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964 Tage

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11.07.2004
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964 Tage

Sie sah an sich hinunter. Einen Moment lang glaubte sie wirklich, da wäre gar nichts. Dachte, sie wäre nicht da, dachte, alles sein verschwunden. Alles... ihr hallblaues, schlichtes T-Shirt von H&M, ihre dunkle Miss-Sixty Jeans, die fast jedes Mädchen in der Kleinstadt hatte. Aber sie war da. Alles war so, wie es sein sollte.
Trotzdem rempelte sie jeder an, der über den Marktplatz rannte.
„’tschuldigung, ich habe dich nicht gesehen.“
Sie war fast 19, und immer noch duzten sie alle. Sogar die Kellner.
Irgendwann, endlich, kam Felix.
Sie lächelte ihn an.
„Hallo, Kleines“
Er umarmte sie, während die Oma, die an ihnen vorbei ging, die beiden abfällig musterte und ihrer mindestens 85 Jährigen Begleiterin etwas zumurmelte.
Sie kannte das nur zu gut. Wusste, ohne dass sie etwas verstand, was sie sagten.
„Wie kann nur so ein nettes Mädchen mit so einem was anfangen.“
Sie passten nicht zusammen, das wusste sie, das wussten alle. Sein roter Iro und seine zerlumpten Kleider, die man eher Fetzen nennen musste, standen im krassen Kontrast zu ihrem schüchternen Auftreten.
Sie liebte es, mit ihm aufzufallen. Sie liebte ihn.
Nur mit ihm traute sie sich zu lachen. Nur mit ihm fühlte sie sich wohl. Nur mit ihm war sie sicher, oder fühlte sich wenigstens so. Das erste Mal, seit diesem schrecklichen Tag.
Aber sie hatte Angst, es ihm zu zeigen, es ihm nie sagen.
Er sah in die Augen, schob ihren Ärmel hoch und strich über das frische Narbengewebe. Sie zuckte zusammen. Es tat immer noch weh. Dann stemmte er sie hoch, mit beiden Armen hob er sie über den Kopf, wie bei einer Eiskunstlauffigur.
„Wenigstens hast du nicht viel abgenommen.“
Fast hatte es vorwurfsvoll geklungen. Gott sei Dank nur fast.
„Nicht mal ganz ein Kilo...“
„Wie lange ist es jetzt her?“
Es waren genau 964 Tage.
„Fast drei Jahre.“
Er mochte es nicht, wenn sie die Tage zählte.
„Ich mache mir wirklich sorgen um dich, Caro. Du hattest seitdem keinen Freund mehr. Du musst darüber hinwegkommen. Natürlich, es ist schrecklich, wenn ein Typ so was mit dir macht, aber.... nicht alle Jungs sind so!“
Sie wusste, das nicht alle Männer gleich waren. Er, Felix, war anders. Aber irgendjemand hatte einmal gesagt:
„Freundschaft ist der Preis, den man für die Liebe zahlen muss.“
Und dieser Preis war hoch für etwas, das sie vielleicht gar nicht bekommen wurde, nicht von ihm. Und ohne ihn... sie wusste nicht, was dann sein sollte.
Andererseits war es alles andere als leicht, ihn mit anderen Mädchen Tanzen oder lachen zu sehen.
Er schwieg, während er mit seinem Armband spielte. Das zeigte ihr, das er darüber nachdachte, wie er das, was ihm auf der Seele brannte, am besten formulieren sollte.
Das war ihr sehr recht. So konnte sie in Ruhe überdenken, was sie vorhatte.
Es dauerte lange, bis er anfing zu sprechen.
„Haben sie in immer noch nicht gefangen, deinen...“
Sie küsste ihn. Teils, weil sie es wollte, weil sie ihn liebte, teils, weil sie es nicht ertragen würde, wenn er „Vergewaltiger“ sagt und sie ihn so zum schweigen brachte.

 

Hi Jägerin!

Sie war fast 19, und immer noch duzten sie alle. Sogar die Kellner.
Mit 19 wollte ich übrigens noch von jedem geduzt werden. Will ich eigentlich selbst heute noch...

Es waren genau 964 Tage.
„Fast drei Jahre.“
Er mochte es nicht, wenn sie die Tage zählte.
:thumbsup:

Ich muss sagen: ich finde deine Geschichte stark.
Du beschreibst die Figur toll, einfach toll. Und das mit wenigen Worten. Und das Ende ist auch schön - ich bin nun mal ein Romantiker. (Bevor ich jetzt gesteinigt werde: natürlich nicht die Vergewaltigung, sondern dass sie ihn am Schluss einfach küsst...)
Du hast eine sehr alltägliche Situation - das man seine(n) "normale(n)" Freund(in) liebt - so schön und treffend beschrieben, Hochachtung.

In diesem Sinne
c

P.S.: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Teil mit der Vergewaltigung für diese Geschichte unbedingt notwenig ist. Sie wirkt ohne diese negative Komponente vielleicht viel besser. Ist nur so eine Idee...

 

Danke, chezar!:D

Echt nett von dir! wahrscheinlich hätte ich, wenn die erste Kritik negativ ausgefallen wäre, nicht weiter geschrieben (ich hatte richtig schiss *g*)... so werde ich euch alle noch mit vielen geschichten bombardieren.
Also, ich bin noch keine 19, kann allso nicht wirklich sagen, ob ich gedutzt werden will oder nicht. Aber irgendwie glaub ich nicht, das ich gedutzt werden wollte, wenn es sowieso jeder als selbstverständlich nehmen würde.
Und das Negative... das ist eine meiner positivsten Geschichten, die ich zur zeit geschrieben kriege. Mal sehen, vielleicht lass ichs aber wirklich drausen.

Jägerin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Jägerin,

mich dutzen auch noch fast alle, aber ich mag das :D So ist das eben, erst kann man es kaum erwarten, erwachsen zu werden und dann :rolleyes:

Aber nun zu Deiner Geschichte. Sie hat mir gefallen, die "ungewöhnliche" Freundschaft und die Gedanken, die man sich macht, wenn man sich in einen Freund verliebt.

Sie sah an sich hinunter. Einen Moment lang glaubte sie wirklich, da wäre gar nichts. Dachte, sie wäre nicht da, dachte, alles ein verschwunden.

Schöne Stelle, aber ich glaube, Du wolltest schreiben alles sei verschwunden

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo Jägerin!

Herzlich willkommen :)

Zur Geschichte: hat mir gut gefallen. Stilistisch angenhem zu lesen, und mit einem sehr schönen Ende.
Ein paar Kleinigkeiten dennoch:

zusammen, dass wusste sie, dass wussten alle.
das
Das erste mal, seit diesem schrecklichen Tag.
Mal

Und: ist es wirklich das erste Mal? Es macht den Eindruck, dass sie öfter mit ihm unterwegs ist, an dieser Stelle schreibst Du allerdings, als wäre dies, nach fast 3 Jahren, eben das erste Mal ...

Wie lange ist es jetzt her?“
Es waren genau 964 Tage.
„Fast drei Jahre.“
Er mochte es nicht, wenn sie die Tage zählte.
Einerseits starke Stelle. Andererseits: warum stellt er die Frage, wenn sie sich öfter sehen, wie ich vermute und gut befreundet sind? Ich sehe die Stelle eher als Informationsquelle für den Leser, weniger als sinnvolle und nachvollziehbare Unterhaltung in der Situation.

ihn mit anderen Mädchen Tanzen.
tanzen
Das zeigte ihr, das er darüber nachdachte
dass
„Haben sie in immer noch nicht gefangen, deinen...“
noch so eine Stelle, die wohl für den Leser Info transportieren soll, in der Unterhaltung allerdings recht unsensibel und auch meiner Meinung nach eher unglaubwürdig rüberkommt.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo ihr alle.

Gori, danke, hab's schon geändert *g*

anne... das sollte weniger heißen, dass sie in diesem moment das erste mal so fühlt, sondern, dass es ihr bisher nur mit ihm so gegangen ist...
und mit dem anderen hast du vielleicht recht... muss den schluss sowieso nochmal überdenken... und den titel auch *g*

nette grüße,
Olga

 

Servus,

auch von mir ein Willkommen! :)

Deine Geschichte ist in einem zwar unspektakulären, aber angenehmen und flüssigen Stil geschrieben. Der erste Absatz ragt sogar noch etwas hervor, da du hier in abstrakte Gedankenwelten (das Verschwinden) eintauchst - ein guter Start, er macht neugierig (zumindest mich).
Die Figuren hast du gut dargestellt. Du lieferst genug Informationen, um sich ein deutliches Bild von der Protagonistin (es fällt nicht einmal auf, dass sie anonym bleibt!), Felix und beider Leben zu machen.

Sehr interessant finde ich den leisen Kontrast zwischen dem Ende und dem Haupttenor der Geschichte. Die Protagonistin ist bemüht, ihre schrecklichen Erlebnisse möglichst sachlich zu verarbeiten. Dass sie die Tage akribisch zählt, ist (so seh ich es jedenfalls) ein deutlicher Hinweis darauf. Auch versucht sie, ihre Gefühle im Allgemeinen unter Kontrolle zu behalten. Sie hat Angst, ihnen nachzugeben, da die Vergewaltigung damals anscheinend aus einer Beziehung - eine sehr gefühlsmäßige Angelegenheit - hervorgegangen ist. Ein großer Teil dieser Gefühle besteht nämlich aus Angst und - bei Vergewaltigungen immer sehr massiv - aus Scham.
Beides kann sie beim Zusammensein mit Felix überwinden, weshalb sie seine Gegenwart so sehr genießt. Dummerweise lässt sich diese Beziehung nicht auf eine sachliche Ebene beschränken: die Protagonistin hat Gefühle für Felix entwickelt, die sie sich, da sie nunmehr an das Gefühl-Unterdrücken gewöhnt ist, nicht auszuleben erlaubt.
Als nun aber Felix die Ursache für all die Wallungen und Unterdrückungen erwähnt, werden die Gefühle zu stark, um sie länger zurückzuhalten...

Na schön, ich hab eigentlich keine Ahnung von Psychologie, aber ich lasse mich gerne zu solchen Interpretationen hinreißen... Danke für die Geschichte, die mir die Möglichkeit dazu bot! :D

Schönen Gruß,
Artnuwo

 

Hallo, Hobbypsychologe!

Danke, das ihr mich alle so lieb aufnehmt!
Darf ich dir einen tipp geben? Sag nicht, das du keine Ahnung von Psychologie hast, ich hätte es dir ganz klar abgenommen, das ganze psycho-zeug.
Meine Protagonistin... ist fast unsichtbar und deshalb auch annonym. Namen schaffen nur die Voreingenommenheit gegen die Person, die man eigentlich gar nicht kennt.

Grüße (ohne schön, nett oder lieb)
Jägerin

 

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