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Alles, worauf wir hoffen dürfen

Seniors
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08.07.2012
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Alles, worauf wir hoffen dürfen

"Ist ja ein cooles Tattoo, das Sie da haben", sagte Bremer und starrte mir auf die Titten. Mein Blick streifte die schwarzblaue Tänzerin, die sich über meinen Unterarm schlängelte.
"Das ist Kali", sagte ich. "Sie schneidet Wichsern den Schwanz ab und stopft ihnen damit das Maul."
Bremer zuckte zusammen, rückte seine Brille zurecht und wandte sich zur Tür. Beim Rausgehen murmelte er: "Die Test-Animation muss bis Dienstschluss fertig sein. Der Chef wartet ... "
Steven drehte sich zu mir herum und grinste. "Bist ja in Hochform heute."
Ich zuckte mit den Schultern und beschäftigte mich wieder mit der Kamera, die den Landschaftsgarten überfliegen sollte, an dem die Planer unseres Büros zur Zeit arbeiteten.
"Bist du nervös wegen heute Abend?", fragte Steven.
"Bull! Bin nicht mehr siebzehn."
Steven lehnte sich zurück, schaute aus dem Fenster und sagte: "Naja, wenn ich ein Date habe, fühl´ ich mich wie siebzehn."
"Hab kein Date", erwiderte ich.
"Also, du triffst den Typen doch heute. Für mich ist das ein Date."
Ich wusste, Steven würde es nicht dabei belassen. Das tat er nie.
"Oh Mann, was würde ich für einen richtig guten Fick geben", sagte er.
Als er zu mir herüberblickte und meinen Mittelfinger sah, winkte er ab. "Nee, ernsthaft, Sarah. Wenn du so alt bist wie ich, wirst du sehen, dass son bisschen Glück alles ist, worauf wir hoffen dürfen."

Kurz nach acht saß ich mit Jane in der Straßenbahn.
"Ist ne Riesenchance für die Jungs", sagte sie und spuckte auf ihre DocMartens. "Der Laden wird dicht sein, wegen First Blood."
"Ja, aber viele werden erst zu den Hauptacts kommen."
"Nah, die haben so viel Promo gemacht", beharrte Jane. Sie wischte mit einem Taschentuch über die Stahlkappen. Nachdem sie fertig war, betrachtete sie mich und sagte mit einem fiesen Lächeln: "Und lässt du ihn gleich ran?"
"Jetzt gehst du mir damit auch auf den Sack." Ich schaute aus dem Fenster. "Und du?"
"Also, falls Mike heute will ... "
Wie könnte er nicht wollen. Jane war unwiderstehlich.

Im Asylum roch es nach Bier, Schweiß und Kotze. Die Zeiten des Straight Edge waren lange vorbei, auch wenn es hier immer noch ein paar Kids geben mochte, die die Ideale von Minor Threat und Youth of Today hochhielten.
"Lass uns nach hinten gehen", schrie Jane gegen den wüsten Sound, der aus den Bühnenboxen stampfte und zwängte sich durch die wartende Menge. Ich folgte ihr.
Auch Backstage war es brechend voll. Musiker fummelten an ihren Instrumenten, und Leute von der Technik schleppten Equipment hin und her. Jane zog mich zu einer Tür, auf die jemand - scheinbar ironiefrei – mit einem Edding VIP geschrieben hatte. Als Jane die Tür öffnete, brandete uns eine Wand aus Dope-Smog entgegen.
Wir betraten die VIP-Räume und sahen uns um. Auf einem Sofa hingen die beiden Typen herum, wegen denen wir hier waren.
"Hey Mike", rief Jane und setzte sich gleich in Bewegung. Mike stemmte sich hoch und umarmte Jane. Sie küssten sich, als könnten sie das Ende der Show nicht abwarten. Vom Sofa her winkte Christian mir zu. Ich schob mich an Mike und Jane vorbei und ließ mich neben ihm in die Polster fallen.
"Hey Mann", sagte ich. "Wie geht´s?"
"Mir ist ein bisschen schlecht", antwortete er.
"Lampenfieber?"
Christian nickte und lächelte verlegen. "Verdammt viele Leute hier, heute Abend."

Als Christian eine Stunde später im Donnern der Doublebass die Bühne betrat, war von dieser Schüchternheit nichts mehr zu spüren. Eine Flasche Bier in der Hand stand ich an der Bar in der Nähe des Ausgangs und beobachtete, wie er das Mikro vor die Lippen hob, nachdem das Dröhnen der Gitarren auch den Leuten draußen auf der Straße signalisiert hatte, dass die Show jetzt losging. Janes rotes Kopftuch flackerte weiter vorn auf dem Seitenrang im Strobolicht, und ich lachte bei dem Gedanken, wie begierig sie jetzt zweifellos Mikes einsamen Kampf hinter dem Schlagzeug verfolgte.
Die ersten Worte, die Christian der Menge vor der Stage entgegenbrüllte waren: No hands to touch - ein Schauer lief zwischen meinen Schulterblättern empor, und ich sah, wie eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten augenblicklich mit dem Fight begann. Ein Cover am Anfang des Gigs war keine schlechte Idee.
Auch wenn ich es Jane oder sonst jemandem gegenüber nie zugegeben hätte, hielt ich mich seit vielen Jahren an den Grundsatz, nie beim ersten Song den Moshpit zu betreten. Wer noch nicht einmal sechzig Kilo wog, musste mit den Wölfen heulen. Wir waren nicht mehr in den Achtzigern. Auf den Hardcore-Konzerten begnügten sich die Jungs nicht mehr damit, einander ein wenig herum zu schubsen.
Ich nahm ein Schluck von meinem Bier und genoss den Sound, der sich schwer, rau und erdig aus den Boxen wälzte. Als das Tempo beim dritten oder vierten Song anzog, stellte ich die Flasche auf den Tresen und bahnte mir meinen Weg nach vorn.
Mittlerweile hatte alle Leute vor der Stage der Wahnsinn gepackt. Ich hob die Hände und stürzte mich in die Prügelei. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mehrere Typen auf die Bühne geklettert waren und nun mit Anlauf in die Menge sprangen. Neben mir ging ein Punk zu Boden, als ihm ein Stagediver mit angezogenen Knien in die Seite krachte. Ich schlug mit dem Ellbogen nach einem Fettwanst der von außen in den Moshpit trat und erwischte ihn gleich übel. Er fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht schrie mir durch das Getümmel etwas zu. In dem Moment, als er mich an den Schultern packte, ging eine Stoßwelle durch den Mob, und zwanzig oder mehr Leute wälzten sich am Boden. Ich kam gerade rechtzeitig auf die Beine, um einem Jumper auszuweichen, der einen Satz vom Seitenrang machte.
Ich sah ein Mädchen, das sich einige Meter entfernt in die Schlägerei mischte, und ich versuchte, mich mit Stoßen und Treten zu ihr durchzukämpfen, aber es war zwecklos, denn ich flog wie eine Puppe hin und her. Oben auf der Bühne stand Christian. Sein Gebrülle war über mir, vor und hinter mir, in mir. Ich biss die Zähne zusammen und warf mich in eine Gruppe von halbnackten Typen, die wütend das Zentrum des Moshpits verteidigten. Aufpassen! Lass dir nicht direkt auf die Fresse schlagen. Die fehlende Ecke vom Schneidezahn, die du deinem Scheißvater verdankst, reicht. Die Arme heben. Die Titten schützen. Schlag zu!
Ich prallte gegen einen schweißnassen Oberkörper und stieß mit dem Knie zu, so kräftig wie ich konnte. Eine Hand traf mich am Hals, und eine Sekunde später lag ich erneut am Boden. Ich zog die Beine an und schützte meinen Kopf mit den Armen. Über mir wogte die Masse prügelnder Gestalten, und wie aus großer Höhe stürzten mehrere Stagediver herab. Irgendein Typ packte mich am Arm, riss mich hoch und versetzte mir einen harten Stoß. Ich stolperte ein paar Schritte orientierungslos herum und rettete mich schließlich mit ein paar Faustschlägen aus dem Mob.

Ich beugte mich über die Kloschüssel, strich mein Haar zurück und kotzte ausgiebig. Dann spuckte ich noch einmal und drückte die Spültaste. Kurz darauf spritzte ich mir über dem Waschbecken Wasser ins Gesicht. Ich hörte, dass auf der Bühne First Blood loslegten. Selbst hier in den Toiletten bebte der Boden. Als ich mir den Mund spülte, sah ich, dass Blut auf die Keramik tropfte. Gut, dass es hier keinen Spiegel gab.
In diesem Moment griff jemand von hinten unter meinen Armen durch und presste sich an mich. Ich stieß mit dem Ellbogen zu, fuhr herum und sah gerade noch, wie Mike ausholte. Der Hieb traf mich mit solcher Wucht, dass ich gegen die Wand prallte. Noch bevor ich reagieren konnte, hatte Mike mich in eine Kabine gestoßen. Er presste eine Hand auf meinen Mund und versetzte mir einen Schlag in den Bauch, der mir die Luft nahm. Ein weiterer Schlag donnerte dumpf gegen meine Schläfe.
Als ich wieder zu mir kam, wusste ich sofort, was los war. Meine Jeans hing mir in den Kniekehlen, und Mike drückte mich, die Hand auf meinem Mund, an die Wand. In diesem Moment tauchte der schwachsinnige Gedanke auf: Christian wird dich retten!
Doch Christian rettete mich nicht. Verzweifelt schlug ich ein letztes Mal zu. Mein Ellbogen traf Mike so heftig am Kinn, dass ich hörte, wie seine Zähne knirschten. Ich zwängte mich an ihm vorbei, riss die Tür der Kabine auf, taumelte hinaus und schlug der Länge nach hin.
Mike hatte sich wieder hochgerappelt. Er stürzte sich auf mich, und eine Sekunde später kniete er über mir. In diesem Moment stand Jane in der Tür.
"Was ... " Sie brauchte nur einen Augenblick, um zu verstehen, was vor sich ging. Ich sah, wie sie Mike ihre roten Boots ins Gesicht schmetterte. Er kippte seitlich von mir herunter und blieb liegen.

Am nächsten Tag steckte Bremer seinen Kopf durch die Tür. Er schaute zu mir herüber und schien unschlüssig, ob er herein kommen sollte.
"Gute Arbeit", sagte er schließlich. "Soll ich vom Chef bestellen. Die Probe-Animation ist klasse. Können wir so machen."
Ich nickte und wandte mich dann wieder meiner Kamera zu, die im Tiefflug über Kastanienbäume strich.


no hands to touch not a soul to feel hiding myself hiding emotion
all sympathy has been forgotten all affection denied
I perceive nothing I perceive no one darkness is peace
silence brings me peace my heart is closed no one has the key

recluse, unbroken

 
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Hallo JuJu, vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mich sehr gefreut, dass Du geschrieben hast.

das mit der Computeranimation and ich blöd, das würde ich glaub einfach rausnehmne. Oder steckt da irgendein toller Metagedanke dahinte? Außer … und am Ende war es eine Computeranimation. Könnte man ja jede Geschichte so enden lassen ... und am Ende war es bloß eine Computeranimation. Weiß nicht, was du damit zeigen willst.

Zunächst einmal ist das einfach nur der Job von Sarah. Sie ist eine Grafikerin, arbeitet im Büro und erstellt Animationen wie diese HIER. Es gibt da schon einen Hintergrundgedanken, aber der ist nicht mehr als eine Andeutung. Von einem gewissen Gesichtspunkt aus, sind all die kausalen Verknüpfungen, die Sarah so negativ erfährt, ganz und gar virtuell. Das heißt, sie existieren nicht in der Form, in der sie Sarah erscheinen, aber sie sind deshalb trotzdem nicht fiktiv oder illusionär.

Gut finde ich vor allem, wie du den Action so beschrieben hast, sprachlich ist das gut , dass man es da verfolgen kann und ein Bild bekommt und so. Hat jetzt ein bisschen übertrieben auf mich gewirkt, wie die drauf waren da drin ..

Yo, danke für das Kompliment. Diese Moshpit-Action-Darstellung zeigt sicher nicht ganz den Durchschnitt, sondern ist ziemlich derb. Das heißt aber nicht, dass es soetwas nicht gibt. Ich war vor einigen Jahren bei einem Konzert, bei dem First Blood als Support von Agnostic Front gespielt haben, und das waren Szenen, die ein unbedarfter Beobachter durchaus als eine einstündige Massenschlägerei bezeichnen könnte. Ich hab es genossen – es kommt immer darauf an, wie man da rein wächst und mit welchen Gedanken und Gefühlen man das verbindet:

Ich bin vor ein paar Jahren mal an der andalusischen Küste bei einem Gewittersturm gesurft, weil ich gesehen habe, dass die ganzen Locals da mit ihren Boards ins Wasser gesprungen sind. Mal abgesehen davon, dass das ein typischer Fall von Selbstüberschätzung war, hat mich beeindruckt, wie derb das zuging. Viele Jungs kamen blutüberströmt aus dem Wasser, weil die kurzen, harten Wellen ihnen die Bretter ins Gesicht geknallt haben. Ich bin ein sehr guter Schwimmer, aber als es mich wieder und wieder unter Wasser gezogen hat, wurde mir auch ganz anders. (Nie wieder werde ich Surfen als reinen Funsport betrachten.) Genauso bewerte ich den Moshpit – Naturgewalt, nichts worauf man böse sein muss.

hab auch schon Moshpits erlebt, aber ja … ich geb auch zu, nicht mein Ding, hab da wenig Zeit tatsächlich drin verbracht, bin ich immer aus dem Weg. Mal bei Placebo Konzert auf Sziget gewesen, das war schon sehr krass, das gab es auch Regeln und so, da war der Pit so breit wie ein Fußballfeld, und wer rein ist bevor Placebos Song abgegangen ist wurde rausgetackelt, und wenn man drin runtergefallen ist, würde man sofort hochgehoben, da war man voll solidarisch, musste man aber auch sein, ich meine, da hätte man auch zertrampelt werden können bei der Menge, haben auch Leute Zähne verloren und so. Hab da aber wie gesagt immer nur zugeguckt, so das Rumgeschubse waren mir immer bisschen zu stressig.

Das stimmt schon, man riskiert was dabei. Ausgeschlagene Zähne sind nicht so cool, und umkippen will man da auch nicht gern. Auf der anderen Seite sollte diese Darstellung ja auch zeigen, wie Sarah tickt. Da schwingt ein wenig Selbstmissachtung, etwas Selbstzerstörerisches mit.

Ansonsten ja … bisschen Attitüde, komischer Animationsrahmen, gut beschrieben die Kernszene mit dem Pit und dem Konzert da, … die Vergewaltigungsszene ist auch gut geschrieben, wirkt aber bisschen beliebig, weil die Geschichte dann vorbei ist und das Ganze nirgends hinführt und die Figuren sagen einem da vielleicht noch nicht genug .. ein bisschen fehlt mir hier auch, dass da was aufbricht und man mehr in die Geschichte reinkommt und Handlung und so ... so sind das paar coole Szenen und Atmosphäre, das ist auch gut.

Ich denke, das Problem ist, dass meine Ursprungsidee ein bisschen vor dem Bombast der Moshpit-Szene untergeht. Die Idee war ja, dass Sarahs Konflikt beschrieben wird. Von feministischer Seite kann man nun fragen, weshalb es ihr Konflikt oder Problem sein soll, wenn so ein Idiot sie anmacht oder sie gar vergewaltigen will. Ist doch nicht ihre Schuld. Ich habe das nicht vor dem Hintergrund von Schuld betrachtet, sondern vor der Idee, dass es Gründe gibt, weshalb wir immer wieder auf ganz spezielle Probleme stoßen. Meine Vorstellung dazu war, dass der Radikalisierungsprozess, den Sarah erlebt, nur ein Zwischenschritt zur Lösung sein kann.

JuJu, vielen Dank für Deine Zeit und Deine Mühe.

Gruß Achillus

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Wird fortgesetzt ...

 
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Hallo Weltenläufer, vielen Dank für Deinen Kommentar. Schön, dass Du wieder reingeschaut hast.

He Achillus, fein, dass du dich auch mal an was Anderem versuchst. Sitzt auf jeden Fall. Hart und dreckig.

Ja, der für mich interessanteste und schwierigste Punkt beim Schreiben war es, die Ich-Perspektive einer Erzählerin einzunehmen. Ich schreibe ja sonst aus der auktorialen oder personalen Perspektive. Die Ich-Perspektive macht es leichter, die Geschichte dynamisch, schnell und hart zu schildern.

Dass es eskalieren wird, ja, das ist klar, aber mit der Klo-Nummer habe ich jetzt nicht gerechnet.

Hm, das stimmt. In den letzten Tagen habe ich darüber nachgedacht, ob man das noch besser vorbereiten sollte. Aber ich finde immer noch die Grundidee spannend, dass das wie aus dem Nichts kommt und den Leser ebenso überrascht wie die Erzählerin.

Da fehlt mir irgendwie der Link, der mir das plausibel erscheinen lässt.

Das ist der springende Punkt. Es ist nicht plausibel, weil es gar keine Hinweise dafür gibt, die außerhalb der Persönlichkeit von Sarah liegen. Ich habe versucht, es aus ihrer Perspektive so darzustellen, dass sie genau dort den blinden Fleck hat. Sie weiß nicht, warum es passiert.

Die Rettung aus der Situation ist dann wieder saucool.

Das gehörte mit zu der Idee. Sie wird durch ihre eigene Geistesgegenwart, ihren Mut und durch Jane gerettet.

Was es jetzt mit dem Animationskram auf sich hat ...?

Ja, das haben ja mehrere Kommentatoren angemerkt. Vielleicht ist einfach dieses Berufsbild nicht klar. Ich werde mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen.

Vielen Dank, Weltenläufer.

Gruß Achillus

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Hallo Reiki, danke, dass Du noch mal geantwortet hast.

Was mich ein wenig stört, wenn man das so sagen kann, ist, dass Dein "Sujet" immer dasselbe beinhaltet. Es ist immer irgendwie Gewalt im Spiel, es ist immer dreckig (Schlammschlacht), rau und derb.

Dieser Vorwurf ist sicher berechtigt. Und ich stimme Dir auch zu, dass ein guter Erzähler über viele verschiedene Themen schreiben können sollte.

Feinere Töne fänd ich daher schön. Weniger brutal, vielleicht mal "melancholisch", das mag Dir vielleicht sogar (nahe)liegen - Trauer ist oft der Antrieb für Wut, Zerstörung und Gewalt.

Das klingt auf jeden Fall spannend. Ich denke darüber nach.

Vielen Dank für Deinen Hinweis, Reiki.

Gruß Achillus

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Hallo Jo, schön, dass Du geschrieben hast. Ich fand Deinen Kommentar spannend und hilfreich und habe mich darüber gefreut.

Mir fehlt hier ein Konflikt und ein Plot wie in deinen anderen Geschichten.

Ja, das Problem ist mir in den letzten Tagen klar geworden, als ich die Kommentare gelesen habe. Vielleicht ist es ein Fehler im Führen der Aufmerksamkeit des Lesers: Die Moshpit-Szene hat soviel Gravitation, dass es für den Leser schwierig ist, das Geschehen drum herum wahrzunehmen.

Also, was passiert da im Grunde: Hardcore Mädel geht auf Konzert, weil sie mit dem Sänger der Vorband ein Date hat, sie "tanzt", geht auf die Toilette und wird vergewaltigt - gibt es irgendwie eine Verbindung der Szenen? Die Vergewaltigung könnte ja auf jedem anderen Konzert auch passieren, ist das jetzt eine Vergewaltigungsgeschichte? Dafür hat die Vergewaltigungsszene zu sehr dezentralisiert und die Moshpit-Szene dominiert die Geschichte, die über eine Beschreibung nicht hinausgeht.

Es gibt eine Verbindung zwischen diesen Szenen. Meine Prämisse beim Schreiben war, dass ein Konflikt, den wir nicht lösen, immer wieder zu uns zurückkehren wird. Der Konflikt besteht hier in Sarahs Problem, ihre Identität als Frau zu verstehen, zu realisieren, zu finden und zu leben. Offenbar begann dieser Konflikt in der Beziehung zu ihrem Vater. Das wird angedeutet. Auf die plumpen Annäherungen von Bremer reagiert sie hochaggressiv. Männer sind Wichser. Ausdruck ihres Konflikts ist das Prügeln in der Moshpit-Szene, etwas, das selbst die Hardcore-Mädchen so eigentlich nicht machen, sondern den Jungs der Szene vorbehalten ist. Dahinter steckt Sarahs Weigerung, die traditionellen Rollenbilder (Mann-Frau) zu akzeptieren. Als die Vergewaltigung kommt, trifft Sarah dieser Übergriff wie aus heiterem Himmel. Das ist ein Hinweis auf einen blinden Fleck in ihrer Wahrnehmung, der wiederum als Ausdruck einer Verweigerungshaltung interpretiert werden kann.

Ein Schlüssel, der für mich das Dilemma zeigt, ist Sarahs Gedanke, dass Christian sie retten wird. Obwohl sie so viele Energie darauf verwendet hat, dem traditionellen Rollenbild etwas entgegenzusetzen, drückt sich hier aus, dass sie tief in ihrem Herzen immer noch dem Mythos anhängt, eines Tages wird der Prinz auf seinem weißen Pferd erscheinen und all ihre Probleme lösen. Sie hofft darauf, dass ein Mann ihrem Leben Sinn geben wird. Darin besteht ihre Illusion.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass diese Geschichte mit dieser Hardcore-Metal-Szene-Ästhetik spielt und darüber hinaus nicht viel leistet - also eine Mogelpackung, wie ich finde.

Gegen Gefühle ist nichts zu sagen, aber den resultierenden Vorwurf finde ich ungerecht.

Was die Figur angeht: bekommt die auch ein Eigenleben oder bleibts nur beim Rumgepose? Also ist das ein echter Mensch oder nur eine coole Nebenfigur aus einem Film - normal sind solche Mädels ja tatsächlich mit ihrem Posen, ihren Tattoos, Zigaretten und Bier aus der Flasche ja Nebenfiguren und ich finde, hier schafft es nicht, sie zur Hauptfigur zu machen, weil sie weiterhin sehr fern bleibt.

Dass Sarah so distanziert wirkt, war gedacht als Ausdruck eines psychischen Defizits. Sie ist nicht bei sich. All ihre Reaktionen, Empfindungen, Gedanken werden von der Idee dominiert, gegen etwas zu sein. Sie hat nicht gelernt, für etwas zu sein. Auch Stevens Hinweis, sie hätte ein Date, wird von ihr verächtlich gemacht und abgewehrt. Sie lebt im Konflikt mit ihren wahren Motiven. Menschen die so ticken, spielen eine Rolle. Das wollte der Text zeigen.

Komisch, wie alt ist sie denn? Wenn sie schon in den 80igern dabei war, dann müsste sie ja schon vierzig sein - macht irgendwie einen jüngeren Eindruck auf mich, höchstens Mitte 20. Vielleicht denkt sie das auch nur von den 80igern so vom Hörensagen.

Mitte zwanzig, würde ich auch sagen. Diese Bemerkung zielte nur darauf ab, dass sie die Wurzeln ihrer Szene kennt.

Das Mädchen ist ihr Ziel, weil Bitch fight und Konkurrenz oder weil Maßstab oder Schwestern im Kampf? Was geht da ab?

Nein, das war ein solidarischer Gedanke.

Ja, das ist so der einzige Satz mit bisschen Hintergrundinfo zur Figur, aber dann ist es auch so eine Missbrauch-Geschichte und dann wirkts schon fast wie ein Klischee, dass sie dann in diese harte Szene landet.

Dass Kinder, die Traumatisierungen durch ihre Eltern erleben, häufig Radikalisierungsprozesse durchleben, ist ungefähr so viel Klischee, wie die Aussage, dass Treffer aus Schusswaffen tödliche Folgen haben können. Natürlich gibt es viele andere Varianten, aber sehr häufig läuft es auf irgendeine Art des beschädigten Lebens hinaus.

Und die Vergewaltigungsszene wirkt drangepappt - so das I-Tüpfelchen eines harten Abends im Leben eines harten Mädchens und am nächsten Morgen ist alles wie gehabt - reflektiert sie oder ist das alles pure Verdrängung und sie lässt dann die Aggressionen ausschließlich zur Musik raus - nä, die ist ja daueraggressiv.

Sarah durchschaut nicht, was da passiert. Sie erkennt die Zusammenhänge nicht. Ich hatte gehofft, der Leser könnte dazu zumindest einige Ideen entwickeln, aber das ist mir scheinbar so nicht gelungen.

Ugh, nein danke.

Ich danke Dir, Jo.

Gruß Achillus

 
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Hallo Achillus!

Ist Dein Name angelehnt an den trojanischen Helden? Dann pass auf Deine Ferse auf!

Offenbar begann dieser Konflikt in der Beziehung zu ihrem Vater.

Das würd mich ja mal interessieren, was da los war.


Ausdruck ihres Konflikts ist das Prügeln in der Moshpit-Szene, etwas, das selbst die Hardcore-Mädchen so eigentlich nicht machen, sondern den Jungs der Szene vorbehalten ist.
Ich würd sagen, ich kenn die Szene so ein ganz klein wenig ... ich war auch gerne drin. Und hab auch noch ein paar andere Mädels dort rumflitzen seh´n. Vielleicht alle mit Identitäts- und Vaterkonflikt?
... Ist aber ein guter Ansatz.

Wo zeigt sich dieser Konflikt denn noch?
- Im Verhalten ggü. Männern.
- Darin im Moshpit zu sein.
- ... ?


Sie hat einen Konflikt mit sich selbst. Innerer Konflikt. - Ich würde sagen, dass dann mehr Innenschau der Figur vonnöten wäre. - Wobei es auch interessant sein kann, diesen von außen zu versinnbildlichen.

(Muss noch mal gucken, inwieweit deine Figur über sich selber nachdenkt.) -> Ganz sicher, mehr Innenschau. Du hast die Gabe, die Außenwelt sehr genau beschreiben zu können - ich glaube, du brauchst noch mehr "Innen" für Deine Figur. Es ist eine Ich-Erzählerin.

Die Geschichte selbst fand ich übrigens sehr mitreißend. Es war nicht so ganz mein Fall, aber irgendwie steckt da was drin, was mich gefesselt hat.


Gruß

Runa

 
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Hallo Runa, vielen Dank für Deinen Kommentar!

Ist Dein Name angelehnt an den trojanischen Helden? Dann pass auf Deine Ferse auf!

Yo, ich trage ja Boots, da passiert schon nix :D

Offenbar begann dieser Konflikt in der Beziehung zu ihrem Vater. - Das würd mich ja mal interessieren, was da los war.

Im Rahmen dieser KG hat mich nur interessiert, dass es da eine belastete Ausgangsposition gab. Sarah erwähnt, dass ihr Vater ein Scheißtyp ist / war und dass er ihr ein Stück vom Zahn ausgeschlagen hat. Das deutet auf schwerwiegende Probleme im Verhältnis der beiden hin.

Ich würd sagen, ich kenn die Szene so ein ganz klein wenig ... ich war auch gerne drin. Und hab auch noch ein paar andere Mädels dort rumflitzen seh´n. Vielleicht alle mit Identitäts- und Vaterkonflikt?

Nee, so herum kann man das natürlich nicht drehen. Wir glauben ja gern an eine monokausale Welt, weil das die Komplexität der Wirklichkeit vereinfacht. Doch in Wahrheit existieren natürlich immer viele verschiedene Bedingungen und Ursachen.


Wo zeigt sich dieser Konflikt denn noch? Im Verhalten ggü. Männern. Darin im Moshpit zu sein. ... ?

Der Konflikt zeigt sich für mich vor allem in der inneren Spaltung. Auf der einen Seite ist das ja so ein bisschen eine Groupie-Aktion, sie sagt ja, dass sie vor allem wegen Christian da auf diesem Konzert ist, sie will ihn kennenlernen. Auf der anderen Seite wendet sie sich gegen das traditionelle Mann-Frau-Bild. Einerseits hofft sie darauf, dass Christian sie retten wird, andererseits trägt sie ein Tattoo von Kali, einer hinduistischen Göttin, deren Symbole eine Kette (oder eine Gürtel) aus Schädeln getöteter Feinde und ein totes Kind sind. Ich finde, wenn man hier keinen Konflikt sieht, macht man es sich mit der Geschichte etwas zu leicht.

Sie hat einen Konflikt mit sich selbst. Innerer Konflikt. - Ich würde sagen, dass dann mehr Innenschau der Figur vonnöten wäre. - Wobei es auch interessant sein kann, diesen von außen zu versinnbildlichen.

Das stimmt vielleicht. Denke ich drüber nach.

Die Geschichte selbst fand ich übrigens sehr mitreißend. Es war nicht so ganz mein Fall, aber irgendwie steckt da was drin, was mich gefesselt hat.

Vielen Dank für das Kompliment.

Gruß Achillus

 

Hallo Alexander,

sorry für die etwas verspätete Rückmeldung. Die letzten Tage war recht betriebsam bei mir. Ich habe mich jedenfalls sehr über Deinen Kommentar gefreut.

Ich mochte die Story, weil sie Power hat.

Das klingt gut. Ich denke, wir alle tendieren dazu unter "Leben" das zu verstehen, was unser alltägliches Sein bestimmt. Es ist ab und zu mal ganz gut, zu schauen, wie es links und rechts von unserer gewohnten Perspektive abgeht.

Für mich war es auch ersichtlich, dass die Protas schon ne Weile in der Szene verkehren und mit den Abläufen vertraut sind.

Das ist ein wichtiger Punkt. Die Leute wachsen ja auch in solche Kulturen hinein, verstehen und verkraften das deshalb besser. Ich habe mir bei solchen Konzerten hin und wieder den Spaß gemacht, mir vorzustellen, wie meine Eltern oder Großeltern das empfinden würden, was da so passiert. Ich denke, sie wären schockiert. Aber das beschreibt eben nur, wie die Menschen auf etwas reagieren, das sich außerhalb ihrer gewohnten Erlebniskreise abspielt.

Auf der anderen Seite schwingt auch dieser Unterton von Erfahrung und leichter Distanz mit, den Leute oft haben, wenn sie auf etwas schauen, was ihnen lange vertraut ist, wenn sie die Veränderungen erkennen können, die sich im Laufe der Zeit abspielen. Es liegt ja keine offene Verurteilung vor. Niemand führt ein Streitgespräch über die Grundsätze der Szene oder derartiges.

Ja, das ist eine Methode oder Technik, dem Rätsel des Lebens mit Lakonie zu begegnen. Wenn Protagonisten auf Begebenheiten, die der Leser wahrscheinlich als irritierend empfindet, emotional gar nicht oder nur abgeschwächt reagieren, stellt sich bei der Lektüre ein sonderbares Gefühl ein. Mir ging das häufig beim Lesen von Márquez so, wo ich dachte: Meine Fresse, was ist denn da los? Wie ticken denn diese Leute?

Mein Eindruck ist, dass sich die Wirkung durch dieses Understatement erhöht. Ich finde das viel besser als alle Varianten, wo der Autor dem Leser unbedingt klar machen will, wie extrem das ist, was da gerade passiert. Also Lakonie statt Hysterie.

Am Ende entstand bei mir aber der Eindruck von Desillusionierung. Nach dem Motto: Das ist alles nicht mehr, was es mal war. So sollte das nicht laufen.

Ja, das lässt sich schwerlich abstreiten. Das scheint das Schicksal vieler Bewegungen zu sein, ob es sich dabei nun um Gewerkschaften, künstlerische Avantgarde, Studentenorganisationen, Revolutionäre oder was auch immer handelt. Die ersten Impulse laufen sich irgendwann tot und das, was bleibt, hat mit den Ursprüngen oft nichts mehr zu tun.

Deine Prota ist echt ein armes Schwein. Versuchte Vergewaltigung, Beziehung scheint mehr kaputt als aufbauend und ständig lauern ihr komische Typen auf. Die gute Frau hats echt nicht leicht.

Da hast Du sicher recht. Ich hege viel Sympathie für Menschen, die scheitern. Ich finde, das zeigt sehr gut, wie es in den essentiellen Dingen um uns alle bestellt ist. Natürlich gibt es eine Menge Strahlemänner und Powerfrauen um uns herum, die uns weismachen, dass sie ein erfolgreiches Leben führen und Gewinner sind. Doch stimmt das? Ich bezweifle es. Ich gehe davon aus, dass neun von zehn Kämpfen verloren werden.

Wäre dann wohl mein einziger Kritikpunkt, dass dein Hauptcharakter etwas zu kurz kommt bei all dem Trubel um sie herum. Ist zwar verständlich, wenn man deinen Fokus kennt, aber etwas mehr Reflexion würde vlt auch die emotionale Eingebundenheit in die Szene deutlicher hervorheben. Einfach weil man als Leser, der sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht in der Szene auskennt, besser verstehen kann, was die Veränderungen und die neuesten Entwicklungen für Menschen bedeuten, die große Teile ihres Lebens dieser Szene gewidmet haben.

Guter Punkt. Wurde auch schon von einigen anderen Kommentatoren gesagt. Ich denke, ein bisschen mehr Figurenzeichnung könnte auch dazu beitragen, beim Leser mehr Mitgefühl zu wecken. Novak, hbw und Jo fanden die Protagonistin ja eher unsympathisch, war mein Eindruck. Das wird eine gute Übung für die nächste Geschichte.

Alex, vielen Dank für Deine Zeit und Deine Hilfe.

Gruß Achillus

 

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