Abendrotsynapsen
Abendrotsynapsen
Von Lestat
Sein gescheiteltes, lockeres braunes Haar wippte, als eine kühle Briese über den Hügel strich. Er hob die rechte Hand in die grüne Masse, welche die Blätter auf den Ästen des Baums darstellten, um einen roten Stern, einen Apfel, welche gelegentlich das saftige Grün durchbrachen, daraus zu pflücken. Die Sonne, die warm und mild ihr oranges Licht vom Horizont aus über die Klippen strahlte, erweckte die ersten, in die Länge gezogenen und verzerrten Schatten der Nacht zum Leben, die die Menschen zu verfolgen schienen und an ihren Füßen hafteten.
Eine Sekunde lang blickte er auf den Apfel, seine Prallheit, die volle rote Farbe, dann sah er in den Himmel. Die Wolken schienen glutfarbene Wattebäuschchen zu sein, vom rot leuchtenden Sonnenfeuer des Abends erfüllt, wie Nebel, der der Überrest des Tages selbst ist, bevor die Schatten aufsteigen, das Land in samtene Finsternis zu tauchen.
Er drehte sich um und fühlte das weiche, saftige Gras unter seinen nackten Füßen, wie es seinen Sohlen nachgab und zu Boden gedrückt wurde. Sein Blick schweifte über dieses atemberaubend schöne Stück Land, dass so abgelegen in den Bergen lag, und scheinbar von jedem Eingriff, jeder Verunreinigung, jeder Sünde und jedem Bösen verschont geblieben war. Es heißt, Gott hätte die Erde nur einmal geküsst. Er glaubte, diese Stelle wäre der Hügel, auf dem er gerade durch das Gras wandelte. Sogar bezweifelt er, dass die Sonne hier jemals untergehen würde, dass sie jemals hinter dem Horizont verschwinden würde, dass jemals das milchig- weiße und verletzliche Licht des Mondes die Gräser durchfluten und die Klippen herab stürzen würde.
Sie drehte sich im Gras um, und genoss einen Moment das Gefühl des Kitzels auf ihrem Rücken, als er sich in das Gras senkte. Auch sie sah nun in den dunkelorangeroten Himmel, in dem Nebel derselben Farbe zu schweben schien. Dann schloss sie die Augen streckte die Arme über ihren Kopf, ballte die Hände zu Fäusten, winkelte sie leicht ab und streckte ihren schlanken Körper durch. Sie entspannte sich wieder, ein angenehmes Kribbeln durchfuhr sie, und sie war kurz davor, in einen leichten, schwerelosen Schlaf zu fallen. Da hörte sie das Rascheln des Grases neben sich.
Er stand neben ihr, die Rechte in der Tasche seiner schwarzen Hose, in der Linken den prallen Apfel haltend, den Arm am Ellenbogen angewinkelt. Er bückte sich und reichte ihn ihr.
„Danke“, sagte sie. Dann richtete sie sich auf und biss in die Frucht hinein. Sie zog den Saft aus dem Stück und schluckte ihn.
Er ließ sich neben ihr nieder, legte sich allerdings nicht hin, sondern saß da, die Arme auf den Knien, die Augen auf den Horizont gerichtet, wo die Sonne gerade in einem Flammenmeer unterging.
„Ich könnte mir bei aller Poesie, aller Inspiration, aller Ästhetik niemals vorstellen, dass es hier, auf diesem Hügel, auf diesen Klippen, jemals Nacht wird.“
Sie schluckte, sah zuerst den Apfel an, dann den Jungen neben ihr. Er schien nichts mehr sagen zu wollen.
„Ich weis, was du meinst“, sagte sie schließlich, während sie wieder den Apfel anblickte. „Diesen Apfel nicht mehr in dem Rot des Sonnenuntergangs zu sehen, sondern im fahlen Mondlicht…“
Sie biss erneut ab.
Der Junge ließ sich ganz ins Gras fallen. Er streckte den Kopf nach hinten, und erblickte am östlichen Horizont einen silbernen Wolkenstreifen.
„Sie da!“
Das Mädchen setzte sich hin und drehte sich um.
„Inmitten all dieser Flammenglut, diesem göttlichen Inferno, wie kann es da noch so eine Stelle an der Himmelswölbung geben, die so silbrig glänzt?“
Das Mädchen sah mit nachdenklichen Augen auf den Silberfaden, schien im Stillen zu überlegen, bis sie schließlich sagte:
„Es scheint, als würde sich alles aufteilen, um jede Möglichkeit zu füllen, nicht?“
Die Augen des Jungen glänzten auf, und er sah das Mädchen an. Sie sprach weiter.
„Es ist so… seltsam. Man kann nicht immer auf ein Motiv fokussiert bleiben. So wie… Religion. Du kannst nicht nur katholisch sein, du findest auch immer etwas im… sagen wir Buddhismus, das dich überzeugt.“
Der Junge bezeugte in seinen Blicken die Überraschung über ihre Worte. Dann fragt er:
„Würdest du sagen, dass ein Mensch jemals an nichts glauben kann?“
„Nein. Er wird immer Zweifel haben, ob es da nicht doch etwas gibt. Er wird immer, wenn er den Himmel sieht, denken: ‚Was, wenn da doch mehr ist?’ Er wird… immer zweifeln.“
„So ist es. Auf deinem Weg durchs Leben behältst du nicht immer ein und die selbe Meinung, deine Persönlichkeit breitet sich auf verschiedene Ansichten, paradoxe Meinungen aus. Innere Konflikte. So wie dieser Himmel. Es gibt immer etwas, das dagegen hält. Tagsüber sind es die Wolken oder die Schatten, die die Natur der Erde über die Natur des Tageslichtes ausdehnen. Um zu verhindern, das die Schatten der Nacht überhand bekommen, thront der Mond in dem schwarzen Samt auf einem in Silber gefasst, schlichten, aber edlen Thron, und um ihm die Sterne. Um zu verhindern, dass du am Ende deines Lebens feststellen musst, das es falsch war, Atheist zu sein, oder die Katholische Kirche doch nicht in jedem Belang recht hatte, befindest du dich in einer Gleichung.“
Das Mädchen schien verwirrt.
„Ich verstehe nicht…“
„Ist es dir noch nie widerfahren, dass du, nach einer schönen Zeit in deinem Leben, plötzlich einen schweren Schicksalsschlag erfahren musstest? Das ist dir sicher schon passiert, obwohl du noch so jung bist.“
Das Mädchen schien verzückt. Dann wurde sie wieder nachdenklich.
„Das Leben ist eine Gleichung. Alles muss immer im Ausgleich bleiben, deshalb hat jedes Ding auf dieser Welt, und, wer weiß, vielleicht auch über sie hinaus, ein Gegenstück.“
Er sah sie an, während sie auf den Silberstreifen blickte. Er verschwand langsam.
„Der Tag hat die Nacht, die Sonne den Mond, die Erde den Himmel, der Mann das Weib…“
Sie schwiegen jetzt beide und sahen in den Himmel, bis der Silberstreifen verschwunden war. Nach einiger Zeit, als sie das Rot des Himmels beobachteten, fragte das Mädchen:
„Aber sag mir, jetzt, wo der Silberstreifen weg ist, wo ist dann die Negation zu dem Rot?“
Der Junge lächelte und zeigte auf die Bäume, die wie eine Zickzacklinie den nördlichen Horizont umsäumten. Über ihnen kroch das Schwarz der Nacht wie eine finstre Flüssigkeit durch das Rot.
“Da“, sagte der Junge schließlich. „Bald wird das Rot verschwunden sein, dann gibt es den Mond, der es zu bezwingen versucht.“
Das Mädchen lächelte nun ebenfalls und sagte:
„Vorhin sagtest du noch, du könntest dir die Nacht über diesen Hügeln nicht vorstellen.“
Das Gesicht des Jungen verfinsterte sich.
“Aber jetzt sehe ich sie“, sagte er und sah etwas traurig auf das Gras. Er erhob sich und schüttelte einige Grashalme von seiner Hose.
“Das Leben ist eine Gleichung“, wiederholte er seine eigenen Worte. „Und nun gleicht sich die Schönheit dieses Hügels mit den Schrecken der Nacht aus.“
“Sag das nicht!“
Der Junge schien nicht verwundert. Er meinte:
“Du bist jung und verstehst es nicht. Was weißt du schon, mit deinen vierzehn Jahren?“
Sie stand schnell auf.
„Ich weiß mehr als du denkst!“
Der Junge lächelte verständnisvoll. Leise sagte er, während er sich mit der Hand das rechte Auge rieb:
„Du bist noch ein Kind. Erst die Worte kluger Männer werden dich formen, so wie meine Worte eben. So wie die Worte kluger Männer auch mich formten.“
Doch das Mädchen beharrte:
“Du bist kaum älter als ich, also schweig!“
„Mit siebzehn, junge Dame, ist man ein Mann, wenn man mit sechzehn noch ein Kind war. Die Gleichung, erinnerst du dich?“
Der Junge sah sie erwartungsvoll an. Das Mädchen lachte kurz auf und sagte dann:
„Soll das eine Anspielung sein?“
Der Junge sagte nichts, blickte wieder voll Verständnis auf das junge Mädchen, steckte die Hände in die Taschen und ging gelassen davon.
„Ich weiß, du wartest nur darauf, dass ich dich frage, richtig?“
Er schüttelte den Kopf, ohne stehen zu bleiben.
Stille. Der Junge war schon fast am Abhang. Das Mädchen ballte die Hände zu Fäusten. Sie schloss die Augen und der kribbelnde Drang in ihr besiegte ihren kindlichen Willen.
„Und was ist, wenn man mit vierzehn noch ein Kind ist? Was ist man dann mit neunzehn?“
Der Junge bliebt am Abhang stehen. Das Mädchen konnte ihn nur noch von der Hüfte an aufwärts sehen. Nach einigen Augenblicken drehte er sich um. In seinen Augen lag Liebe und Verständnis.
„Eine Göttin.“
Er drehte sich wieder um und ging den Abhang hinunter, während die Nacht über die Hügel kam. Doch das Mädchen lief ihm sofort nach.