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Alte Sachen

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14.10.2001
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Alte Sachen

Benjamin trödelte auf dem Heimweg. Als er aufschloss, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Im Haus roch es anders und er hörte eigenartige Geräusche.
‚Ich habe keine Angst.’ Er warf seine Schultasche in die Ecke und lief die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Es würde noch ungefähr drei Stunden dauern, bis seine Mutter von der Arbeit kam.
Oben blieb er erschrocken stehen. Die Luke zum Dachboden stand offen und die Leiter war heruntergezogen.
„Mama“, rief er, „bist du da oben?“
Niemand antwortete. Aber da waren schwere Schritte. Das konnte auf keinen Fall Mama sein. Benjamin wollte weglaufen, als er eine Stimme hörte: „Benny!“
In der Luke erschien ein unrasiertes Gesicht. Der Mann blickte zu ihm herunter. Er hatte auffallend helle graue Augen.
Vor Erstaunen vergaß Benjamin seine Angst. „Woher kennen Sie mich?“
„Das lässt sich ganz einfach erklären. Aber du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben.“
„Wieso nicht?“ Benjamin wurde neugierig.
„Komm erst mal rauf. Ich hab’ was für dich.“
Benjamin zögerte.
„Das Geschenk wird dir bestimmt gefallen. Aber du musst raufkommen.
„Warum?“
„Weil du es hier am besten ausprobieren kannst.“
Der Fremde hatte eine freundliche Stimme.
„Eigentlich hat Mama mir verboten, auf den Dachboden zu steigen.“
„Ich passe auf.“ Der Mann beugte sich nach unten und streckte ihm seine große Hand entgegen.
„Ich kann das schon allein.“
Der Unbekannte lachte und zog die Hand zurück. Benjamin wunderte sich, dass dessen Kleidung so schmutzig war.
Er war lange nicht mehr auf dem Dachboden gewesen. An den Wänden standen alte Schränke, eine Kommode und Regale. In der Mitte des Raumes stapelten sich Pappkartons. Staub schwebte in dem flirrenden Sonnenlicht, das durch das Dachfenster fiel.
„Wo ist denn das Geschenk?“
„Ich zeige es dir.“
Der Mann schien riesengroß. Er holte etwas unter seiner Jacke hervor und hängte es ihm um den Hals. „Damit kannst du ganz weit schauen.“
Benjamin trat zum Dachfenster und presste das Fernglas vor seine Augen. Erst sah er gar nichts, aber der Unbekannte half ihm, und auf einmal schienen die Häuser gegenüber unfassbar groß und nah.
„Du kannst sogar in die Wohnungen hineinsehen.“
Tatsächlich! Benjamin lachte laut auf, als er sah, wie die Nachbarin von gegenüber ihre Spülmaschine ausräumte und dabei immer wieder ihren Po in die Luft streckte.
„Gefällt es dir?“
Benjamin setzte das Fernglas ab und betrachtete es von allen Seiten. Irgendwo hatte er es schon einmal gesehen. „Woher haben Sie das?“
„Es gehört mir.“
Eine kleine Pause entstand.
„Und woher kennen Sie mich?“
„Du kannst ruhig ‚du’ zu mir sagen.“
„Na gut! Wie heißt du denn?“
„Paul. Hör zu, was ich dir jetzt sage, ist sehr wichtig ...“ Plötzlich hörte er auf zu sprechen und stöhnte leise.
„Was hast du?“, fragte Benjamin erschrocken.
Der Mann holte ein paar Mal tief Luft. „Ach nichts. Was ich sagen wollte: Du darfst niemandem verraten, dass ich hier war.“
„Auch Mama nicht?“
„Auf gar keinen Fall. Wenn du das tust, kann ich nie mehr wiederkommen. Und du möchtest doch, dass ich wiederkomme, oder?
Benjamin war sich nicht sicher, aber er nickte.
„Gut.“ Paul sah auf die Uhr. „Schon halb zwei. Ich muss gehen.“
Hintereinander kletterten sie die Leiter hinunter, Paul schob sie zusammen und verschloss die Luke.
Vor dem Haus fiel eine Wagentür zu.
Der Mann sprang die Treppe hinunter und lief zur Hintertür.
„Warte!“, rief Benjamin. „Wie heißt du denn mit Nachnamen?“
„Gerber“, antwortete er ohne stehen zu bleiben.
Die Haustür wurde aufgeschlossen.
„Gerber.“
„Gerber!“, wiederholte Benjamin erstaunt.
Der Mann war verschwunden.
„Hallo, Benny!“ Seine Mutter gab ihm einen Kuss. Ihr Blick fiel auf das Fernglas. „Woher hast du das?“
Benjamin biss sich auf die Lippen. Er hatte versprochen, nichts zu verraten. Und Versprechen musste man halten.
„Ich habe es gefunden.“
„Hm.“ Sie betrachtete das Fernglas von allen Seiten. „Es ist schon ziemlich alt. Ich denke, du kannst es behalten.“

Den ganzen Tag musste Benjamin an den Mann denken. Würde er wiederkommen? Paul Gerber war sein Name. Zumindest hatte er das gesagt. Aber das konnte gar nicht sein!
„Was ist los mit dir?“, fragte die Mutter. „Du bist so still.“
„Nichts“, antwortete Benjamin. Aber das stimmte nicht. Er war beunruhigt.

Drei Tage später schlenderte Benjamin von der Schule nach Hause. Es war ein grauer, kalter Tag und Nieselregen wehte in Schleiern über die Straße.
In der Diele hörte er bereits die Schritte auf dem Dachboden.
„Paul?“
„Hallo Benjamin! Komm rauf, hier oben ist es gemütlicher als unten.“
Der Mann trug dieselbe Kleidung wie das letzte Mal, nur war sie jetzt noch schmutziger. Er sah sehr blass aus und zitterte.
„Du bist ja ganz nass!“
„Es regnet.“
„Hast du keinen Mantel?“
„Den habe ich vergessen. Übrigens: Ich habe dir was mitgebracht. Aber ich muss erst meine nassen Sachen loswerden.“
Paul zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Er war schrecklich dürr.
Benjamin brachte ihm eine Decke.
„Komm her zu mir“, sagte Paul.
Benjamin setzte sich ein Stück entfernt auf den Boden, aber Paul rutschte zu ihm herüber, legte seinen knochigen Arm um ihn und drückte ihn an sich. „Wärm mich ein bisschen“, flüsterte er. Benjamin fühlte sich unbehaglich. Doch er wollte ihn nicht beleidigen und blieb steif sitzen.
„Heißt du wirklich Paul Gerber?“
„Ja.“
„Komisch. Ich heiße auch Gerber.“
Der Mann sagte nichts. Er hatte inzwischen aufgehört zu zittern. „Wenn du wissen möchtest, was ich dir mitgebracht habe, musst du in meiner Jeanstasche nachsehen“, sagte er.
Flink sprang Benjamin auf und lief zu der Hose, die wie eine leere Hülle auf dem Boden lag. In der Tasche fand er eine kleine, zerknitterte Tüte.
„Kennst du die? Das sind Cremehütchen.“
Benjamin schüttelte den Kopf.
„Mit Schokolade überzogen. Die mochte ich als Kind für mein Leben gern. Probier mal!“
Zögernd steckte sich Benjamin eins in den Mund.
„Und? Wie findest du sie?“
„Super.“ Über ein Geschenk musste man sich immer freuen.
Paul lachte. „Nimm dir noch welche.“
„Später. Willst du auch eins?“
Paul verzog ein wenig sein Gesicht. „Lieber nicht.“
„Warum nicht? Magst du keine Cremehütchen mehr?“
„Doch, aber ich habe Bauchschmerzen.“
Sie schwiegen einen Augenblick.
„Warum heißt du Gerber?“, fragte Benjamin.
Der Mann stand auf und ging zum Dachfenster hinüber. „Du meine Güte, wie viele Autos hier durchrasen! Du musst immer gut aufpassen, wenn du über die Straße gehst.“
„Das sagt Mama auch immer. Wieso heißt du denn nun Paul Gerber?“
„Wieso sollte ich nicht so heißen?“
„Weil mein Papa so hieß. Aber der ist gestorben, als ich noch ganz klein war.“
„Und wenn ich nun behaupte, dass ich dein Vater bin? Würdest du mir glauben?“
„Nein. Mama sagt, er ist tot.“
Paul suchte in der Innentasche seiner Jeansjacke und gab Benjamin ein abgegriffenes Foto. „Das bin ich, und das Baby auf meinem Arm, das bist du.“
Benjamin betrachtete das Bild genau. Der Mann war eindeutig Paul, nur dass er jünger und gesünder aussah, aber ob er selbst das Baby war, konnte er beim besten Willen nicht erkennen.
„Siehst du nun, dass ich die Wahrheit sage?“
Benjamin gab ihm die Fotografie zurück. „Ich weiß nicht ...“
„Habt ihr denn keine Aufnahmen von früher? Aus der Zeit, als du geboren wurdest?“
Benjamin schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass du lügst. Geh jetzt und komm nicht wieder. Sonst erzähle ich es Mama.“
Paul lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Eine Weile stand er reglos da. „Ich habe es mir überlegt“, sagte er schließlich. „Ich will dir das Geheimnis anvertrauen.“
„Was für ein Geheimnis?“
„Du musst wissen“, fuhr Paul fort, „wenn du es ausplauderst, bekomme ich große Schwierigkeiten. Kannst du schweigen?“ Er legte ihm seine Hände auf die Schultern und sah ihn ernst an. Benjamin nickte. Ihm war richtig feierlich zumute.
„Es stimmt, was deine Mutter sagt: Ich bin tot.“
Erschrocken wich Benjamin zurück. „Bist du ein Gespenst?“
„Ja, aber du brauchst keine Angst zu haben. Ich wollte dich nur noch einmal sehen.“
„Ich glaube aber nicht an Gespenster.“
„Du brauchst mich doch nur anzusehen.“
Er war tatsächlich totenbleich und unter seinen Augen lagen violette Ringe. Aber trugen echte Gespenster Jeans und T-Shirts?
„Mama sagt, es gibt keine Geister.“
„Deine Mama hat Recht und auch wieder nicht. Es gibt sie, aber man sieht sie nicht.“
„Und wieso kann ich dich sehen?“
„Du bist eine Ausnahme.“
„Warum wartest du immer auf dem Dachboden? Ein Geist kann doch überall hin.“
„Ja weißt du denn nicht, dass es immer nur an bestimmten Orten spukt?“
Die Kirchturmuhr schlug halb. Paul sprang auf. „Es wird höchste Zeit. Denk an dein Versprechen.“

Als die Mutter zehn Minuten später von der Arbeit kam, lag Benjamin auf seinem Bett und starrte an die Decke. Sie setzte sich zu ihm. Er drehte den Kopf zur Wand.
„Benny, was ist los?“
Auf einmal wurde das Geheimnis zu groß und zu schwer für ihn. „Ich habe einen Geist gesehen. Papa. Er kommt mich besuchen.“
„Was sagst du da?“
„Er spukt auf dem Dachboden herum. Und heute hat er mir Cremehütchen mitgebracht.“
„Sag mal, hast du Fieber?“ Sie legte ihre Hand auf seine Stirn.
„Ich bin nicht krank.“
„Du hast schon immer eine lebhafte Fantasie gehabt.“
„Mama, glaub mir, bitte!“
Sie streichelte sein Gesicht.

Am Nachmittag saß die Mutter in der Küche und wühlte aufgeregt in ihrer Handtasche. „Mein Portmonee ist weg! Über hundert Euro waren drin! Gestern lag es noch auf dem Regal im Flur.“
Benjamin ging in den Korridor und machte das Licht an. „Hier ist es doch“, rief er, „unter den Handschuhen!“
Seine Mutter kam angerannt. „Gott sei Dank!“ Sie öffnete es und stutzte. Forschend sah sie Benjamin ins Gesicht. „Hast du Geld herausgenommen?“
„Nein.“
„Aber es sind bloß noch hundert Euro da. Mindestens zwanzig fehlen. Dabei war ich gestern und heute gar nicht einkaufen.“
Benjamin Stimme zitterte „Ich habe aber nichts genommen.“
Sie umarmte ihn. „Ich weiß, dass du nicht stiehlst. Wahrscheinlich irre ich mich und es waren wirklich nur noch hundert Euro darin.“

Den ganzen Nachmittag dachte Benjamin über diese Geschichte nach. Hatte Paul das Geld genommen? Wenn er es gestohlen hatte, konnte er kein Geist sein. Und wenn er kein Geist war, konnte er auch nicht sein Papa sein, denn der war tot.
„Mama, gibt es eigentlich keine Bilder von mir, als ich ein Baby war?“, fragte er beim Abendessen.
Ein Schatten flog über ihr Gesicht. „Nein“, sagte sie, „aus dieser Zeit haben wir keine Fotos.“
„Warum nicht?“
„Darum nicht. Und jetzt beeil dich. Es ist Zeit ins Bett zu gehen.“
Aber Benjamin konnte nicht einschlafen. Gab es eine Möglichkeit herauszufinden, ob Paul wirklich ein Geist war?
Plötzlich hatte er eine Idee. Kerzengerade setzte er sich im Bett auf. Er würde ihn auf die Probe stellen.

Am Donnerstag kaufte er nach der Schule Cremehütchen.
Paul war schon da und rumorte auf dem Dachboden. Leise kletterte Benjamin die Leiter hoch. Paul durchwühlte die alten Kartons. Aus einem nahm er etwas Viereckiges heraus und steckte es in seine Hosentasche.
„Hallo!“, sagte Benjamin.
Paul fuhr herum. „Da bist du ja!“
„Warum wühlst du in den Pappkartons?“
„Ich habe was gesucht. Und etwas sehr Schönes gefunden.“ Er griff in seine Hosentasche. „Kennst du das?“ Es war dasselbe Bild, das er bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte: Paul mit einem Baby auf dem Arm. Nur dass diese Fotografie nicht abgegriffen war, sondern in einem Bilderrahmen steckte.
Paul holte eine Schachtel aus einem der Pappkartons. „Hier sind ganz viele alte Aufnahmen. Schau sie dir an!“
Benjamin setzte sich unter das Dachfenster. Grelles Licht fiel auf die Fotografien. Mama in einem langen weißen Kleid neben Paul. Sie lächelten sich an. Mama im Badeanzug am Strand. Paul mit den Füßen im Wasser. Um seinen Hals hing ein Fernglas. Und Aufnahmen vom Haus der Großeltern, in dem er mit Mama immer noch lebte.
Sie hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt. Es gab nämlich auch jede Menge Schnappschüsse, auf denen sie oder Paul mit einem Baby zu sehen war. Er zweifelte nun nicht mehr daran, dass dieser Mann sein Papa war. Warum er darüber weinen musste, verstand er nicht.
Paul riss ihn an sich, drückte ihn ganz fest und küsste ihn. Aber Benjamin stemmte sich gegen ihn und wehrte die Hände ab, die ihn streichelten.
„Bist du – wirklich tot?“, stammelte er.
Paul atmete schwer. „Ja“, stieß er hervor. Er stand im Halbdunkel. Seine Jeans und das T-Shirt hingen an ihm herunter wie an einer Vogelscheuche. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen.
Mit zitternden Händen holte Benjamin die Tüte mit den Cremehütchen aus seiner Hosentasche.
„Willst du eins?“
Pauls helle Augen leuchteten auf. „Ja gern. Danke!“ Er wollte ihm über das Haar streichen, aber Benjamin machte einen Schritt rückwärts und sah zu, wie sein angeblicher Vater das Cremehütchen aß.
„Jetzt weiß ich es!“, schrie er. „Du lügst! Du bist gar nicht tot! Ein Geist kann nicht essen!“ Er ging einen weiteren Schritt zurück.
Der Mann krümmte sich plötzlich und stöhnte laut auf. Dabei presste er die Arme gegen seinen Leib.
„Und Gespenster haben auch keine Bauchschmerzen!“
Paul richtete sich vorsichtig auf. „Benny ...“
„Lass mich in Ruhe!“
„Ich möchte dir was erklären ...“
„Komm ja nicht näher!“ Er wich weiter zurück. „Und bestimmt hast du auch das Geld aus Mamas Portmonee genommen.“
Der Mann schwieg.
„Du hast gestohlen! Gelogen und gestohlen!“
„Schrei nicht so! Ja, ich habe das Geld genommen. Aber ich hatte keine andere Wahl!“ Er streckte die Arme nach ihm aus.
„Hau bloß ab! Ich will dich nie wieder sehen!“
Blind von Tränen drehte Benjamin sich um und floh.
„Vorsicht!“, hörte er noch, bevor er durch die Luke in die Tiefe stürzte.

Als er zu sich kam, fühlte er Schmerz, überall. War er in einem Rettungswagen? Undeutlich erkannte er eine Gestalt. Er wollte etwas sagen. „Alles wird gut.“ Pauls Stimme. Er fühlte einen leichten Stich auf dem Handrücken.

Er wachte in einem Behandlungsraum auf. Paul war bei ihm. Und andere Leute. Sie sagten was von einer schweren Gehirnerschütterung, von Beinbruch und Operation. Es wurde wieder schwarz um ihn.

Sie saßen beide an seinem Bett. Das Sprechen fiel ihm schwer. „Später“, sagte die Mutter, „wenn du richtig wach bist.“ Paul strich ihm über den Kopf.

Am nächsten Morgen hatten die Schmerzen etwas nachgelassen und er konnte wieder einigermaßen klar denken. Seine Mutter trat ins Zimmer.
„Wo ist Paul?“
„Er kommt nachher. Wie geht es dir?“
„Besser. Mama, ist Paul wirklich mein Vater?“
„Ja.“
„Aber er ist kein Geist.“
„Natürlich nicht.“ Sie nahm seine Hand. „Was ich dir sagen will, ist für keinen von uns leicht. Aber du sollst die Wahrheit erfahren.“
„Ich habe die alten Bilder gesehen“, sagte Benjamin. „Auch Fotos von mir als Baby.“
Seine Mutter strich sich über die Stirn. „Damals war noch alles gut. Aber dann kamen Schwierigkeiten.“ Sie stockte. „Es ging nicht mehr. Ich habe mich von ihm getrennt und verlangt, dass er sich nie wieder bei uns blicken lässt. Ich dachte, es wäre das Beste für uns alle.
„Was hat er denn gemacht?“
„Paul hat immer schon gern getrunken. Eines Tages verlor er seine Arbeit, und danach wurde es schlimmer. Einmal ist er sogar betrunken ins Auto gestiegen und hat einen schlimmen Unfall verursacht.“
„Deshalb hast du ihn fortgeschickt?“
„Ja. Und seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er hat sich an sein Versprechen gehalten – bis jetzt.“
„Warum ist er zurückgekommen?“
„Weil er sehr krank ist." Sie holte tief Luft. „Er hat Krebs.“
Benjamin dachte an Pauls bleiches Gesicht, an seine Leibschmerzen und die Kleidung, die ihm viel zu weit war. Er schluckte.
„Muss er sterben?“
Seine Mutter nickte.
„Bald?“ Seine Stimme zitterte.
Wieder nickte sie.
Benjamin liefen Tränen über das Gesicht. „Warum muss er denn sterben? Warum hast du mir nie was gesagt?"
In diesem Augenblick kam Paul zur Tür herein. „Hast du ihm alles erklärt?“ Er setzte sich an die andere Seite des Bettes.
„Fast alles.“
Seine Eltern schwiegen. Nach und nach beruhigte sich Benjamin ein wenig. „Was hast du denn gemacht, nachdem du bei uns weggegangen bist?“, fragte er schließlich. Er hatte einen Schluckauf vom Weinen
„Ich habe die meiste Zeit auf der Straße gelebt.“
„Und wie bist du bei uns reingekommen?“
„Ich hatte noch einen Schlüssel von früher. Ich wollte dich unbedingt kennen lernen. Erst habe ich dich aus der Ferne beobachtet. Aber das reichte mir nicht.“
„Warum warst du immer auf dem Dachboden?“
„Weil ich dort Erinnerungen an die glücklichen Zeiten meines Lebens gesucht und gefunden habe – in den alten Pappkartons.“
Benjamin war traurig. Aber wenigstens wusste er jetzt Bescheid. Er merkte, wie ihm die Augen zufielen.

Mit seiner Mutter stand Benjamin am Krankenbett. Paul war kaum zu erkennen. Seine halbgeschlossenen Augen hatten einen seltsam starren Glanz.
Draußen wurde es bereits dunkel.
„Wir müssen jetzt gehen, Benny.“
Er beugte sich über seinen Vater und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht, Papa“, sagte er, „schlaf gut!“

 

Hallo Jakobe!

Eine Geschichte, die anrührt!

Der Dachboden ist ein Raum, den die Mutter dem Sohn verboten hat, ein Tabu-Raum und Symbol für die Erinnerung an den Vater, den die Mutter für tot erklärt und zum Tabu-Thema gemacht hat. Was tabuisiert, verdrängt wird, gibt aber keine Ruhe, sondern wirkt sich irgendwie aus oder taucht wieder auf, zum Beispiel als Gespenst. Die Sehnsucht eines Kindes nach einem Vater lässt sich nicht durch Tabuisierung auslöschen, und solch eine Sehnsucht liegt der Geschichte wohl zugrunde.
In einem bestimmten Alter wird das Bedürfnis nach einem Vater, der Vorbild ist und hilft, ins "feindliche Leben" hinauszutreten, besonders stark, und Symbol dafür ist vielleicht das Fernglas, das Paul seinem Sohn schenkt. Damit kann Benjamin weit hinaus in die Welt gucken, was metaphorisch für eine Erweiterung seines Horizontes, also das "Hinaustreten ins Leben" steht.

Der Vater ist von seiner Frau gegenüber seinem Sohn für tot erklärt worden, und steht in der Tat wegen seiner Krebserkrankung mit einem Bein im Grab und sieht auch entsprechend aus: totenbleich, so dass es auch glaubhaft ist, als er sich zu einem Gestorbenen, einem Geist erklärt.
Man muss sich für tot erklären, um nicht weggejagt zu werden! Das ist grausam!
Auch der Schluss ist grausam. Es kommt zwar zu einer Versöhnung, aber wohl nur unter dem Eindruck einer lebensgefährlichen Verletzung und des nahen Krebstodes.

Grüße gerthans

 

Mohoin!

Erstmal Kompliment an die gute Geschichte. Durchdacht und gefühlvoll. Aber ein Kritikpunkt ist mir aufgefallen. Man geht nicht auf ein Kind zu und sagt so mal dass der frisch gewonnene Papa Krebs hat.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Gerthans,
vielen Dank, dass du meine Geschichte so schön interpretiert hast! Das wäre mir selbst nie eingefallen! Aber ich finde, das klingt alles sehr überzeugend!
Viele Grüße!
Jakobe

 

Lieber Blandon,
ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat.
In der Realität würde man vielleicht als Mutter mit einer solchen Mitteilung noch etwas warten, aber nicht allzu lange, denn der Vater hat ja nicht mehr viel Zeit. Aber in einer Geschichte muss man ja raffen. Oder meinst du, ich hätte diese Information ganz weglassen sollen, weil es sowieso klar ist, dass der Vater sterbenskrank ist?
Auch dir viele Grüße!
Jakobe

 

Nur damit du das nicht falsch verstehst! Die Szene sollte nicht ausgemalt werden, das ist klar. Vorschlag:

„Warum ist er zurückgekommen?“
„Weißt Du," sie zögerte merklich, "er ist sehr krank. Er hat...wie soll ich sagen...Krebs.“
"Heißt das, er wird sterben?" Benjamin stand den Tränen nahe.
Seine Mutter nickte hilflos.

So oder jedenfalls in der Richtung, wenn es nach meinem Geschmack gehen würde.

Blandon

 

Hallo Jakobe,

wirklich eine rührende Geschichte. Hat mir gut gefallen. Nur die Szene im Krankenhaus, in der Benjamin von seiner Mutter die Wahrheit erfährt, kommt mir tatsächlich etwas zu heftig vor. Ich finde auch nicht, dass Du diese Informationen weglassen solltest, aber der Junge nimmt das alles so locker hin, dabei hat er gerade erfahren, dass seine Mutter ihn über Jahre angelogen hat und sein Vater in Wirklichkeit noch lebt. Dazu noch, dass sein Vater Alkoholkrank war und jetzt auch noch sterbenskrank.
Ich finde, dass das schon für einen Erwachsenen ziemlich schwer zu verdauen ist. Benjamin ist zwar traurig, aber ich denke, es gehören noch Gefühle wie Wut, etc. dazu.

So, jetzt habe ich aber wirklich genug gemeckert, denn insgesamt hat mir die Geschichte, wie schon gesagt, gut gefallen.

Liebe Grüße,
gori

 

Hallo Blandon und Gori,
ich habe die Szene im Krankenhaus etwas abgeändert und versucht, Benjamins Gefühle deutlicher zu zeigen. Ich glaube, ihr habt Recht und so wirkt es überzeugender.
Vielen Dank und viele Grüße!
Jakobe

 

Die Geschichte gefällt mir jetzt viel besser, so dass ich ihr voller Stolz das Prädikat "sehr gut" geben kann. *gg*

Blandon

 

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