, die der Leser vielleicht nicht kennt. Da finde ich Deinen Hinweis gut, beispielsweise die Eigenarten des Remington genauer zu beschreiben.

Unter Manierismus verstehe ich allerdings einen Stil, der launenhaft, auf Überraschung getrimmt daherkommt und mit rätselhaften Allegorien um sich wirft, prunkhaft aufgeblasen ist. Der Hinweis auf den herben Duft der Opuntien sehe ich nicht als manieristisch an. Aber ich werde mich damit mal befassen.

Kennst du Krmis von Fred Vargas? Die schafft es jeder Figur eine eigene Note zu geben und das mit Kleinigkeiten, irgendeine Marotte, irgendetwas...

Nee, den kenn ich nicht. Vielleicht ein Lesetipp. Jedenfalls glaube ich auch, dass man mit solchen Kleinigkeiten viel über einen Charakter aussagen kann. Ich werde das zukünftig mehr beachten.

wie kommt die Killermaschine auf so einen affektierten Spruch?

Ey! Das ist nicht irgendein Spruch, das ist Baudelaire, Du Banause. Zugegeben, ich erkläre nicht, weshalb der Brom den zitiert. Es war von mir eben als eine solche Charakterisierung der Figur gedacht: Er will seinen brutalen Handlungen damit einen rätselhaften, poetischen oder religiösen Zug verleihen.

hier wäre so eine Stelle aus der du mehr machen kannst und Lenka damit lebendiger wird... hier verlierst du dich ins Allgemeine (obwohl du sonst so präzise bist)... sie könnte doch stattdessen zB an einen Sommerabend denken, den sie mit ihrem Vater verbracht hat...

Guter Punkt.

wenn du das mit der Remongton schon bringst, dann erklär wenigstens die Vorteile dieser Waffe...

Werde ich machen.

das ist Klischee, als ob jeder Verbrecher gelbe Zähne hat, aus ner Pizzaschachtel isst usw.

Stimmt, das werde ich nachbessern.

klar: der Macho lenkt ein, als es ihm an die Eier geht... dabei gibt es waterboarding und den ganzen anderen scheiß

Naja, das hat für mich eigentlich mehr mit Lenka zu tun, die ihr persönliches Programm der Befreiung da durchzieht. Schließlich war sie jahrelang Spielzeug von Männerphantasien ...

hier versuchst du was über die Beziehung zu ihrem Vater zu sagen, das kommt aber spät und unvermittelt...

Werde ich drüber nachdenken.

bei Naturbeschreibungen bist du genau, warum hier nicht?

Stimmt, das könnte man präzisieren.

Da geht noch einiges, Achillus. Du hast gute, ja sehr gute Grundlagen...
Mehr Leben, mehr Licht

Sehe ich auch so, da kann man noch mehr rausholen. Vielen Dank für Deine Hinweise, Isegrims.

Gruß Achillus

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom