Abschied
"Fahr nach Freiburg. Wer weiß, ob du sie noch mal siehst", sagen meine Freunde. Ich fahre nicht. Ich weiß, es ist noch nicht die richtige Zeit.
Sie ist wieder im Krankenhaus. Das dritte Mal in fünf Jahren. Nach dem schweren Herzinfarkt, bei dem alle Ärzte mir damals sagten: „Erstaunlich, daß sie noch lebt.“ Bei dem ich zwei Wochen von morgens bis abends an ihrem Bett saß, ihr die Angst vor den kleinen Teufeln nahm, die sie holen wollten, mit ihr redete, mit ihr schmuste, sie fütterte, ihr Gutenachtgeschichten vorlas, mich in ihre Arme verkroch, ihr Mut zusprach, mit ihr lachte, mit ihr schwieg, ihr einen Teil der Geborgenheit zurückgeben konnte, die ich selbst in einem solchen Moment so intensiv erlebte.
Fünf geschenkte Jahre. Für sie. Für mich. Mit keinem Menschen hatte ich je so eine innige Verbundenheit wie mit ihr. So klar. So offen. So selbstverständlich. So freundschaftlich. So voller Lachen. So voller Nähe. So voller Fragen. So voller Antworten. So unkompliziert. So ohne Erwartungen. - Sie akzeptiert mich. Sie versteht mich. Sie liebt mich.
Und jetzt liegt sie wieder im Krankenhaus. Ich telefoniere oft mit ihr. „Ja, es geht mir ganz gut. Ach, weißt du, mir schmeckt das Essen nicht mehr besonders. Ich bin müde.“
Ich merke, wie ihre Lebenskräfte schwinden. Matt klingt ihre Stimme nach drei Wochen durch den Hörer: "Ich mag nicht mehr leben."
"Ja, Mama. Ich weiß. Aber bitte warte noch bis Freitag. Ich komme am Freitag."
"Na ja, so lange werde ich bestimmt noch warten können."
Meine Ente zuckelt viel zu langsam nach Freiburg. Ich nehme einen Anhalter mit, damit er mir die Gedanken vertreibt. Und trotzdem bete ich dauernd, daß sie noch lebt.
Sie lebt noch. Und sie schläft, als ich ins Zimmer schleiche. „Guten Tag, Mama.“
Vorsichtig berühre ich ihren Arm, küsse behutsam ihre Wange. Klein, zerbrechlich, ätherisch liegt sie in dem anonymen Krankenhausbett und schlägt ihre Augen auf. Sie lächelt mich an, und ihre Tränen sagen meinen hallo.
Unsere Hände sprechen miteinander. Eng ineinander geschmiegt. Tauschen Zärtlichkeiten aus. Worte brauchen wir eigentlich keine. Aber wir reden trotzdem. Über frühere Zeiten. Über Erinnerungen. Über Familienbande. Über irgendwas müssen wir ja reden - obwohl wir es nicht wollen.
Sie ist so zart. So hilflos. So schwach. Und doch so stark. Viel stärker als ich. Meine Tränen stehen ständig parat. Auf Abruf. Auch ohne Abruf. Sie kullern einfach raus. Ich hab‘ so grenzenlose Angst sie zu verlieren. Und doch weiß ich, daß die Zeit dafür gekommen ist. Und sie weiß es auch.
Mit meiner Freundin Lilian esse ich zu Abend. In einem lebendigen Bauernlokal im Hexental. Dem Tal, in dem wir zwanzig Jahre gelebt haben. Mit Lilian kann ich reden. Kann meine Verlustängste loswerden. Ihre Eltern sind vor siebzehn Jahren bei einem Auto-Unfall ums Leben gekommen. Sie weiß, was sich in mir bewegt. Ich wundere mich, daß mir das Essen schmeckt. Und der Wein. Ich esse und trinke, und denke an Mama, die einsam in ihrem Krankenhausbett die Nacht verbringt. Die Tränen machen wieder, was sie wollen, und ich lasse sie.
Samstag. Ein frostiger, klarer Novembertag. Auf dem Münsterplatz ist Adventsstimmung. Tannenreisig. Kerzen. Spätherbstluft. Ich suche nach Ablenkung vor dem Krankenhaus, esse Sauerkraut, trinke herben Weißwein, rede wenig, und Lilian fragt nicht. Die Tränen machen Pause. Holzkohlenrauch von gerösteten Eßkastanien zieht durch die Luft, lachende Menschen essen Bratwurst, und in meinem Bauch grummelt die Angst. Um eins gehe ich endlich ins Krankenhaus.
Sie schläft wieder. Leicht und oberflächlich. Kaum schlüpfe ich durch die Tür, weiß sie schon, daß ich da bin. Ihr Lächeln empfängt mich sanft. Sie freut sich. Und da sind sie wieder - die Tränen. Diese verflixten Tränen, die ich noch nie im Leben zurückhalten konnte. Sie sind einfach stärker als ich. Ich schlucke verzweifelt, knalle meinen Oberkiefer auf den Unterkiefer, daß es bis in die Ohren zieht, aber die Tränen gewinnen. Diese kleinen, schwachen, starken Tränen, sie zeigen einfach, was Sache ist. Ich kuschle mich in Mamas Arme. Mein Kopf ruht auf ihrem Bauch, ihre Hand auf meiner Schulter. Hand in Hand schlafen wir ein bißchen. Ich höre ihren Herzschlag in meinem linken Ohr und wünsche mir, sie könnte jetzt einfach wegschweben. Ohne Schmerzen, mit diesem glücklichen, entspannten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Einfach aufhören, einfach weggehen. In das andere Leben.
Aber ihr Herz schlägt weiter. Wir reden kaum noch. Jedes Wort wäre trivial. Wir fassen uns an. Wir schauen uns an. Wir sind uns nah. Ganz nah, und wir wissen beide, wie spät es ist.
Draußen, hinter dem großen Krankenhausfenster, geht die Sonne unter. Theatralisch rot kippt sie in den Horizont. Ganz langsam. Gerade richtig für einen solchen Abschied. Wie im Kino. Mamas Augen sind geschlossen. Meine Hand liegt in ihren Händen. Siebenundsiebzig Jahre alte Hände. Sanft und glatt. Man sieht, daß sie gelebt haben, aber sie sind trotzdem sehr schön. Lange, schmale Finger, schmucklos bis auf den Ehering. Sensibel. Es sind eben ihre Hände. Sie sind so wie sie. Sie sprechen ohne Worte. Und oberhalb der Hände dieses Gesicht. Gütig und umrahmt von grauen Haaren. Lange, schmale Nase. Hohe Wangenknochen. Zarte Haut, trotz der Altersfalten. Eigentlich hat sie eine Haut wie ein Baby. Wie ein siebenundsiebzig Jahre altes Baby.
Immer wieder lege ich meinen Kopf auf ihre Brust um zu horchen, ob ihr Herz noch schlägt. Es schlägt noch. Und dabei wünsche ich mir so, daß es aufhört zu schlagen. Ich wünsche mir, daß ihre Seele sich aus dem Krankenhauszimmer-Staub macht. Einfach abhaut. In die andere Welt fliegt, von deren Existenz Mama so überzeugt ist. Auf die sie sich schon so freut. In der nichts mehr weh tut. In der sie nicht mehr arbeiten muß, in der sie nicht mehr von ihrem Ehemann gepiesackt wird. Eine Welt, in der sie endlich bekommt, was sie verdient. Sie glaubt so fest daran.
Aber ihr Herz will noch nicht so wie wir wollen. Und meine Tränen kullern. Gott sei Dank sieht sie sie nicht. Und wenn sie sie zwischendurch doch sieht, kullern ihre Tränen auch. Ganz leise stehlen sie sich aus ihren Augenwinkeln. Ich sehe sie aber genau. Ihre Tränen reden mit meinen, und keiner weiß, was sie sich erzählen.
Die Sonne ist in den Horizont gefallen, Mama und ich verabreden uns für den nächsten Morgen. Lilian holt mich ab und schenkt Mama weiße Rosen. Der nächste Morgen wird den Abschied bringen, für Mama und mich. Ich muß zurück nach München.
Lilian und ich essen wieder im selben Lokal, und die Tränen von gestern sind auch wieder da. Nur meine Traurigkeit ist gewachsen. Morgen werde ich Mama zum letzten Mal sehen.
Sonntag morgen. Halb acht. Ich werde wach vom Klingeln des Telefons. Wer, um Gottes willen, ruft morgens um halb acht Lilian an? Weit entfernt höre ich sie im Flur murmeln. Als sie endlich ins Zimmer kommt und mich so ernst anschaut, weiß ich, was sie mir sagen will.
Draußen klirrt der Frost, der Himmel ist stahlblau, und die Bäume vor dem Fenster sind wie mit Tonnen von Zucker beschüttet. Es ist erster Advent. Tränenbäche fließen über mein Kinn auf die Brust, Trauer schüttelt die Teetasse in meiner Hand - und trotzdem bin ich glücklich. Ich weiß, jetzt geht es ihr gut.