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Als das Schaf die Straße überquerte
Manchmal finden die komischsten Geschichten ihren Anfang in vollkommen banalen Dingen. Diese hier beginnt mit einem Schaf. Schafe sind an sich sehr bemerkenswerte Tiere, immerhin kann kein anderes Lebewesen auf der Welt Gras zu Wolle machen. Abgesehen von ein paar alternativen Hippies vielleicht, die in einer kleinen Kommune vor Wuppertal leben und sich in Rasenkleidung hüllen.
Dieses Schaf stand auf seiner Stammwiese, futterte genüßlich ein paar Halme und dachte an nichts. Aus irgendeinem Grund saß eine kleine Meise auf dem Rücken des Tieres und zupfte vergnügt mit dem Schnabel in dessen Wolle herum. Das Schaf hatte keine Ahnung, warum der Vogel das tat, im Laufe der Jahre hatte es sich einfach an seinen Passagier gewöhnt und... Plötzlich schoß dem Schaf ein Gedanke durch den Kopf. Das war so ziemlich das letzte, womit es in diesem Moment gerechnet hätte, aber der Gedanke war nun einmal da und erforderte umgehende Beachtung. Das Tier unterbrach also seinen Freßrythmus, richtete sich auf und nahm zum ersten Mal in seinem Leben seine Umgebung richtig wahr.
Auf der anderen Straßenseite gab es noch eine Wiese, die es bislang noch nie bemerkt hatte. Das Gras dort schien in der Sonne zu funkeln, so saftig und grün war es. "Es wäre doch toll", dachte das Schaf, "wenn ich jetzt auf der Wiese dort drüben stehen würde. Ich hätte sie ganz für mich allein und könnte soviel essen, bis ich platze."
Langsam und vorsichtig, um ja nicht die Glocke um seinem Hals zum Bimmeln zu bringen und seine Artgenossen damit aufzuschrecken, setzte sich das Schaf in Bewegung. Es funktionierte. Die anderen Tiere schienen wirklich nichts zu bemerken und futterten einfach weiter. Eines knabberte gerade genüßlich an einem Löwenzahn, als das abenteuerlustige Schaf auf der Straße von einem LKW überfahren wurde.
"Scheiße!", sagte Jan und trat reflexartig auf die Bremse, womit er sein Fahrzeug schlingernd zum Stehen brachte.
"Wasnlos?"
"Ich bin über irgendwas drübergefahren... es hat geblökt."
"Achso." Herbert, seines Zeichens Beifahrer und stolzer Seriensieger des großen Steakwettessens im Nachbarort, hob seine Schirmmütze an und blinzelte müde in die Sonne.
"Wir sollten aussteigen und uns den Schaden ansehen."
"Nein... nein, das geht nicht.", sagte Herbert und gähnte herzhaft. Er hatte nämlich endlich für ein paar Minuten ihren Zeitdruck vergessen können und sich seinen Tagträumen hingegeben, bei dem eine rassige Nymphomanin namens Uschi eine wichtige Rolle spielte. "Wir müssen auf jeden Fall pünktlich kommen. Letztens schon hat uns der Chef die Hölle heiß gemacht, als wir ne Stunde zu spät waren. Und jetzt hinken wir dem Zeitplan schon wieder hinterher, weil du ja unbedingt noch zum Aldi mußtest."
"Hey, Heike ist immerhin schwanger und wenn ich heute ohne Gurken nach Hause komme, kann ich mir schon mal ne Brücke zum Pennen suchen. Du kennst sie doch, Mann! Und jetzt komm, schwing deinen fetten Hintern aus dem Sitz!"
Die beiden Männer, der eine schlank und sportlich, der andere eher das Gegenteil, stiegen aus ihrem Fahrzeug und besahen sich den Schaden. Der Anblick war nichts für schwache Nerven, immerhin ist so ein Schaf von innen viel matschiger, als von außen.
"Und was machen wir jetzt?", fragte Jan mit zittriger Stimme. Er war eben auf etwas getreten, das vor kurzer Zeit seinen Platz zwischen ein paar Knochen und etwas Wolle verlassen hatte und fühlte sich dementsprechend elend.
"Am besten, wir hauen ab, bevor der Besitzer was merkt."
"Ich glaube, dafür ist es zu spät."
Horst war Schäfer, seit er denken konnte. Schon im zarten Alter von sieben Jahren hatte sein Vater ihn damals von der Schule abgemeldet, damit er etwas Vernünftiges lernen konnte. Und so hatte Horst seine Tage auf der Weide verbracht und den Schafen beim Grasen zugesehen, während seine Freunde in der Schule ihre Zeit mit unwichtigem Kram vergeudet hatten.
Sein Vater hatte ihm alles beigebracht, was man über diesen Beruf wissen muß. Am schönsten fand Horst immer den Moment, in dem sein Hund die Schafe am Abend wieder zusammentrieb und selbstständig zum Rückweg in den Stall animierte. Der Hund war für ihn ein Zeichen, was man mit guter Erziehung so ziemlich alles anstellen kann.
Im Moment lag Horst gemütlich auf der Wiese, kaute auf einem Grashalm und dachte an nichts. Damit ähnelte er den meisten seiner Schutzbefohlenen in mehr, als ihm vielleicht lieb war. Es war weniger der Krach der schreienden LKW-Bremsen, der ihn weckte, sondern eine Mücke, die genau in diesem Moment in sein Ohr stach. Horst tat zwei Dinge zugleich, indem er das Insekt tötete und aufstand. Dann sah er das Schlamassel auf der Straße.
"Scheiße, der kommt direkt auf uns zu. Und er hat einen spitzen Stock in der Hand."
"Na und? Wenn wir einfach zugeben, sein Schaf überfahren zu haben, wird er uns sicher nichts tun.", sagte Jan und zückte seine Brieftasche.
"Nein, laß uns verschwinden. Wir dürfen uns keine weitere Verspätung erlauben." Herbert begann langsam, richtig nervös zu werden.
"Sag mal, warum bist du heute eigentlich so in Eile?"
"Weil ich meinen Job nicht verlieren will, darum!"
"Der Boss wird uns schon nicht feuern, nur weil seine Schweinehälften mal zu spät kommen."
"Nein, der alte Jake wird dazu keine Gelegenheit mehr haben. Wenn wir nur eine Stunde zu spät sind, machen die ihn kalt."
"Wer?"
"Die Mafia."
Jakob Beier hatte die kleine Spedition am Ortsrand damals für wenig Geld von einem Nachlaßverwalter gekauft. Der vorige Besitzer war ein alter Mann gewesen, der die Firma im Schweiße seines Angesichts selbst aufgebaut hatte und dann aus mysteriösen Gründen plötzlich verschwunden war. Später erzählte man sich, der Mann wäre aus eigener Unachtsamkeit in das damals noch frische Zementfundament des neuen Kindergartens gefallen, aber das war nur ein Gerücht.
Jakobs Geschäfte liefen erstaunlich gut, eigentlich schon fast zu gut. Die Kunden mieden das einzige Konkurrenzunternehmen in der Gegend wie die Pest und ließen ihre Waren nur von Jakob fahren. Der führte das auf sein kaufmännisches Geschick, seine gute Menschenkenntnis und die äußerst knappen Kostenkalkulationen zurück. Aber der wirkliche Grund war der Don, das Oberhaupt der lokalen Verbrecherorganisation, die zwar nur aus vier Mitgliedern bestand, welche aber wiederum zu allem entschlossen waren. Der Don hatte sich im Laufe der Jahre in alle Bereiche des öffentlichen Lebens eingekauft. Er kassierte unter anderem Schutzgeld von drei Wurstbuden, einer Wäscherei, zwei Kneipen, dem Polizeirevier, einer Bäckerei, zwei Kiosken und einer Spedition. Zum Ausgleich sorgte er dafür, daß diese Betriebe von den unliebsamen Besuchen verschont blieben, von denen die jeweiligen Konkurrenten ab und an heimgesucht wurden.
Als der Don gehört hatte, daß der alte Spediteur nicht mehr zahlen wollte, hatte er dafür gesorgt, daß die Firma den Besitzer wechseln mußte. Jakob bezahlte den Mitgliedsbeitrag nicht nur pünktlich, sondern ließ auch immer mal wieder heimlich illegale Transporte durchführen. Nicht etwa, weil er die Mafia unterstützen wollte - er war einfach nur zu feige, um Widerstand zu leisten.
"Warte mal, du willst mir erzählen, wir transportieren hier Mafiazeugs?" Jan hatte die Worte seines Kollegen zwar verstanden, konnte ihm aber irgendwie nicht glauben.
"Klar. Wußtest du das nicht?"
"Oh Mann... scheiße, das ist doch illegal!"
"Nein, ist es nicht. Erst, wenn die Bullen was merken. Darum sollten wir hier auch schleunigst abhauen."
Aber dafür war es bereits zu spät. Horst, der Schäfer, hatte die beiden inzwischen erreicht. Er hatte erstaunlich lange für den doch recht kurzen Weg gebraucht – aber wenn man den ganzen Tag damit verbringt, Schafen beim Fressen zuzusehen, leidet irgendwann die Kondition.
"Ey!", sagte er, während er sich bemühte, nicht auf der Stelle vor Erschöpfung tot umzufallen. "Wat habt ihr Säcke mitm Kuddel gemacht?"
"Kuddel?", fragte Herbert.
"Er meint sicher das Schaf."
"Jo, mein Schaf mein ich. Wat solln der Scheiß? Der Kuddel hat euch nix getan."
"Wissen Sie, das... das mit Ihrem Schaf... dem Kuddel, also das tut uns... sehr leid und wir würden gerne..." begann Jan unsicher, wurde aber von Herbert unterbrochen, der dem Schäfer plötzlich und ohne Vorwarnung seine Faust in die Magengegend schmetterte. Röchelnd fiel Horst zu Boden und Herbert schob seinen Kollegen wieder in das Führerhaus des LKWs, bevor der protestieren konnte. Jan startete den Motor und setzte das Gefährt in Bewegung.
Das laute Brüllen des Motors konnte die heulende Sirene aus der Ferne nicht übertönen. Polizeiobermeister Günter Hummel war gerade auf seiner täglichen Rundfahrt durch die kleine Ortschaft, als ihm das Malheur passierte. Musik dröhnte aus den Boxen seines heimlich im Wagen eingebauten Autoradios und während er den Takt mit den Händen auf dem Lenkrad und den Armaturen nachklopfte, löste er aus Versehen die Sirene aus.
"Ach Scheiße!", fluchte er und schaltete sie schnell wieder aus. Als Polizeiobermeister mit jahrelanger Diensterfahrung war er zu dem Schluß gekommen, daß man am besten durch diesen Job kommt, wenn man dabei so unauffällig wie möglich ist. Wenn die Leute einen Polizisten bemerken, wollen sie meistens, daß er irgendwas für sie tut. Katzen retten oder Einbrecher fangen zum Beispiel. Günter haßte Katzen.
"Das war Fahrerflucht!"
"So wie du hier langkriechst, kann man nicht von Flucht sprechen. Drück auf die Tube, Mann!" Herbert war ziemlich nervös. Und das aus drei Gründen. Zum einen hat dieser dumme Zwischenfall sie noch mehr Zeit gekostet, als sie sowieso schon beim Aldi verloren hatten. Zum zweiten hatten sie eben wirklich Fahrerflucht begangen und ein Bulle war ihnen schon dicht auf den Fersen. Und schließlich war nun das passiert, was auf keinen Fall hätte passieren dürfen: mit Jan gab es nun einen weiteren Mitwisser, der sicher ordentlich die Hand aufhalten würde. Oder, was noch schlimmer wäre, die ganze Sache auffliegen lassen könnte. Aber darum müßte Herbert sich später kümmern, zuerst mußte die Ware rechtzeitig ankommen.
Als Günter Hummel wenig später im Vorbeifahren die Schweinerei auf der Straße sah, überkam ihm für einen kurzen Moment ein lähmendes Gefühl der Übelkeit. Es waren nur Bruchteile einer Sekunde, aber sie reichten aus, um ihm die Kontrolle über sein Fahrzeug verlieren zu lassen, welches daraufhin mit einem Baum kollidierte. Das gefährlichste an diesem Unfall war aber weniger der Aufprall selbst, sondern der Beifahrerairbag. Das Luftkissen entfaltete sich blitzartig und schleuderte das nur provisorisch mit einem gebogenen Draht über der Airbagklappe angebrachte Autoradio wie ein Geschoß durch den Wagen.
"Verdammt nochmal, das war gerade neu gekauft!", fluchte der Polizeiobermeister, nachdem er sich aus dem Wagen befreit hatte und das zerschmetterte Radio auf der Straße liegen sah. Um den kaputten Wagen macht er sich weniger Sorgen, den hatte er schließlich nicht selbst kaufen müssen. Sowas war Sache der Steuerzahler. Aber das Radio war sein Privatbesitz gewesen.
Vielleicht war es der Schock oder die jedem Menschen angeborene Fähigkeit, unangenehme Tatsachen für eine Weile ausblenden zu können, aber es dauerte ein paar Momente, bis er realisierte, wo genau das Gerät eigentlich gelandet war. Kurz bevor Günter Hummel nämlich gegen den Baum gefahren war, hatte Horst sich aufrappeln können. Ärgerlich aus seiner Sicht war nur, daß er seinen Kopf genau in dem Moment hob, als das Autoradio die Heckscheibe durchbrach und den Schäfer daher mit voller Wucht an der Stirn erwischte.
Zum dritten Mal an diesem Tag fluchte der Polizeiobermeister und überlegte dann, wem er die Sache mit dem Radio am besten in die Schuhe schieben könnte. Nach ein paar Minuten des Überlegens kam er zu dem Schluß, daß der Schäfer sich bestimmt selbst umgebracht hatte – vermutlich aus Trauer über den Verlust seines Schafes. Zum Glück war schnell genug ein Polizist vor Ort, bevor irgendjemand die Beweise vernichten könnte...
"Willst du mir sagen, deine Jungs verspäten sich? Ich mag es gar nicht, wenn man mich warten läßt." Der Don senkte ein wenig den Kopf und sah Jakob Beier über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg direkt in die Augen. Der Don war der Meinung, zu einer echten Mafia gehörten einfach schwarze Anzüge und Sonnenbrillen.
"Luigi!", sagte er, "Zeig ihm, was mir mit Leuten machen, die mich warten lassen."
Seine drei Handlanger blickten sich ratlos um, bis Lukas Brömmel realisierte, daß er wohl gemeint war. "Ja, Chef... sofort." Lukas steckte seine Pistole ein, die er bis eben noch auf den Kopf Beiers gerichtet hatte und fesselte den Spediteur an einen Stuhl.
"Luigi wird dir nun für jede Minute, die deine Leute zu spät kommen, irgendwas abschneiden. Ich denke, er sollte mit dem kleinen Finger anfangen."
"Oh Mann... immer muß ich die ekligen Jobs übernehmen.", begann Lukas, doch als er den strengen Blick des Dons bemerkte, besann er sich schnell eines Besseren "Na gut... kann mir einer sein Messer leihen? Ich hab meins im Auto vergessen."
Als würde das Schicksal es gut meinen mit dem Spediteur, donnerte genau in diesem Moment der LKW auf den Hof, wobei er das Tor der Einfahrt krachend durchbrach. Jan hatte die Bremse in der Hektik nicht rechtzeitig gefunden, weil Herbert ihm ununterbrochen ins Ohr gebrüllt hatte, er solle Gas geben. Zwar konnten sie auf diese Art tatsächlich viel Zeit gutmachen, aber das Tor war unwiderruflich zerstört.
"Ah, meine Lieferung. Schweinehälften, oder? Luigi, binde den Mann los. Unser Freund hier hat nochmal Glück gehabt."
Wenig später war der LKW erfolgreich entladen und ein Koffer, gefüllt mit der brisanten Ware, landete dabei heimlich im Kofferraum des Don.
"Sehr gut. Wir sehen uns dann in drei Wochen. Aber dann seid pünktlich, sonst wird euer Chef wichtige Dinge verlieren."
"Äh... Don..."
"Was gibt es denn noch?"
"Wir... naja, wir haben ein Problem.", sagte Herbert und zeigte mit dem Finger auf Jan.
"Hat er was von unserm Deal mitgekriegt? Na wenn schon. In ein paar Tagen wird auf der anderen Seite der Stadt das Fundament für ein neues Wohnhaus gegossen."
...
Manchmal finden die komischsten Geschichten ihr Ende in vollkommen banalen Dingen. Diese hier endete mit einem Schaf. Seit der Schäfer nicht mehr über die Herde wachte, fielen einige der Tiere in eine tiefe Sinnkrise. Sie wußten einfach nicht mehr, was sie machen sollten, wenn Abends die Sonne unterging. Zum Fressen war es dann zu dunkel und schlafen konnten sie nur in ihrer bekannten Umgebung des Stalls. Dazu kam noch diese unheimliche helle Scheibe am ansonsten schwarzen Himmel. Natürlich kannten sie die Sonne, aber das hier war ganz anders. Einige Schafe versuchten, die Scheibe durch aggressives Blöken vom Himmel zu vertreiben und tatsächlich erzielten sie damit einen gewissen Erfolg. Nach ein paar Stunden gab das Ding auf und überließ den Himmel wieder der strahlenden Sonne.
Eines der Tiere aber war weitaus schlauer, als der Rest. Ihm war klar, daß die Herde jetzt, wo ihr Schäfer fort war, frei war. Sie konnten nun tun und lassen, was sie wollten. Natürlich hatte das Tier keine Ahnung, was es nun tun könnte, aber es sollte auf jeden Fall etwas Aufregendes sein – etwas, das noch nie ein Schaf zuvor getan hatte.
Also faßte es sich ein Herz, trottete langsam über die Straße und fraß soviel Gras von der gegenüberliegenden Wiese, bis es platzte.