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964 Tage
Sie sah an sich hinunter. Einen Moment lang glaubte sie wirklich, da wäre gar nichts. Dachte, sie wäre nicht da, dachte, alles sein verschwunden. Alles... ihr hallblaues, schlichtes T-Shirt von H&M, ihre dunkle Miss-Sixty Jeans, die fast jedes Mädchen in der Kleinstadt hatte. Aber sie war da. Alles war so, wie es sein sollte.
Trotzdem rempelte sie jeder an, der über den Marktplatz rannte.
„’tschuldigung, ich habe dich nicht gesehen.“
Sie war fast 19, und immer noch duzten sie alle. Sogar die Kellner.
Irgendwann, endlich, kam Felix.
Sie lächelte ihn an.
„Hallo, Kleines“
Er umarmte sie, während die Oma, die an ihnen vorbei ging, die beiden abfällig musterte und ihrer mindestens 85 Jährigen Begleiterin etwas zumurmelte.
Sie kannte das nur zu gut. Wusste, ohne dass sie etwas verstand, was sie sagten.
„Wie kann nur so ein nettes Mädchen mit so einem was anfangen.“
Sie passten nicht zusammen, das wusste sie, das wussten alle. Sein roter Iro und seine zerlumpten Kleider, die man eher Fetzen nennen musste, standen im krassen Kontrast zu ihrem schüchternen Auftreten.
Sie liebte es, mit ihm aufzufallen. Sie liebte ihn.
Nur mit ihm traute sie sich zu lachen. Nur mit ihm fühlte sie sich wohl. Nur mit ihm war sie sicher, oder fühlte sich wenigstens so. Das erste Mal, seit diesem schrecklichen Tag.
Aber sie hatte Angst, es ihm zu zeigen, es ihm nie sagen.
Er sah in die Augen, schob ihren Ärmel hoch und strich über das frische Narbengewebe. Sie zuckte zusammen. Es tat immer noch weh. Dann stemmte er sie hoch, mit beiden Armen hob er sie über den Kopf, wie bei einer Eiskunstlauffigur.
„Wenigstens hast du nicht viel abgenommen.“
Fast hatte es vorwurfsvoll geklungen. Gott sei Dank nur fast.
„Nicht mal ganz ein Kilo...“
„Wie lange ist es jetzt her?“
Es waren genau 964 Tage.
„Fast drei Jahre.“
Er mochte es nicht, wenn sie die Tage zählte.
„Ich mache mir wirklich sorgen um dich, Caro. Du hattest seitdem keinen Freund mehr. Du musst darüber hinwegkommen. Natürlich, es ist schrecklich, wenn ein Typ so was mit dir macht, aber.... nicht alle Jungs sind so!“
Sie wusste, das nicht alle Männer gleich waren. Er, Felix, war anders. Aber irgendjemand hatte einmal gesagt:
„Freundschaft ist der Preis, den man für die Liebe zahlen muss.“
Und dieser Preis war hoch für etwas, das sie vielleicht gar nicht bekommen wurde, nicht von ihm. Und ohne ihn... sie wusste nicht, was dann sein sollte.
Andererseits war es alles andere als leicht, ihn mit anderen Mädchen Tanzen oder lachen zu sehen.
Er schwieg, während er mit seinem Armband spielte. Das zeigte ihr, das er darüber nachdachte, wie er das, was ihm auf der Seele brannte, am besten formulieren sollte.
Das war ihr sehr recht. So konnte sie in Ruhe überdenken, was sie vorhatte.
Es dauerte lange, bis er anfing zu sprechen.
„Haben sie in immer noch nicht gefangen, deinen...“
Sie küsste ihn. Teils, weil sie es wollte, weil sie ihn liebte, teils, weil sie es nicht ertragen würde, wenn er „Vergewaltiger“ sagt und sie ihn so zum schweigen brachte.