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Absacker
Irgendwie spüre ich seine Unruhe. Neben ihm sitzend merke ich, wie er zweimal kurz zusammenzuckt, seine Hand zur Jackentasche will.
Ende der Vorstellung, Gedränge an der Garderobe, kurze Taxifahrt.
Ich öffne die Wohnungstür und registriere, dass Jörg in seine Tasche greift. Während wir unsere Mäntel auf die Bügel hängen, steht er neben uns und liest seine beiden Nachrichten. „Petra ist jetzt im Zug nach München. Sie wird wohl gegen zwölf dort sein.“ Und: „Bei Kleins sind heute Bekannte aus Schwerin angekommen. Sie wollen in Kreuzberg noch einen trinken. Ich werde ihnen gleich mal antworten.“
Er setzt sich in den Sessel am Couchtisch und tippt etwas ein.
Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ hat uns angesprochen und bewegt. Meine Schwester und ihr Mann werden über Nacht bleiben und erst morgen zurückfahren. Ich bin allein, mein Mann ist geschäftlich in Toronto. Wir beschließen als Absacker, ein Glas Wein zu trinken. Meine Schwester hilft, holt drei Gläser aus dem Schrank, ich öffne den Rioja.
Jörg ist immer noch mit seiner Tipperei beschäftigt. Wir schweigen, weil wir ihn nicht stören wollen. Endlich legt er das Smartphone auf den Tisch und wir prosten uns zu.
Der Wein ist fruchtig, vielleicht ein bisschen schwer.
„Fast ein modernes Stück“, sagt meine Schwester. „Weiß jemand, wann die Uraufführung war?“
„Anfang des 20. Jahrhunderts, wenn ich mich nicht täusche“, sage ich und sehe, dass Jörg sein Handy erneut in die Hand nimmt. Wir warten wortlos. Er tippt, wischt und scrollt.
„Am 20. November 1906. Unter der Leitung von Max Reinhardt. Moment, da steht auch noch etwas von einem Hermann Bahr.“
Jörg tippt, wischt und scrollt weiter. Wir sitzen und warten. Auf was, wissen wir nicht so recht. Es gibt wohl Schwierigkeiten.
Er wischt weiter. „Keine Ahnung, wer dieser Hermann Bahr ist. Hat auch irgendwie was mit Wedekind zu tun.“
Meine Schwester hat ihren Wein noch nicht ausgetrunken, steht aber auf. Ich sehe ihrem Gesicht an, dass es ihr reicht. „Ich geh’ dann mal. Schlaf gut. Bis morgen.“
„Schlaf auch gut“, antworte ich.
Ich fühle mich unwohl.
Jörg murmelt: „Daniel Bahr, Egon Bahr – ach hier kommt er: Hermann Bahr. Hermann Anastas Bahr.“ Er scrollt weiter.
Ich betrachte das Bild über meinem Sofa. Ein rotes Fahrrad steht an einer Gracht in Amsterdam. Es gefällt mir immer noch, weil es mich an unsere Sommertage in Amsterdam erinnert. Fast immer hatten wir die Fahrräder dabei.
„Für Karl Kraus ist Bahr ein rotes Tuch gewesen“, reißt mich Jörg aus meiner Betrachtung des roten Fahrrads.
Zu seiner Äußerung fällt mir nichts ein. Muss aber auch nicht.
„Wer war doch schnell noch Karl Kraus?“, fragt sich Jörg und tippt, scrollt und wischt.
Ich schütte mir ein zweites Glas Wein ein. Jörgs Glas steht fast unberührt auf dem Tisch. Irgendwie sagt mir Karl Kraus etwas. Theater, Literatur, Drittes Reich. Ich muss aber gar nicht in meinem Gedächtnis kramen: Jörg hat schon alles.
Und jetzt prasselt ein minutenlanger Text auf mich nieder: „…satirisches Drama, …Fackel…, Wiener Zentralfriedhof…“.
Ich möchte raus.
Während Jörg sich wichtige Informationen über „Die Fackel“ besorgt, räume ich das Weinglas meiner Schwester und meins ab, bringe beide in die Küche, trinke hier mein Glas aus. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer. „Schlaf gut.“
Jörg tippt und erwidert kurz: „Du auch. Ich muss noch eine SMS an Petra schicken und sehen, ob sie schon in München angekommen ist. Bis morgen.“
Kurze Zeit später liege ich im Bett. Der Rioja hilft und ich dusele schnell ein. Die pubertierenden jungen Leute aus „Frühlings Erwachen“ schleichen sich in meine Träume. Melchior und alle anderen stehen telefonierend an Moritz’ Grab. Es ist ein sehr alter Friedhof mit hohen Bäumen. Neben einem monumentalen Grabstein steht Jörg, etwas in sein Smartphone tippend. Aus dem Nebel taucht der ‚vermummte Mann’ aus dem dritten Akt auf. Schwer atmend geht er auf Jörg zu. Es ist Darth Vader. Schockiert lassen alle die Hände mit ihren Telefonen sinken. Vader richtet sein Lichtschwert schnaufend auf Jörgs linke Hand. Sein Schnaufen wird zu einem dumpfen Schnarren.
Ich wache auf.
Mein Handy tanzt vibrierend auf dem Nachttisch. Ich habe vergessen, es laut zu stellen.
„Hallo, mein Schatz …“ Mein Mann ist zurück im Hotel und hat nun Zeit, mir alle Neuigkeiten zu berichten.
Nach dem Gespräch muss ich noch mal ins Bad. Durch den Türspalt sehe ich, dass im Wohnzimmer noch Licht brennt.