Hallo Gregor,
herzlich willkommen hier. Du nimmst dich ja eines sehr spannendes Themas an: dem Fall Göldi, die als 'die letzte hingerichtete Hexe Europas' bekannt wurde, was so ganz nicht stimmt (ich meine, der wirklich letzte Fall sei in Polen gewesen). Göldi wurde auch nicht wegen Ketzerei / Hexerei verurteit, sondern wegen Giftmordes, sonst wäre sie auch sicher nicht enthauptet worden.
Ich denke, dieses Thema ist noch lange nicht auserzählt und es ist wirklich lobenswert, dass du dich dessen angenommen hast. Bei dem Text selbst könnte ich einige handwerkliche Nacharbeit sehen, die deine Geschichte eindrucksvoller und unmittelbarer machen könnte. Hier ein paar Anmerkungen:
Ich bin gerade hinter dem Schopf
Das mag am Dialekt liegen, aber vor allem, da man noch nicht weiß, worum es geht, war ich gleich mal verwirrt, weil ich nur an einen Haarschopf dachte.
schreit: «es schlägt gleich drei, es geht gleich los, sie fangen an!»
Wörtliche Rede korrigiert und einen Vorschlag zur Dynamik: .... schreit: «Es schlägt drei! Gleich geht es los, sie fangen an!»
musste ich schon einmal einem solchen Ereignis, wie dem Bevorstehenden, beiwohnen.
Kommas raus, da Vergleich mit
wie.
zwanzig (Zahlen bis zwölf in literarischen ausschreiben, schöner noch alle, solange sie nicht unlesbar lang werden.)
Aber nachdem ich dem Vollzug zugesehen hatte, konnte ich Wochenlang kaum schlafen.
wochenlang
Der dumpfe Klang des brechenden Genicks, als die Scharfrichter die Frau, Catherine, hiess sie glaub ich, erdrosselten, und der ledrige, beissende Gestank, während sie langsam auf dem Scheiterhaufen verbrannte bis nur noch ein Teil ihres Oberkörpers als verkohlter Haufen übrig blieb, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Er fragt und korrigiert sich selbst wie sie hieß? Das klingt nicht glaubhaft. Ich vermute fast, du hast einen anderen historischen Fall im Kopf, den du uns Lesern hier unterjubeln willst. ;-)
Dafür, dass ihn das alles anwidert, erzählt er das aber alles ganz schön blumig ... ich lese hier zu sehr den Autor raus, der das vermitteln möchte, als dass ich glaube, dass dein Prot das so denkt. Zumal er sich da ja selbst beschreibt - mehr nach Widerwillen und dem Nachklang ein des damaligen Schocks wäre eine stärker zerfaserte, burchstückhaftere Version, in der wir Leser auch einiges im Kopf abspielen lassen, anstatt alles Wort für Wort zu lesen. Das ist dann auch immer schrecklicher.
Und: Knochen brechen ... klingt das dumpf? Klingt das überhaupt? Wie nah stand er, um das wirklich zu hören? Das sieht für mich aus wie ein typisches Versatzstück aus dem Horror, eigentlich mehr in Anlehnung an Filme, die diese Soundeffekte oft verwenden. Sowas kann man durchaus recherchieren (real gore sites), wenn man den Nerv dazu hat. Du hast das Thema ja selbst gewählt ...
Seit ich mit ihr verheiratet bin, bin ich bestens über den Glarner Tratsch im Bilde. Als ich das erste Mal den Steckbrief gesehen habe, mit dem Anna Göldi gesucht wurde, hatte ich schon die leise Vermutung, dass es sich wieder um eine solche Hexenjagd handeln würde.
Ab hier habe ich ein Problem mit dem Text. Ich verstehe schon, dass es nicht leicht ist, historische Tatsachen sowohl korrekt, vollständig und dabei auch authentisch rüberzubringen und gleichzeitig eine Kurzgeschichte erzählen zu wollen. Bei deinem Text wünsche ich mir einen weiteren Arbeitsdurchgang, in dem du dich mehr in deine Figuren vesetzt und weniger Fakten aufzählst. Wenn ich mal kurz schaue, wie das auf Wikipedia klingt, muss ich eine unvorteilhafte Übereinstimmung entdecken - will sagen: Eine Erzählung ist immer eine Art unausgesprochene Übereinkunft zwischen Autor und Leser, bei dem klar ist, dass der Icherzähler das gerade nur so beschreibt, weil der Leser die Geschichte erfahren soll, und nicht, weil solche Gedanken wirklich realistisch wären. In gut aufgezogenen Geschichten funktioniert das als eine Variante des suspension of disbelief: Ich weiß schon, dass so niemand denkt, aber die Sprache ist so lebendig, anders glaubhaft, dass ich trotzdem mitten drin bin.
Dadurch, dass du so viel referierst und das betreibst, was man in der SciFi als "Infodump" bezeichnet, kann ich a) nicht einsteigen und b) nehme ich dir deinen Erzähler nicht ab. Da würde es z.B. helfen, wenn du Szenen und Charakterisierungen zusetzen würdest, die gar nichts mit der Hinrichtung oder dem Fall zu tun haben, sondern einem den Alltag dort und die Personen näherbringen würden.
Dass seine Frau eine Klatschtante ist, liest sich für mich auch einfach als etwas faulen Kniff, warum der Mann all diese Details kennt (Leseeindruck, keine Unterstellung!).
Elsbeth sagte mir, Anna sei ja gar keine Hexe.
Das wieder finde ich toll, das ist ein lebendiger Satz, der deutet was an, da klingt auch sowas wie Naivität der Frau durch.
dass Herr Tschudi, der Regierungsrat bei dem Anna als Magd arbeitete, ein Verhältnis mit ihr hatte und sie deswegen beseitigen wolle. Ich kenne Tschudi, er ist Richter, Ratsherr, Arzt und eben Regierungsrat.
Infodump. Hier wird einfach zu offensichtlich, dass Infos an den Leser gebracht werden sollen. Es gibt in diesem Moment keinen ersichtlichen Grund, warum der Prota das alles für sich nochmal aufzählt. Daran wird klar, dass dieser Fall Göldi wesentlich mehr Platz braucht, als du ihm in der Kürze deines Textes zugestehst.
Diese Bühne nennt sich Schafott.
Ich frage mich, wie sie sich so blenden lassen konnten, schliesslich lautete der Vorwurf, Anna hätte einer Tochter Tschudis, Nadeln in die Milch gezaubert, um sie so zu töten. Lächerlich. Nun kommen die Scharfrichter aus dem Rathaus, zusammen mit Göldi.
Woher kennen Zivilpersonen die Details des Verhörs, der Folter und des Prozesses?
Die moralische Überheblichkeit deines Erzählers finde ich hier unangenehm. Wenn ihn das alles so anekelt und schockiert, warum geht er zur Hinrichtung? Seine Frau dürfte da auch allein hin. Es gab keinen Zwang, dem beizuwohnen. Er schaut sich da an, berichtet uns das in blutigen Einzelheiten, nur um sich dann über die Menge zu echauffieren. Ein netter Dreh hier hätte sein können, dass er sich wegdreht, nur hört, was verlesen wird, wie die Leute reagieren, wie der Kopf auf die Bretter aufschlägt, aber alles, was er davon erzählt, findet in seiner Vorstellung statt, und wird nicht beobachtet. Nur ne Idee.
Du fällst an einigen Stellen aus dem sachlichen Register ins Umgangssprachliche. Klingt sogar nach Teenieslang. Eher vllt:
zerstört u.ä.
Wahrscheinlich von der Streckfolter der Sie die letzten Tage ausgesetzt war.
Woher kennt er die Details?
Wenn keine Anrede,
sie klein.
Einer der drei Scharfrichter, Johann Jakob Volmar, ist Arzt.
Ja, das war so üblich, durch ihre Anatomiekenntnisse und die Versorgung der Gefolterten verdienten sich Henker oft auch als Heiler außerhalb der Gefängnismauern. Aus welchem Grund bringt der Erzähler das aber hier an? Diese Tätigkeit spielt in dieser Hinrichtungsszene ja keine Rolle, und für den Prot selbst vermutlich auch nicht. Verstörender wäre z.B. wenn der Henker kürzlich den Prota behandelt hätte, und der Erzähler eben daran denkt, in dem der Henker eine andere Profession ausübt, und da hättest du gleich einen lebendigen Gegensatz.
Kein Wunder liessen Sie ihn herkommen.
Nochmal sie. Hier ist die Syntax bissl verquer. Vllt.
Es war nicht vewunderlich / verwunderte nicht, dass die ihn haben kommen lassen / herkommen ließen.
Probanden stets nach der Streckfolter, die Schultern wieder fachmännisch einhängt, damit das Prozedere noch einmal durchgeführt werden kann.
Nochmal: woher weiß er das? Wieviele Details der Verhöre waren dem 'einfachen Mann von der Straße' bekannt damals? Das klingt alles leider zu sehr nach Wikipedia. Recherche ist ein ganz wichtiger Teil, den du auch geleistet hast, aber sie sollte nicht einfach nacherzählt werden, sondern verarbeitet, damit sich die Info lebendig und natürlich anhört.
Wie auch immer, letzte Nacht
Hier fällst du wieder aus dem Register, das klingt unangemessen flapsig, fast wie Stand-up Comedy.
Diese widerliche Urteilsverlesung. Ich mag gar nicht hinhören. Aber das einfache Bauernvolk hier glaubt das ja und prustet sogar fröhlich mit! Wobei, der vorherrschenden Fahne nach, dürfte das Urteilsvermögen der Mehrheit, der hier Anwesenden, ohnehin nicht viel taugen.
Wie schön, dass der Erzähler so da drüber steht. Es wäre sehr viel spannender, wenn er nicht klingen würde, wie es im modernen und postmodernen Zeitalter verlangt wird (und auch nur selten realistisch ist). Mir fehlt in dem Text ein Bruch, ein doppelter Boden und das, was eigentlich eine Kurzgeschichte ausmacht: eine innere und/oder äußere Entwicklung und vor allem ein Konflikt. (Die Hinrichtung selbst ist keiner im literarischen Sinne.) Was dieser Text noch ist: Eine herausgehobene Einzelszene: Mann geht zu einer Hinrichtung und berichtet über das, was er sieht sowie über den Hintergrund des Falles. Was du brauchst, ist aber eine Kurzgeschichte, und das wäre eben mehr als diese eine Szene.
Totenstille
Das Wort gibt es nicht, es klingt auch sehr nach Büroalltag.
Scherge wäre passender, das habe ich schon in historischen Quellen zum Thema gelesen.
Ich vernehme den gellenden Aufschrei eines kleinen Mädchens und werde im Pulk umhergeschoben. Wo ist Elsbeth
So ungefähr hätte ich mir die ganze Geschichte gwünscht. Weniger referiert, mehr unmittelbar. Besser noch (da klar ist, dass er das vernimmt, wenn er es erzählt):
Der gellende Schrei eines Mädchens / ein Mädchen schrie (...). Wo ist Elsbeth?
Ich hoffe, du kannst mit meinen Anmerkungen etwas anfangen. Ich wäre gespannt, wie der Text nach einer Überarbeitung aussieht. Da dürften auch ruhig noch einige Seiten hinzukommen, das alles sollte weniger berichtet werden, sondern sich lebendiger entwicklen. Aber wie gesagt, tolles Thema, gut recherchiert, guter Ansatz. Ich bin sicher, du schaffst es, hier nachzulegen.
Falls du mal in überaus gelungene Beispiele schauen willst, die akribisch recherchierte Fakten mit einer engagierten, sehr lebendigen Sprache und nachvollziehbaren Protagonisten in Fiktion verbinden, kann ich diese empfehlen:
Michael Kunze: Straße ins Feuer. Knauer 1997
Wolfgang Lohmayer: Die Hexe. 1978
In dem Stil ließe sich auch eine KG schreiben.
Viele Grüße,
Katla