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Alte Schatten
Der Junge lag im Sterben, als er in den Schutzraum gebracht wurde. Seine Schreie übertönten selbst den Fliegeralarm.
Steinerne Gesichter zerfielen und spiegelten Entsetzen wider; sogar im schummrigen Kellerlicht sah Daniel, wie sie weiß wurden. Zwei Frauen begannen auf der Stelle zu weinen.
„Gütiger Gott“, sagte Daniels Mutter und sprang auf. „Was ist passiert?“
Einer der Männer, die den Jungen hereingebracht hatten, sah auf. „Gegenüber. Haibers Metzgerei hat's erwischt.“ Der alte Mann schluckte. Seine Haut war voller Ruß. „Der Junge war noch drin. Lag unter 'nem brennenden Balken. Gerd und ich waren auf dem Weg hierher, als wir ihn gehört haben. Wir haben ihn da rausgeholt.“
Der andere Mann – Gerd – fuhr sich über das schwarze Gesicht, aus dem aufgerissene Augen hervorstachen. Seine knochigen Hände zitterten, und Daniel sah Tränen auf seinen Wangen.
Der Junge röchelte, wand sich und hinterließ blutige Abdrücke auf dem Steinboden. Sein halbes Gesicht und große Teile des Bauches waren weggebrannt. Die Haut war aufgeplatzt, rotes und schwarzes Fleisch klaffte frei. Brandblasen überzogen seine Arme, und die Kleidung hing in Fetzen an seinem Körper.
„Wir müssen was tun.“
„Wo ist der Verbandskasten?“
„Wer ist das? Kennt den jemand?“
Die Frauen riefen durcheinander, doch Daniel konnte den Blick nicht von dem sterbenden Jungen nehmen. Ein Kind. Das war noch ein Kind, jünger als er selbst. Der Geruch von Ruß und verbranntem Fleisch füllte den Keller. Mit dem Jungen war auch der Krieg in den Schutzraum gelangt.
Nirgends ist man sicher, dachte Daniel. Der Tod findet jede Lücke.
Irgendwann kniete Frau Hauber schluchzend vor dem Kind und legte Mullbinden auf die offenen Stellen. Sie saugten sich voll mit Blut, und der Junge wischte sie fort und brüllte lauter.
„Er muss stillhalten“, rief Frau Hauber. „Es geht nicht, wenn er nicht stillhält.“
Der erste Mann presste die Arme des Jungen auf den Boden, sah hilfesuchend zu Gerd – doch der kauerte am Boden, die Beine angezogen, und schüttelte ununterbrochen den Kopf.
„Er braucht was gegen die Schmerzen. Hat hier niemand was gegen die Schmerzen?“
„Ich habe Schmerzmittel“, sagte Frau Klein. „Oben. In der Wohnung.“
Nicht weit entfernt dröhnten Bomben, die Erschütterungen ließen das Haus über ihnen wanken, und das Licht flackerte. Die Frauen blickten sich an. Keine war bereit, nach oben zu gehen.
„Wir müssen warten, bis Entwarnung kommt“, sagte der Mann. „Es geht nicht anders.“
Der Junge bäumte sich auf, er wurde schwächer. Seine braunen Augen suchten Erlösung, doch alles, was die Frauen ihm geben konnten, waren Tränen.
„Wir sollten ihm mit dem Hammer den Gnadenstoß verpassen“, sagte Thomas, Daniels Bruder. Er war der einzige junge Mann im Keller, sein Klumpfuß hatte ihn vor der Front bewahrt.
„Halt den Mund“, zischte Mutter, die inzwischen ebenfalls vor dem Jungen kniete und seinen Körper unter Binden begrub.
„Er überlebt sowieso nicht. Wir würden ihm die Schmerzen ersparen. Das wäre das einzig Menschliche.“
Keiner antwortete.
Weitere Bomben schlugen ein. Der Junge wimmerte, und irgendwann presste Daniel die Hände auf seine Ohren und atmete durch den Mund, doch die Geräusche des Krieges und sein Geruch ließen sich nicht aussperren.
Der Tod fand jede Lücke. Gerade in diesen Zeiten war er überall.
Der Duft nach gebratenem Fleisch ließ Daniel das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Strahlen der Frühlingssonne fielen durch das Fenster auf seinen Neffen, der auf dem Küchenboden mit Holzautos spielte. Hanno ließ sie in Daniels Richtung fahren, und Daniel schubste sie mit dem Fuß zurück.
Seine Schwester schnitt Tomaten und Zwiebeln. „Ulrich wird bald befördert“, sagte Sofia. „Er soll im neuen Amt eine neue Stelle bekommen. Als Oberinspektor.“ Sie lächelte, die Tränen in ihren Augen mussten von den Zwiebeln kommen. Daniel fand, sie sah heute hübsch und gesund aus.
„Das ist toll“, sagte Mutter, während sie Kartoffeln schälte.
„Stell dir vor, es heißt dann offiziell Bundesministerium, nicht mehr Reichsministerium. Bundesministerium. Wie findest du, klingt das?“
„Klingt wichtig“, antwortete Mutter.
„Und passt zur neuen Bundesrepublik. Ulrich hat erzählt, dass sie vieles umstrukturieren.“
„Warum benennen sie das um?“, fragte Daniel.
„Weil es manchmal wichtig ist, alte Zöpfe abzuschneiden. Besonders diese Zöpfe.“
„Wie die Reichsmark?“
Sofia nickte. „Genau.“
All diese Veränderungen verwirrten Daniel. Klar, vieles wendete sich zum Besseren. Dank der neuen Währung musste man Lebensmittel nicht mehr mit Zigaretten bezahlen, und plötzlich gab es wieder Brot für alle. Erst neulich war die Blockade aufgehoben worden, und die Rosinenbomber blieben am Boden, wo sie nicht abstürzen konnten. Die Ruinen verschwanden nach und nach aus der Stadt – wenngleich Daniel diese Veränderung mit Wehmut beobachtete. Zwar riefen die zerstörten Gebäude bei ihm Gedanken an den Krieg hervor, aber er war auch mit ihnen aufgewachsen. Es waren seine Spielplätze gewesen, der Trümmerstaub und die zerfallenen Mauern seine Sandkästen und Klettergerüste.
Daniel erinnerte sich auch an schlechte Entwicklungen, die nicht lange zurücklagen. Er dachte an den vorletzten Winter, als die Menschen Bäume auf den Straßen fällten, um heizen zu können, und damit reihenweise ihre Wohnungen in Brand setzten. Und letztes Jahr hatten ihnen die Sowjets zwei Tage den Strom abgestellt, was bei Daniel Erinnerungen an die Bombenangriffe ausgelöst hatte.
Es war eine Zeit des Wandels, und all diese Veränderungen machten auch vor seiner Familie nicht halt. Die Enttrümmerungsarbeiten hatten Mutters Rücken kaputt gemacht. Sie weinte viel, meist heimlich, und Daniel vermutete, das lag an den Streitereien in der Familie. Er konnte sich kaum an die Jahre vor dem Krieg erinnern, aber manchmal wünschte er sich diese Zeiten zurück, als auch Papa noch da war. Damals herrschte Frieden und Wohlstand, pflegte Thomas zu sagen.
Als es an der Tür klopfte, blickte Sofia auf. „Wer ist das? Kommt noch jemand?“
„Thomas. Ich habe ihn eingeladen“, antwortete Mutter.
Sofias Gesicht wurde blass. „Das ist nicht dein Ernst.“
„Bitte, Sofia.“ Mutter sah müde aus. „Ich möchte heute alle meine Kinder bei mir haben. Reiß dich zusammen, wenigstens heute. Mir zuliebe.“
Thomas kam in die Küche gehumpelt. Er war ein kleiner Mann, aber der Klumpfuß machte seine Schritte laut. Mit der Hand fuhr er Daniel durchs Haar und nickte Sofia zu. Von seinem Neffen nahm er keine Notiz.
Daniel wünschte sich, sein Bruder würde noch hier wohnen. Oft dachte er an die Geschichten, die Thomas früher erzählt hatte, von Deutschen Helden und Sagen über die Könige in der Walhalla. Aber mit Hannos Geburt war Thomas ausgezogen.
„Hast du Bier?“, fragte Thomas und öffnete den Kühlschrank.
Mutter schüttelte den Kopf. „Nein. Mit dem Geld für diese Woche hab ich den Schmorbraten bezahlt. Hilf mir mal, den Tisch zu decken.“
Während des Essens wurde wenig gesprochen. Der Ärger begann, als Mutter Thomas fragte, ob er mit der Arbeitssuche vorankomme.
Thomas schüttelte den Kopf. „Gibt keine Stellen. Zu wenig Industrie hier. Viele Firmen aus dem Westen haben nur kleine Fertigungen, um die Subventionen einzustreichen. Da ist nix frei.“
„Wäre ein Beruf am Schreibtisch nicht besser für dich?“, fragte Mutter. „Vielleicht kann Ulrich dir eine Stelle im neuen Ministerium beschaffen. Sofia hat erzählt, dass sie ihn befördern wollen.“
„Nein danke. Auf Sozis bin ich nicht angewiesen.“
„Hier am Tisch heißen sie Sozialdemokraten“, entgegnete Mutter. „Ich hab es bloß gut gemeint.“
Schweigend aßen sie weiter, bis Sofia stichelte: „Ulrich würde dir auch keine Stelle beschaffen. Nazis brauchen sie dort keine mehr.“
Thomas lachte. „Lieber bin ich ein Nazi als ein Verräter.“
„Was soll das heißen?“
„Still jetzt“, rief Mutter. „Ich will keine Gespräche über Politik beim Essen.“
Eisiges Schweigen kehrte zurück, doch Sofias Frage hing wie ein schlechter Geruch in der Luft. Lediglich Hanno zeigte sich unbeeindruckt und stopfte kleine Stücke Rindfleisch in den Mund.
„Ich möchte wissen, wie das gemeint war“, sagte Sofia irgendwann. Nie konnte sie Ruhe geben.
„Wie das gemeint war? Dein Mann zieht in den Krieg, und du angelst dir den erstbesten Sozi und lässt dich schwängern. So war das gemeint.“
Sofia knallte ihr Besteck auf den Teller. „Alfred ist an der Ostfront gefallen.“
„Woher willst du das wissen? Der Iwan hält noch tausende Kameraden gefangen. Vielleicht ist Alfred dabei.“
„Kameraden? Ich kann mich nicht erinnern, dass du bei der Wehrmacht warst.“
Thomas' Gesicht wurde rot vor Zorn. Daniel wusste, wie gern Thomas an die Front gegangen wäre und als welche Schande er seine Untauglichkeit betrachtete.
„Schluss jetzt“, ging Mutter dazwischen. „Hört auf! Ich will nichts mehr davon hören.“
„Ich hätte längst Arbeit“, fuhr Thomas fort, „wenn die Besatzer hier nicht alles kaputt gemacht hätten. Frag mal Heinemann. Dem haben sie die Fabrik demontiert und die Einzelteile verschifft. Der steht inzwischen Schlange an der Suppenküche.“
Daniel wollte die Situation entschärfen. „Aber sie bauen doch alles wieder auf?“
Es überraschte Thomas, dass Daniel etwas sagte. „Warum, glaubst du, müssen sie alles wieder aufbauen? Weil sie es zerstört haben. Und dafür lassen sie sich feiern, als Befreier, und wir sind so dumm und jubeln ihnen zu. Glaub nicht, dass der Marshall-Plan erst letztes Jahr begonnen hat. Truman hat den von langer Hand geplant, um uns an die amerikanische Zitze zu hängen.“
„Was ist der Marshall-Plan?“, fragte Daniel.
„So ein Unsinn“, sagte Sofia zu Daniels Linken, seine Frage ignorierend. „Würden sie die Potsdamer Beschlüsse konsequent durchsetzen, anstatt Persilscheine zu verteilen, wäre dein Bruder längst im Gefängnis, wo er hingehört.“
„Da siehst du's“, sagte Thomas, ebenfalls an Daniel gewandt. „Sie ist nicht bloß eine Verräterin an der Familie, sondern auch am Vaterland. Potsdam ist das neue Versailles, nur schlimmer, und sie lobt es.“
Daniel verstand kaum die Hälfte von dem, was gesagt wurde.
„Seit Potsdam herrscht Besatzer-Willkür. Vermutlich würde deine Schwester anders darüber denken, wenn sie die Siegerjustiz mal selbst hätte spüren dürfen. Hätte sich da unten bestimmt anders angefühlt als ihr Sozi-Freund, wäre aber nicht verkehrt gewesen. Dann wäre sie jetzt vielleicht vernünftig.“
Das Klatschen von Mutters Ohrfeige ließ Daniel zusammenzucken. Einen Augenblick herrschte Totenstille, und Thomas fasste sich an die Wange. Hanno begann zu weinen.
Sofia sprang auf. „Du – du brauner Krüppel.“ Sie wandte sich an Mutter. „Ich werde keine Sekunde länger mit ihm am Tisch sitzen. Entweder er geht, oder ich.“
Thomas stand auf. „Mach dir keine Umstände. Mit Verrätern esse ich nicht. Und auch nicht mit Bastarden, was das angeht.“
Unbeholfen humpelte er zur Tür, während Sofia Hanno in den Arm nahm. Dann drehte er sich noch einmal um. „Schade, dass sie nicht gründlicher waren, sonst hätten sie deinen Sozi-Freund nach Sachsenhausen geschickt. Und dich am besten gleich mit.“
„Raus hier!“, brüllte Mutter, und Daniel sah Tränen in ihren Augen glitzern.
Thomas verschwand.
Hanno weinte. Sofia ging mit ihm auf und ab.
„Warum habt ihr ihn rausgeworfen?“, fragte Daniel. „Was hat er denn Schlimmes gesagt?“
Mutter begann, den Tisch abzuräumen, obwohl noch kein Teller leer war. „Nichts. Iss fertig und sei still.“ Und so kam es, dass Daniel das Familienessen am Gründungstag der Bundesrepublik allein beendete.
Er fragte sich, wie die Politik etwas Gutes sein konnte, wenn sie seine Familie auseinanderriss.
Am nächsten Tag saß er in einer voll besetzten U-Bahn und trug eine Einkaufstasche mit zwei Litern Milch und einem Laib Brot auf dem Schoß. Seine Mutter hatte ihn mit Geld und Lebensmittelmarken losgeschickt. Inzwischen war es kein Problem, Nahrung zu kaufen. Daniel erinnerte sich an die Zeit kurz nach dem Krieg, als Menschen verendete Hunde von den Straßen auflasen, um überhaupt etwas zu essen zu haben.
Ihm gegenüber saßen zwei Männer mit tiefen Furchen in den Gesichtern.
„Mein Schwager überlegt, ins Ruhrgebiet zu gehen. Die Stahlindustrie ist im Kommen, sagt er. Inzwischen produzieren sie dort wieder mehr als der Franzose.“
Der andere runzelte die Stirn. Eine Narbe zog sich über seine linke Wange. „Ich hab gehört, dass die Franzosen und Belgier dort immer noch Fabriken auseinandernehmen. Wäre mir zu unsicher. Kann mir nicht vorstellen, dass die Deutschland langfristig Stahl produzieren lassen.“
„Die haben letzten Monat irgendein Abkommen gegründet, sagt mein Schwager. Es gibt jetzt eine Behörde, die das alles kontrolliert. Mein Schwager sagt, die würden so was nicht gründen, wenn die vorhätten, dort alles einzustampfen.“
Der Mann mit der Narbe grunzte. „Ich trau denen nicht. Ist meine Meinung. Die können von jetzt auf nachher ihre Meinung ändern, und dann stehst du mit leeren Händen da.“
„Abwarten. Mein Schwager sagt, die Republik macht uns unabhängiger. Langfristig gesehen.“
Der Mann mit der Narbe machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wegen mir hätt's keine Republik gebraucht. Ich hab noch die Schnauze voll von der letzten.“
„Besser als die Trizone ist sie allemal“, sagte der Mann mit dem Schwager.
„Mal sehen, was der Stalin dazu sagt. Letztes Jahr haben sie uns wegen der neuen Währung den Hahn abgedreht. In meinen Augen ist die Republik eine unnötige Provokation, nichts weiter. Damit treiben sie einen Keil durchs Deutsche Volk, und bald rollen wieder Panzer am Brandenburger Tor.“
Der andere Mann dachte nach. „Ich glaub' nicht an die Kommunisten. Dem Stalin trau ich weniger als den Amis.“
„Ich trau denen allen nicht. Aber wer kann heute sagen, wer der Sieger wird? Geh doch mal in den Osten. Mit Russland im Rücken leben die nicht schlecht. Und die haben den Vorteil, dass nur ein Besatzer den Ton angibt.“
Der Mann mit dem Schwager zuckte die Achseln. „Steht jedem frei, in den Osten zu gehen. Ist ja nicht so, dass da 'ne Mauer stünde. Momentan sieht's aber eher umgekehrt aus, viele aus dem Osten kommen zu uns.“
Der Mann mit der Narbe grunzte. „Man muss eben Entscheidungen treffen. In diesen Zeiten ist das ganz besonders wichtig.“
An der nächsten Haltestelle stiegen beide Männer aus.
Ihr Gespräch hallte lange in Daniels Kopf nach.
Mittwochnachmittags hatten sie Religionsunterricht bei Pfarrer Ka. Sie lasen Das Gleichnis des Verlorenen Sohnes aus dem Lukas-Evangelium und sprachen anschließend über den Umgang von Jesus mit Zöllnern und Sündern.
Nach dem Unterricht wartete Daniel, bis seine Mitschüler das Klassenzimmer verlassen hatten, dann trat er an das Pult zu Pfarrer Ka. Er zögerte. „Herr Pfarrer, ich möchte noch eine Frage stellen, wenn ich darf.“
Pfarrer Ka blickte von seinen Notizen auf und sah Daniel aus blauen Augen an. Daniel mochte diese Augen – sie waren freundlich, und das sah man nicht häufig in diesen Zeiten des Misstrauens. „Daniel. Sicher, was möchtest du wissen?“
„Es geht um Gott.“
„Ja?“, fragte der Pfarrer und legte seinen Füller beiseite.
Daniel hoffte, seine Frage würde Pfarrer Ka nicht wütend machen. Ihm selbst erschien sie ketzerisch. „In der Bibel steht, Gott ist allmächtig. Und dort steht auch, er ist gütig, zumindest im Neuen Testament.“ Daniel zögerte.
„Und?“, ermunterte ihn der Pfarrer.
„Wenn Gott allmächtig und gütig ist, warum hat er den Krieg zugelassen?“
Daniel machte sich auf den Zorn des Pfarrers gefasst. Doch stattdessen lächelte Ka. „Das ist eine sehr alte Frage, Daniel. Viele kluge Leute haben sich darüber den Kopf zerbrochen.“
Das überraschte Daniel. Er hatte gedacht, ihm sei dieser Widerspruch als erstes aufgefallen.
„Und was sagen die klugen Leute?“
„Sag mir erst, was du darüber denkst.“
Diese Antwort erschreckte Daniel. Er hatte sich den Kopf zerbrochen, doch die einzige Lösung, auf die er gekommen war, besagte, dass es Gott nicht geben konnte. So etwas durfte er unmöglich einem Pfarrer sagen, das wäre eine schwere Sünde. „Ich – ich weiß nicht“, stammelte er und wagte schließlich eine abgeschwächte Version. „Vielleicht ist Gott nicht allmächtig?“
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. „Wenn Gott nicht allmächtig wäre, wäre Er nicht Gott.“
„Hm. Dann – ist Er vielleicht nicht gütig?“
„Aber natürlich ist Er das. Hast du heute nicht aufgepasst? Hat Jesus die Sünder etwa verstoßen? Nein, er war barmherzig, und das ist ein anderes Wort für gütig.“
„Dann verstehe ich nicht, wieso es den Krieg gibt.“
„Es gibt verschiedene Ansätze, diese Frage zu beantworten. Zwei schlüssige Erklärungen stechen meiner Meinung nach hervor. Die erste besagt, dass es nichts Böses auf der Welt gibt. Wir halten manches zwar für böse, aber in Wirklichkeit gehört das alles zu Gottes großem Plan, Gutes zu tun. Sieh dir zum Beispiel den Holocaust an.“
Daniel wartete.
„Findest du den böse? Würdest du sagen, ein gütiger Gott sollte den Holocaust verhindern?“
Daniel überlegte. War das eine Fangfrage? „Ich finde schon“, sagte er.
„Nun, manche sind der Ansicht, der Holocaust sei Gottes Strafe für die Juden gewesen, weil sie Seinen Geboten nicht treu waren. Seine gerechte Strafe. Und Strafen sind notwendig, das weißt du auch. Auf der anderen Seite haben die Juden inzwischen ihren eigenen Staat, den sie ohne den Holocaust nicht hätten. Also war der Holocaust vielleicht nur Gottes Weg, um Sein eigenes Volk in das Gelobte Land zu führen.“
Der Pfarrer sah ihn an, als erwarte er eine Antwort. Daniel verstand diese Zusammenhänge nicht.
„Findest du den Holocaust immer noch böse?“, fragte Pfarrer Ka.
„Ich – ich weiß nicht –“
„Du siehst, wie schnell solche Fragen kompliziert werden. Ich möchte Gottes Plan nicht infrage stellen. Ich maße mir nicht an, Seinen Weg zu verstehen. Ich vertraue darauf, dass er gut ist.“
Daniel überlegte, inwiefern ein Kind, das auf dem Boden eines Kellerlochs an seinen Verbrennungen starb, zu Gottes gütigem Plan gehören konnte.
„Was ist die zweite Erklärung?“, fragte er den Pfarrer.
„Die zweite Erklärung?“
„Sie haben gesagt, es gibt zwei schlüssige Erklärungen. Was ist die zweite?“
Pfarrer Ka räusperte sich. „Die zweite Erklärung ist, dass das Böse lediglich die Abwesenheit des Guten darstellt. Ein Leerraum, sozusagen. Ein Vakuum.“
Was konnte er damit meinen? „Heißt das, weil die Besatzer nicht da waren, haben wir Böses begangen?“
Der Pfarrer schüttelte den Kopf und hob die Hände. „Nein. Nein, auf keinen Fall. Daniel – du musst dich von der Vorstellung trennen, dass die Deutschen die Bösen und die Besatzer die Guten sind. Das ist keinesfalls so, auch wenn dir das viele einreden wollen.“
Daniel verstand das alles nicht. Sofia war überzeugt, dass die Nazis die Bösen waren.
„Du spielst auf Nürnberg an, nicht wahr?“, fragte Pfarrer Ka.
Nürnberg?
Der Pfarrer fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. „Du darfst nicht glauben, dass dort Recht gesprochen wurde. Das waren politische Prozesse. Es ging um Macht und darum, ein Exempel zu statuieren. Die Kirche hat zu alldem eine klare Meinung. Wir lehnen diese Siegerjustiz ab.“
Dieses Wort hatte Thomas auch verwendet, fiel Daniel ein, während Pfarrer Ka sich in Rage redete. „Es hat sich herausgestellt, dass die Alliierten keinen Deut besser sind als die Menschen, über die sie glauben, urteilen zu dürfen. Nicht einen Deut besser. Viele sind sogar schlimmer. Das ging los mit den Gesetzen des Kontrollrats und der sogenannten Entnazifizierung und setzt sich fort bis nach Nürnberg zur Todesstrafe.“
Feine Speicheltropfen sprangen von Pfarrer Kas Lippen. Er strich sich über den Scheitel und lächelte wieder. „Das sind nicht unsere Freunde, Daniel. Und es sind auch keine guten Menschen. Vergiss das nicht.“
Der Pfarrer räusperte sich erneut. „Habe ich deine Fragen beantworten können?“
Daniel wollte ihn nicht enttäuschen, also nickte er.
„Prima. Dann schau, dass du aus der Schule kommst, ehe sie abschließen“, sagte Pfarrer Ka und deutete zur Tür.
Mutter deckte ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
„Schlaf gut“, sagte sie und schlich zur Tür.
Daniel hätte gerne noch die Geschichte über Siegfried und den Drachen gehört, aber er war kein kleiner Junge mehr und Thomas weit weg.
„Mama.“
Mutter blieb an der Tür stehen. Ihr krummer Rücken zeichnete sich unter der Strickjacke ab. „Ja?“
Es war still im Haus. So still.
„Glaubst du, die Republik ist eine gute Idee?“
Mutter zuckte mit den Schultern. „Das haben nicht wir in der Hand.“
„Ich hab gestern gehört, wie zwei Männer in der U-Bahn geredet haben. Der eine hat gesagt, die Zukunft ist in Westdeutschland. Und der andere wollte nach Ost-Berlin. Sie haben gesagt, niemand weiß, was auf uns zukommt. Und dass wir von anderen abhängen, die dauernd ihre Meinung ändern. Und dass Stalin wieder Panzer fahren lässt.“
Mutter antwortete nicht. Sie blickte in seine Richtung, hatte aber das Licht bereits gelöscht. Daniel konnte ihr Gesicht nicht sehen.
„Pfarrer Ka hat gesagt, die Besatzer sind keine guten Menschen.“ Daniel war überrascht, wie schnell sein Herz pochte. „Mama, glaubst du, es gibt wieder Krieg?“
„Ich weiß es nicht“, sprach das Gesicht aus der Dunkelheit. „Das entscheiden die Politiker.“
„Ich mag die Politiker nicht“, sagte Daniel. „Und die Politik auch nicht. Alles ändert sich, und keiner weiß, was richtig ist. Ich verstehe das alles nicht.“
„Schlaf jetzt“, sagte Mutter.
„Mama“, rief Daniel.
„Was?“
„Warum kann nicht wieder alles sein wie vor dem Krieg? Ich meine – warum kannst du dich nicht wieder mit Thomas vertragen? Warum kann sich Sofia nicht mit ihm vertragen?“ Daniel verstand nicht, wie etwas so Flüchtiges wie politische Entscheidungen seine Familie kaputtmachen konnte.
„Es wird nie wieder wie vor dem Krieg. Diese Zeiten sind vorbei.“
„Aber warum nicht? Was hat Thomas denn Böses getan? Es waren doch viele für den Hitler damals. Warum ist das jetzt auf einmal falsch, wenn es früher richtig war?“
Mutter überlegte lange, und Daniel hoffte auf eine Antwort, die ihm alles erklären würde. „Das ist kompliziert. Du bist noch ein Kind und verstehst davon nichts. Schlaf jetzt.“
Sie schloss die Tür seines Zimmers und ließ ihren Sohn im Dunkeln zurück.
Daniel stand vor dem Haus in der Kochstraße und blickte die schmutzige Fassade empor. Er war noch nie hier gewesen, doch die Adresse stimmte. Einige Scheiben im Erdgeschoss waren zerbrochen, die im dritten Stock sahen in Ordnung aus.
Er ging zur Eingangstür, die nicht verriegelt war. Im Treppenhaus roch es nach Zigaretten, und vor einer Wohnungstür standen Bierflaschen.
Daniel hoffte, auf keinen der Bewohner zu treffen, und ging das Treppenhaus nach oben.
Du weißt nicht einmal, ob er da ist.
Andererseits – wo sollte er sein?
Vor der Tür im dritten Stock standen Schuhe. Daniel war erleichtert.
Er atmete tief ein und klopfte.
Dann wartete er und lauschte, presste sogar sein Ohr gegen die Tür, aber aus der Wohnung kamen keine Geräusche.
Er ist nicht da.
Daniel klopfte erneut. Er wollte sich gerade abwenden, als er schlurfende Schritte hinter der Tür vernahm. Thomas öffnete.
„Du?“, fragte er überrascht.
Daniel nickte.
„Was willst du hier?“
So genau wusste er das auch nicht. „Nur mal hallo sagen“, antwortete er.
„Hallo“, sagte Thomas.
„Hallo“, sagte Daniel.
Thomas blickte sich um. „Bist du allein?“
„Ja.“
„Komm doch rein.“
Thomas führte ihn in die Küche. Es war alles kleiner als bei Mutter, und schon dort war der Platz knapp. In der Mitte der Küche stand ein Klapptisch mit drei Stühlen. Aus einem Aschenbecher quollen Zigaretten.
„Willst du was trinken?“
„Was hast'n da?“
„Für dich Wasser.“
Daniel zuckte die Schultern, und Thomas interpretierte das wohl als ein Ja. Er ging zu einem Küchenschrank, bei dem die Türen fehlten, nahm ein Glas heraus und hielt es ins Sonnenlicht. Dann füllte er es mit Leitungswasser.
Er stellte es vor Daniel auf den Klapptisch. „Hier. Setz dich doch.“
Thomas nahm gegenüber Platz und zündete eine Zigarette an.
Daniel blickte auf das Glas, im Wasser schwammen irgendwelche Teilchen. Thomas zuliebe nahm er einen Schluck, aber nur einen kleinen.
„Wie geht’s dir?“, fragte Thomas.
„Gut. Und dir?“
„Ich lebe. Wenn du Bescheid gegeben hättest, hätte ich Hans gesagt, er soll hierbleiben. Dann hättest du ihn mal kennengelernt.“
Hans wohnte mit seinem Bruder in dieser Wohnung.
„Beim nächsten Mal vielleicht“, sagte Daniel.
„Hör mal, wegen Montag. Tut mir leid, was da passiert ist. Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, und hab ein paar dumme Sachen gesagt.“
„Was denn?“
Thomas lachte, antwortete aber nicht.
Nach einer Weile fragte Daniel: „Was bedeutet Siegerjustiz?“
Thomas hustete. „Wie kommst du auf so was?“
„Du hast es neulich zu Sofia gesagt.“
„Hm.“ Thomas überlegte. „Das bedeutet, dass andere über dich bestimmen und dir sagen, dass du Fehler gemacht hast. Sie schieben dir für alles die Schuld in die Schuhe.“
Daniel nickte. „Pfarrer Ka hat das auch gesagt. Ich hab's nicht richtig verstanden, aber ich glaube, er hat das auch so gemeint.“
„Du redest mit 'nem Pfarrer über so was?“
„Eigentlich nicht.“
„Was heißt eigentlich?“
„Eigentlich hab ich ihm 'ne ganz andere Frage gestellt. Ich hab auch nicht kapiert, warum er dann das Thema gewechselt hat.“
Thomas rauchte und beobachtete seinen Bruder aus zusammengekniffenen Augen.
„Du solltest dich von Pfarrern fernhalten“, sagte er schließlich.
„Warum?“
„Weil sie dir falsche Ideen in den Kopf setzen. Im Grunde geht’s ihnen auch nur darum, dir die Kontrolle zu entziehen. Dir zu erzählen, du bist ohne Gott wertlos. Im Grunde tun sie dasselbe wie die Besatzer.“
Daniel runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Pfarrer Ka hat gesagt, die Besatzer sind schlechte Menschen.“
„Klar. Weil die Besatzer die Macht an sich reißen. Das stinkt der Kirche natürlich, weil sie die Macht lieber bei sich selbst hätte. Halt dich fern von denen, das ist mein Rat. Mit denen ist nicht zu spaßen. Selbst der Führer hat vor denen gekniffen.“
Daniel beobachtete die Teilchen, die durchs Wasserglas schwammen. Sie glichen dem Durcheinander in seinem Kopf. Nationalsozialisten. Sozialdemokraten. Kommunisten. Besatzer. Deutsche. Russen, Amerikaner. Franzosen. Stalin. Die Kirche. Jeder behauptete über den anderen, schlecht zu sein. Und inmitten von alldem zerfiel seine Familie.
„Glaubst du an Gott?“, wollte Daniel wissen und war überrascht, eine solche Frage aus seinem Mund zu hören.
Thomas schüttelte den Kopf. „Nein. Du?“
Daniel traute sich nicht, die Wahrheit zu sagen, und zuckte stattdessen mit den Schultern.
Langsam sagte Thomas: „Das einzige, woran ich glaube, ist der Nationalsozialismus.“ Er beobachtete Daniel, doch der zeigte keine Reaktion. „Denn im Gegensatz zur Kirche steht beim Nationalsozialismus das Volk im Mittelpunkt. Die Familie. Der Mensch. Kein Gott. Wir glauben an uns selbst und schieben die Verantwortung nicht ab. Es war ein Problem des Führers, dass er die Kirchen nicht losgeworden ist.“
„Aber der Nationalsozialismus ist tot. Wir haben den Krieg verloren.“
Thomas beugte sich nach vorne. „Das zweite stimmt. Das erste nicht. Den Krieg haben wir nur verloren, weil es zu viele Verräter gab. Der Führer wurde von seinen eigenen Generälen verraten, als unsere Kameraden vor den Toren Moskaus standen. Diese Generäle haben ihn zu einem Krieg an mehreren Fronten gezwungen. Glaubst du, der Führer wollte einen Krieg gegen die Amis? Oder gegen die Briten?“
Daniel antwortete nicht. Er wusste, dass viele britische Flieger Bomben über Berlin abgeworfen hatten.
„Geh doch mal raus auf die Straße“, fuhr Thomas fort. „Heute erzählt dir jeder, dass er gegen Hitler war. Gegen den Nationalsozialismus. Vor zehn Jahren haben sie alle dem Führer zugejubelt. Das ist ein Volk von Verrätern und Heuchlern. Ein Fehler des Nationalsozialismus war, dass er zu nachsichtig mit seinen Feinden umgegangen ist. Solche Fehler dürfen beim nächsten Mal nicht wiederholt werden.“
„Beim nächsten Mal?“
Thomas drückte seine Zigarette aus und zündete sofort eine neue an. „Bei der Machtergreifung hat uns der Führer das tausendjährige Reich versprochen. Eine Epoche des Friedens und des Wohlstands. Und am Anfang war es das, aber dann wurden Fehler gemacht, und es endete alles in Schutt und Asche. Heute steht Deutschland am Scheideweg. Es müssen Entscheidungen getroffen werden.“
Daniel erinnerte sich an den Mann mit der Narbe.
Man muss eben Entscheidungen treffen. In diesen Zeiten ist das ganz besonders wichtig.
„Und wie es aussieht wendet sich die eine Seite dem Westen und die andere dem Osten zu. Beides wird zum Untergang des Deutschen Volkes führen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.“
„Wer ist wir?“
„Momentan sind wir eine kleine Gruppe und haben regelmäßige Treffen. Und wir haben ein gemeinsames Ziel: einen Nationalsozialismus, wie er dem Führer vorschwebte. Ohne die Fehler der Vergangenheit. Bei uns steht das Volk im Mittelpunkt. Die Familie. Wir wollen wieder die Verhältnisse, die wir 1933 hatten, vor dem Krieg.“
„Aber – aber wie wollt ihr das schaffen? Die Leute sind alle gegen Nazis.“
„Noch“, sagte Thomas. „Warte ein paar Jahre. Es geschieht nicht schnell, aber es geschieht. Deshalb ist es wichtig, dass wir geduldig und vorsichtig sind. Selbst der Führer sprach zu Beginn seiner Karriere vor kaum zwanzig Leuten in einem Bierkeller. Wenn du magst, komm doch mal zu einem Treffen mit.“
Daniel überlegte. Auch er wollte Frieden und Stabilität. Und was sein Bruder über die Familie gesagt hatte, deckte sich mit seinen Ansichten.
„Ich weiß nicht“, antwortete er.
„Überleg es dir. Wir zwingen niemanden. Das unterscheidet uns von denen, die sich Demokraten nennen und uns die Meinung verbieten. Nicht, weil wir im Unrecht wären. Sondern weil sie uns immer noch fürchten. Bei uns ist alles freiwillig. Wir zwingen niemanden zu irgendwas.“
Es klang vernünftig.
„Eins nur“, sagte Thomas. „Du darfst keinem davon erzählen. Ganz besonders nicht Mutter oder Sofia. Frauen verstehen nichts von Politik. Die sollten sich dort raushalten. Das ist Sache der echten Männer.“ Er zwinkerte Daniel zu. „Meinst du, du schaffst das? Bist ja schließlich schon ein großer Junge.“
Daniel nickte langsam. „Ich denke schon. Ich kann ja mal vorbeikommen und es mir anschauen.“
Thomas lächelte, und Daniel lächelte zurück.
„Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder. Das sind wilde Zeiten, aber gemeinsam stehen wir sie durch.“
Er fuhr Daniel durchs Haar.
„Erzählst du mir mal wieder von Siegfried und dem Drachen?“, fragte Daniel.
Thomas grinste. „Davon erzähle ich ganz besonders gern.“