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Also Offline? - Ein Vorschlag der maschinenlesbaren Kritik
Er gab auf. Der Espressomat hatte schon vor Ewigkeiten in den Wartungsmodus umgeschaltet, von Stunde zu Stunde nach frischen Säurefiltern piepsend. Das Ding schluckte mittlerweile schon täglich mehr Chemie, als er für einen Monatsvorrat "echten" organischen Kaffes ausgab. So schnell wie die verschiedensten Umweltgifte ins Trinkwasser gelangten, mußte man sich doch mittlerweile fragen, wie lange es noch dauern würde, bis die Katalysatoren genauso unerschwinglich würden, wie die militärischen Googler des terrestrischen Intranets, mit deren Hilfe er den Infoknoten, der ihn den ganzen schlaflosen Vormittag hindurch beschäftigt hatte, in vielleicht zwei, nicht mehr als drei Minuten vollständig entflochten hätte.
Wie lange würde es noch dauern können, bis wir an der täglich dichteren Konzentration am Nervengift der Industriemüllhalden ersticken würden, wie jetzt schon an dem unfiltrierbaren Datenmüll im Netz?
Wie sprach die alte Cracker-Bibel? "Wie Online, also Offline"?
Aus dem noch unvollständigen Studium der einschlägigen Threads (siehe Verzeichnis unten) und meiner (im obigen Textfragment beschriebenen) Unfähigkeit, eine Antwort der Moderatoren auf eine frühere Inkarnation des folgenden Vorschlags aufzufinden, den wahrscheinlich die Eine oder der Andere schon vor mir einmal gemacht hatte, muß ich jetzt die Gefahr eingehen, ihn zum unzähligsten Male (aber hoffentlich in neuer Version) hier vorzutragen.
So wie ich ihn verstanden habe, wollte Marius Manis in seinem Thread "Ich bin für mehr Kurzgeschichten..." [1] nicht das womöglich unter seinen persönlichen Ansprüchen an eine kreative Schreibergemeinschaft angesiedelte Niveau der Texte hier bemängeln und zur eingreifenden Maßnahme auffordern. Ich denke vielmehr, er hatte einen Zeitpunkt, der sehr mit meinem gegenwärtigen vergleichbar ist. Ich bin ein neues Mitglied dieser äußerst kreativen Kommune hier und, um mir einen gemütlichen Lesetag zu machen, hatte ich vor, mir sofort, und ohne lang zu suchen, die "besten Werke" nacheinander auszulesen. Trotz der, leider nicht in allen Rubriken vorhandenen, Lese-Empfehlungen, fand ich es sehr schade, daß uns kein Bewertungssystem zur Verfügung steht und damit auch die entsprechende Funktion der Suchmaschine fehlt, Werke ab einer bestimmbaren Qualitäts-Untergrenze herauszufiltern, oder die Einträge der Themenübersicht danach zu ordnen.
Eine Erweiterung des Datenbanken-Records um einen Bewertungs-Integer würde meiner Meinung nach keine Umstände machen. Auch eine zusätzliche Spalte für die Wortzahl des Textes wäre vielleicht angebracht, dem von Arc En Ciel geäußerten Wunsche gerecht zu werden, auch längere Geschichten leichter aufzufinden, den man in [2] nachlesen kann.
Vorallem brauchen wir aber meiner Meinung nach diese zusätzliche Form der Kritikgebung, die nicht nur vom menschlichen Leser, sondern auch von einer Maschine leicht verstanden werden kann: Die notenartige Bewertung des Textes nach allgemein festgelegten Kriterien.
Es könnte damit eine globale Seite: "Empfehlungsliteratur" (wöchentlich, nächtlich, zugrifflich?) dynamisch erstellt werden, auf welcher die höchstrankenden Texte auch sofort von Nicht- oder Gelegenheits-Mitgliedern aufzufinden wären und wodurch sich aber ferner auch der vorwiegende Geschmack der Kommune herauszustellen fähig wäre, können doch die höchstbewerteten Texte auch als kollektives Ideal angesehen werden.
Mit der Beschränkung des Bewertungs-Systems auf Mitglieder sollten scherzhafte und unsinnige Eingaben verhindert sein. Wie schaut es aber mit der Kompetenz? Man müßte annehmen, daß wer amateurhafte Texte produziert, auch noch keine ausreichende Kritikfähigkeit besitzt, die ihm erst eine kompetente Beurteilung der Qualität seiner eigenen und damit auch fremder Texte ermöglichen würde. Doch meine ich, daß sich Menschen nicht grundlos für die Schreibkunst entscheiden, sondern aus ihrer Liebe zu dem einen oder anderen Gelesenen, in dem sie eine besondere Ästhetik zwar vieleicht noch nicht vollständig begriffen haben, aber dennoch lebendig genug verspüren, um sie sich zum Vorbild zu machen. Schönheit muß allgemein erkennbar sein, denn der typische Leser ist auf dem Gebiet nunmal ein Laie, auch wenn er seinen Kauf manchmal eher nach dem Buchdeckel entscheidet, welcher allerdings auch angenehm gestaltet werden möchte.
Um die Textbewertung aber letztendlich nicht vollständig vom lediglichen Bauchgefühl des Einzelnen abhänging zu machen, zumal dieses bei dem einen oder anderen sehr flüchtig und saisonbedingt zu bleiben pflegt, könnte man die berechtigten Kritiker in einer Gruppe der, sagen wir, "Wertmündigen" zusammenfassen. Und diese Mündigkeit könnte von Neumitgliedern wiederum durch bestimmte Leistungen, zum Beispiel die allgemeine Förderung des guten Stils betreffend, erworben werden, sei es durch eine Vielzahl hilfreicher Kritiken (hier könnte man dem Kritisierten eine eigene Bewertung der Kritik erlauben, wodurch er sich dem Kritiker dankbar zeigen kann, der hierdurch ja der Wertmündigkeit näher rückt), oder sei es wegen der offensichtlichen Qualität seiner eigenen Werke. Um Autoren der letzteren Art zu motivieren, sollte man vielleicht eine zusätzliche "Wertpflicht" einführen, die für den noch unkritischen Textproduzenten mit kleineren Nachteilen verbunden werden könnte.
Da sich die wertmündigen Kritiker für ihre Bewertung also an allgemeine aber feste Kriterien halten sollten, müßte man diese nun im kollektiven Dialog herausarbeiten. Wir sind nunmal ein Organismus (nach William Gibson [3] genaugenommen gar ein "Cyborg") und haben somit auch eine äußere Erscheinungsform der übrigen Welt gegenüber, die wir allerdings nach unseren eigenen Vorstellungen von Ästhetik, Moral und Weltanschauung bekleiden sollten, bevor wir auf Beachtung der weiteren Öffentlichkeit einen Anspruch erheben dürfen.
Nun gibt es neben dem Wiki [4] noch einige andere Vorschläge dazu, den Begriff der Kurzgeschichte enger zu bestimmen, welche ich hier kurz zusammenfassen möchte.
Folgende Besprechung stammt aus dem Buch "Schreibkunst" [5], das ich nur empfehlen kann.
"Viele gescheite Leute haben sich bemüht, den Begriff der Kurzgeschichte festzulegen, ohne daß es einem von ihnen gelungen wäre, diesem schillernden, ständig kleinen Veränderungen unterliegenden Etwas endgültig beizukommen."
Was also ist es, das "eine Kurzgeschichte erfordert, wenn sie mehr sein soll als eine kurze Geschichte. Der Name selbst sagt schon einiges aus: Kurz, also knapp, gedrängt, verdichtet, auf das Wesentliche beschränkt muß diese epische Kleinform werden, alles kommt auf das Geschehen an, nicht auf Stimmungsmalerei, Träumereien, Gedankenreihen, Charakterzergliederungen oder dergleichen - alles so zusammengezogen wie der Name selbst (...)"
Doch auch hier wird gleich darauf verwiesen, daß es genau die Ausnahmen solcher Definitionsversuche sind, die den besonderen Reiz dieser literarischen Ausdrucksart ausmachen, und nicht zuletzt hierdurch auch die Eingrenzung durch ein festes Regelwerk verbieten.
"Im ersten Weltkrieg hatte die Liller Soldatenzeitung einen Preis ausgeschrieben für die beste Kurzgeschichte; Bedingung: nich mehr als dreihundert Wörter. Die preisgekrönte Geschichte lautete etwa so: Als Latrine haben wir eine große Grube. An ihrem Rand sind zwei Pfosten in die Erde geschlagen und mit einer Querstange verbunden. Eines Abends sägten wir die Pfosten an. Das sind neunundzwanzig Wörter. Die übrigen zweihunderteinundsiebzig sprach der Feldwebel, als er in die Grube gefallen war."
Diese "Schnurre" habe ein "riesiges Luftloch", das aber genau ihren Reiz ausmache und nie zustande käme, "wollte man den im Luftloch verborgenen Vorgang beschreiben - geschähe das noch so anschaulich."
Die folgenden Punkte werden nach dieser Einleitung als die grundlegenden Bestandteile und Richtlinien näher ausgeführt:
b. Alles muß als Handlung erscheinen, muß in unablässiger Bewegung sein. "Sagen sie von Ihrem Helden nicht 'Er hatte lange, schmale Hände', sondern etwa 'Seine schmalen Finger zuckten unruhig über die Tischplatte'. Vermeiden Sie möglichst Beschreibungen wie 'Schnurgerade lag die Straße vor ihm', schreiben Sie stattdessen meinethalben 'Mit rasender Geschwindigkeit fraß der Wagen die Straße in sich hinein' (das 'schnurgerade' stellt sich dann dem Leser von selbst bildhaft dar)."
c. Selbst vom Protagonisten sollte nur ein einziger Charakterzug gezeigt werden, ganz im Gegensatz zum Roman also, "der ja Fülle, Tiefe und Breite haben soll". Man sagt dazu auch, der Hauptcharakter solle "eindimensional" bleiben [7].
d. Das Sinnvoll-Notwendige. "Wenn Sie zum Beispiel im ersten Teil schreiben 'Er kratzte sich verlegen hinter dem Ohr', so muß sich das nicht nur in das Gesamtbild dessen einfügen, dem solches Tun zugeschrieben wird (einem innerlich sicheren großen Herrn würde es schlecht anstehen), sondern das Kratzen hinterm Ohr muß im weitern Verlauf irgendeine Bedeutung gewinnen. Sonst haben Sie Worte vergeudet, und das ist eine Formsünde wider den Geist der Kurzgeschichte."
e. Einheit der Stimmung. Man solle den Leser in kein Gefühlsmeer führen und ihn danach sich selbst überlassen, sondern eine Grundstimmung wenn möglich bis zum Ende beibehalten.
f. Gruppierung. Die übliche Struktur wird so beschrieben: "Die Einleitung macht vertraut mit der Hauptperson und ihrem hervorstechenden Charakterzug, mit Umwelt und Motiv. Der Hauptteil führt den Helden in eine bedrohliche Situation, die bedingt sein muß durch seinen hauptsächlichen Charakterzug; in möglichst vielen Szenen soll diese Bedrohung immer stärker und endlich sogar aussichtslos erscheinen. Der Schlußteil führt zu einer folgerichtigen (!) Lösung."
g. Einheit von Zeit, Geschehen, Ort: "Nur wenn es unbedingt sein muß und nur wenn es sein darf, wird man in der handlungs- und charaktermüßig einsträhnigen Kurzgeschichte die Einheit des Ortes preisgeben." Gemeint ist, wenn möglich, keine großen Ortswechsel oder Zeitsprünge in das Geschehen einzubauen. Was die Zeit im Besonderen betrifft nehme man am besten Hebels "Unverhofftes Wiedersehen" [8] als gelungene Ausnahme der Regel, denn danach solle man "kaum noch einen Satz lesen können wie 'Jahr um Jahr verstrich', ohne schaudernd das Tote, Inhaltlose einer derartigen Aussage zu empfinden."
Nach dem Lesen eines jeden Textes könnte man ihn einen kleinen Fragebogen ausfüllen lassen, in welchem er überwiegend technische Aspekte des Schriftstücks nach seinem besten Ermessen zu bewerten hätte. Eine Note für angemessene Sprache, eine für guten Stil, bzw. Trefflichkeit und Varianz von Stilmitteln, eine weitere für abwechslungsreichen Rhythmus. Dergleichen. Eine für logischen Zusammenhang, eine für erschöpfende Recherche, eine Note für Spannung und Lesemotivation. Für Brilianz der Charaktere. Die Liste könnte noch viel ausführlicher werden, wenn man alle Aspekte zusammentrüge, die eine gute Erzählung ausmachen. Man müßte sich auf einen repräsentativen Teil beschränken, aus nur den wichtigsten Bereichen.
Natürlich könnte man auch Bewertungen der allgemeinen Stimmung - aufbauend, niederdrückend, distanziert? - hinzufügen, um dem Leser die Suche "nach Gefühl" zu erleichtern. Auch könnte der Text mit seinem Motto oder seiner Prämisse [7], falls vorhanden, ausdrücklich ausgezeichnet werden. Stets mit der weiteren Eingrenzung von Suchergebnissen im Sinn und unserer aller Abhängigkeit vom seiteninternen "Googler".
[1] Marius Manis. "Ich bin für mehr Kurzgeschichten und für weniger schlechten Text..."
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=26064
[2] arc en ciel. "Sammlung langer Geschichten"
http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=15735
[3] Gibson, William. Weblog. "MY TALK ABOUT 'THE CYBORG'" (im Eintrag vom: Tuesday, January 28, 2003).
http://www.williamgibsonbooks.com/blog/2003_01_01_archive.asp
[4] Wikipedia. "Kurzgeschichte"
http://de.wikipedia.org/wiki/Kurzgeschichte
[5] Schumann, Otto (Hrsg.). "Grundlagen und Techniken der Schreibkunst". Gondrom Verlag (2004).
http://www.amazon.de/exec/obidos/AS...8-1/ref=sr_8_xs_ap_i1_xgl/302-9920320-1308816
[6] Kleist, Heinrich. "Anekdote".
http://gutenberg.spiegel.de/kleist/anekdote/Druckversion_anekdote.htm
[7] Frey, James. "How to Write a Damn Good Novel". St. Martin's Press (2001).
http://www.amazon.de/exec/obidos/AS...8-1/ref=sr_8_xs_ap_i1_xgl/302-9920320-1308816
[8] Hebel, Johann Peter. "Unverhofftes Wiedersehen".
http://www.hausen-im-wiesental.de/jphebel/geschichten/unverhofftes_wiedersehen.htm