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Abendrot
Das Telefon zeigt eine unbekannte Nummer, und das gefällt mir gar nicht. Schließlich bin ich ein gebranntes Kind. Telefonbelästigung. Keine schöne Sache, wenn man allein wohnt. Doch ich kann dem Klingelton nur selten widerstehen. Dazu bin ich viel zu neugierig. Wenn es wieder so ein ekelhafter Keucher ist, lege ich einfach auf.
Also nehme ich den Anruf an. Aber nur, weil es Montag ist, um zehn Uhr morgens, nach einem öden Wochenende, dessen Höhepunkt darin bestand, dass alle halbe Stunde die Halloween-Kinder klingelten, um "Süßes oder Saures“ zu verlangen.
"Guten Morgen“, sagt eine Männerstimme, "entschuldigen Sie bitte, aber spreche ich mit Christel Eberle? Ich bin Horst Gabler."
"Christel Eberle? Ja, so hieß ich früher mal. Aber wieso ... Horst, sagen Sie, Horst, bist du's?"
"Na, du hast ja schnell geschaltet. Bist immer noch fix und bestimmt fit wie ein Turnschuh."
Der Anruf reißt mich zurück in die Vergangenheit.
Horst, mein Studentenfreund aus dem ersten Semester. Ich hatte ihn mal gefragt, wie er auf mich aufmerksam geworden sei.
"Hübsche Beine. Ich saß hinter dir im Seminar. Du hattest sie immer um die Stuhlbeine geschlungen. Sah richtig sexy aus."
Wir hatten eine unbeschwerte Zeit zusammen, mit vielen Kneipenbesuchen und harmloser Knutscherei. Kurz bevor ich nach Westberlin abdampfte, erfuhr ich, dass er auch noch bei anderen Mädels auf der Pirsch war. Horst also, der Mehrspurige.
"Sag mal, hättest du nicht Lust zu einem Treffen? Wir könnten einen Stadtbummel machen und über alte Zeiten reden. Ich mache gerade eine Erinnerungstour ..."
"Allein? Hast du keine Familie?"
"Doch, zwei Töchter und ein Enkelkind ... Aber ... Meine Frau ist vor drei Monaten gestorben. Nächstes Jahr wollten wir Goldene Hochzeit feiern."
"Oh je, das ist hart … ich weiß, wovon du redest. Wo wohnst du eigentlich?"
"In Rottweil. Aber lass uns das in Ruhe besprechen. Wenn du mir deine E-Mail-Adresse gibst, kriegst du alles erzählt. Du hast doch eine? Jetzt muss ich packen. Ich fahre mit einer Freundin für eine Woche nach Schottland, da habe ich drei Jahre lang als Dozent gelebt."
"Wie du willst. Meine ist ganz leicht zu merken: Christel Punkt Eberle, Klammeraffe, web Punkt de. Da bin ich ja gespannt ..."
Das ist's fürs Erste. Ich wüsste zu gerne, wie er mich aufgespürt hat.
Beim Kaffeetrinken am Nachmittag erzähle ich meiner Schwester von Horst. Wir wohnen im gleichen Viertel, nur wenige Straßen auseinander. Seit sieben Jahren lebe ich jetzt allein in unserem Dreifamilienhaus. Seit Egons Tod. Oben ist alles vermietet. Ich wohne in der Fünfzimmerwohnung im Parterre. Ich könnte hier an eine Studentin vermieten , aber das will ich nicht, auch wenn die Stadtverwaltung immer wieder an uns ältere, alleinstehende Mitbürger appelliert.
"Ist ja nicht schlecht, wenn du mal wieder neue Leute triffst, auch wenn's eigentlich die alten sind. Wird bestimmt lustig. Will er hier Urlaub machen? Kannst ihn gerne zum Kaffee bei mir mitbringen."
Meine Schwester ist mindestens so neugierig wie ich.
"Ich weiß noch gar nichts Genaues. Jetzt ist er erst einmal eine Woche in Schottland, mit einer Freundin."
Meine Schwester zieht die Augenbrauen hoch, sie verkneift sich eine Bemerkung. Ich weiß aber, was sie gerne sagen würde.
Nach vierzehn Tagen beginnt ein lebhafter E-Mail-Verkehr. Das Wiedersehen verschieben wir aufs Frühjahr, wenn der Flieder wieder blüht, wie Horst, der alte Charmeur, scherzhaft formuliert. Er will ganz viel wissen aus meinem Leben, wie früher. Ich krame in alten Fotoalben, schüttle den Kopf über unsere damaligen langen Mähnen, meine riesengroße Brille und die Miniröcke. Bin das wirklich ich mit der Stoffwindel als Kopfschmuck und dem bodenlangen, geblümten Folklore-Kleid? Ach, das war natürlich ein paar Jährchen später, so um die Siebziger herum, als auch an unserer Uni etwas verspätet die Achtundsechziger auftauchten.
Einmal schickt Horst eine Liste zum Ankreuzen, da geht es um Fragen wie Musikgeschmack, Lieblingsgerichte und Lesegewohnheiten und, fett gedruckt, um Reiseziele. Über Geld oder anderes Hab und Gut will er von mir nichts wissen. Da erwähnt er nur, dass er nach seiner Pensionierung in seinem Haus wohne. Es sei viel zu groß für ihn allein. Wahrscheinlich werde er es seinen Töchtern und dem halbwüchsigen Enkel überlassen. Die könnten dann das Grundstück besser pflegen und er habe mehr Zeit für seine Reisen.
"Du reist auch gern, oder? Ich habe ein Häuschen am Lago Maggiore. Nichts Besonderes, aber mit wunderbarem Blick auf den See. Am schönsten ist es dort, wenn die Kamelien blühen. Ach Christel, das ist ein Plätzchen, wo man vergisst, dass man alt ist. Ich freue mich so auf das Treffen im Frühjahr. Kannst du mir mal ein neueres Foto schicken? Ein älteres von dir habe ich gegoogelt. Unverkennbar Christel! Du warst da zu einer Lehrerfortbildung auf der Comburg."
'Altwerden ist nichts für Feiglinge'. Das Buch steht in meinem Bücherschrank, meine Schwester hat es mir neulich geschenkt. Ganz ehrlich, ich habe es noch nicht gelesen. Ich weiß auch so, wie es sich anfühlt. Mir geht es ja gesundheitlich ganz gut, aber meine Schwester sitzt teilweise im Rollstuhl, und ich bewundere sie dafür, wie sie ihren Alltag meistert, sich im Behindertenrat engagiert und sogar noch Auto fährt, obwohl sie zwei Jahre älter ist als ich.
"Du könntest wirklich mehr unter die Leute gehen, es gibt genügend Angebote", sagt sie und ärgert sich, wenn ich ihre Einladung zu einer Vernissage oder einem Theaterbesuch ablehne. Wir wohnen im selben Viertel, nur ein paar Straßen auseinander. Über meinen E-Mail-Kontakt mit Horst amüsiert sie sich.
"Pass auf", sagt sie, ganz große Schwester, "der sucht 'ne neue Frau. Aber dein Horst wird nicht aus Rottweil wegziehen, da geh ich jede Wette ein. Da hat er schließlich seine Kinder."
"Er ist nicht mein Horst. Du spinnst, wie kommst du denn auf so eine Idee? Klar, es ist schon ein wenig verrückt, was der alles wissen will. Aber der Mann ist halt ein wenig sentimental. Vor allem möchte er sich neu sortieren, glaube ich. Das kann ich verstehen. Am Geld scheint es nicht zu scheitern." Schon aus Prinzip muss ich ihr widersprechen.
Aber jetzt hat mir meine Schwester einen Floh ins Ohr gesetzt. Wollte ich wirklich noch einmal eine Bindung eingehen? Horst hat ebenso wie ich eine langjährige Ehe geführt, in guten wie in schlechten Tagen, ganz altmodisch. Er erzählt offenherzig davon. Er scheint ein Familienmensch zu sein. Aber Bilder schickt er nicht und ich trau mich nicht, danach zu fragen. Es gibt nur ein Foto aus Studentenzeiten von ihm, darauf ist ein schlaksiger Junge mit abstehenden Ohren und spitzbübischem Grinsen zu sehen. Ich kann mich an kräftig zupackende Hände erinnern und an überraschende Küsse in der Mensa. Keine Ahnung, wie er heute aussieht. Im Internet finde ich zwar einen Bericht über seine Pensionierung am Gymnasium, aber kein Foto.
Was wäre, wenn … Das Grübeln darüber beschert mir schlaflose Nächte. Ein enges Zusammenleben, womöglich Sex, alles jagt mir Schauer über den Rücken. Ich lebe nun schon so lange allein.
Andererseits ... Oh Gott, hört das denn niemals auf, die Sehnsucht nach Körperkontakt, nach Zärtlichkeit? In meinem Leben fehlen Kinder und Enkel, und Haustiere habe ich wegen meiner Tierhaarallergie auch nicht. Ich selber finde mich im Umgang mit Fremden ziemlich spröde, manchmal abweisend. Und trotzdem lasse ich zu, dass das Bild von einer neuen Partnerschaft immer schärfere Konturen gewinnt. Tagträume. Vor dem Spiegel inspiziere ich mich von oben bis unten. Ob er meine Beine immer noch sexy finden würde? Krampfadern habe ich jedenfalls keine. Miniröcke hängen allerdings keine mehr im Kleiderschrank, der dringend eine Generalüberholung nötig hat, besonders wegen der Unterwäsche. Was Seidiges wäre natürlich hübscher. Ich seufze. Klar ist mir jedenfalls, dass sich festes Fleisch mit glatter Haut genussvoller streicheln lässt.
Ich fange an, den Umzug nach Rottweil zu planen. Meine Schwester macht sich Sorgen um mich. Sie nennt mich abwechselnd naiv und verrückt.
Am sechsten Januar finde ich einen Brief von Horst im Briefkasten.
"Das Internet ist mir abhanden gekommen, deshalb bemühe ich wieder einmal die Briefpost", schreibt er, "bitte entschuldige, dass ich eine Weile nichts von mir hören ließ. Ich möchte dich immer noch im Frühjahr besuchen. Allerdings werde ich nicht alleine kommen. Ich habe mich nämlich verlobt, mit der Freundin, die mich nach Schottland begleitet hat, du erinnerst dich sicher. Meine Töchter sind ganz aus dem Häuschen, sie finden, dass ich ihnen eine große Sorge abgenommen habe. Alleinleben ist nichts für mich, das weiß ich nun. Zuletzt bin ich wohl allen ein wenig auf die Nerven gegangen mit meinen ständigen Besuchen. Stell dir vor, ich habe sogar eine frühere Schülerin gefragt, ob sie mich heiraten will! Aber jetzt ist alles gut.
Es bleibt hoffentlich bei unserem Treffen im Frühjahr? Meine Verlobte und ich könnten den Besuch in unsere Reise an den Lago einbauen.
Herzlichst Horst mit Andrea, die dich wahnsinnig gerne kennenlernen möchte."
Ich weiß noch nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Oder mich schämen. Habe ich mich verrannt, weil der Wunsch nach einem Neuanfang übermächtig wurde? Horst hat ja keinerlei Andeutungen gemacht. Zum Glück verzichtet meine Schwester auf Kommentare wie "Ich hab’s ja gleich gesagt" und lässt mich meine Enttäuschung in Ruhe verarbeiten.
Der Brief liegt auf dem Nachttisch. Er ist schon ganz zerknittert, weil ich ihn immer wieder lesen muss. Hat Horst mit meinen Gefühlen gespielt oder ist er völlig ahnungslos, was er bei mir angerichtet hat? Unfassbar, mit welchem Tempo er sich in eine neue Zweisamkeit geflüchtet hat! Ob seine Ehe wirklich so toll war? Nicht mal das Trauerjahr hat er eingehalten. Und diese Freundin Andrea … die war sofort zur Stelle.
Ich erkenne, da standen schon andere in den Startlöchern, raffinierter als ich und mit Heimvorteil. Carpe diem. Und ich bin eine dumme, sentimentale Kuh, die glaubt, fünfzig Jahre ließen sich einfach so beiseite schieben.
Der Zorn lässt mich nachts in der dunklen Wohnung herumwandern auf der Suche nach Baldriantee und Lavendelkissen. Lies nochmal, suche nach Spuren, ob sich Horst lustig macht. Nein, tut er nicht. Mein Gott, ich glaube, der ist so naiv wie ich.
Meine Schwester hatte Recht, Horst suchte eine neue Frau, aber ich bin durchgefallen oder er hatte mich gar nicht im Visier, sondern forschte nur nach Spuren der Jugend. Wer weiß, ob ich nicht eine große Enttäuschung erlebt hätte. Und etwas Gutes bleibt. Ich weiß jetzt viel mehr über mich selber.
Nach einigen Wochen breitet sich ein Gefühl von Erleichterung aus.
Eines ist sicher, dieses Jahr werde ich die Weihnachtsfeier der Stadt für die Ü70 nicht auslassen, sondern mir ein schickes Outfit gönnen und den Platz neben einem weißhaarigen, tief gebräunten Silver Ager erobern, der gerne auf Reisen geht. Und Andrea will ich auf jeden Fall kennenlernen.