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Am anderen Ende der Stadt
Es ist spät. Hier draußen ist wirklich gar nichts mehr los. Ich fahre an der unbeleuchteten Fabrikhalle vorbei, die auf mich am Abend immer so einen angsteinflößenden Eindruck macht. Wahrscheinlich steht sie schon seit Jahren leer und zerfällt langsam - wie alles hier in diesem ehemaligen Industriegebiet, das an den Osten der Stadt angrenzt.
Den Anker sehe ich schon von weitem. Immer wieder zieht es mich hierher, seit ich dieses Lokal auf einem meiner ausgedehnten Abendspaziergänge entdeckt habe.
Ein warmes Licht strahlt von den Fenstern auf den großen, menschenleeren Schotterplatz vor dem ehemaligen Bahnhofsgelände. Nur wenige Autos sind zu sehen. Vor dem halb verfallenen Bahnhofsgebäude steht ein einzelner LKW-Anhänger mit einer riesigen, dunklen Werbeschrift. Eigenartiger Anblick. Ein beklemmende Gefühl ergreift mich. Ich kenne es gut.
Ich weiß auch nicht, was mich damals in diese trostlose und menschenverlassene Gegend trieb. Es war eine spezielle Magie, die von den verlassenen und furchterregenden ehemaligen Industrieanlagen ausging. Einerseits beängstigend und andererseits doch faszinierend. Irgendetwas hatten mir diese einsamen Fabrikanlagen und die von Gras überwucherten Schienen, auf denen schon lange kein Zug mehr fährt, zu sagen.
Gut erinnere ich mich, wie alles begann. Es war ein kühler und windiger Oktobertag. Die Schachspieler saßen an den Fensterplätzen. Ich sah sie schon von weitem bei ihrem Spiel. Es hat mich gleich am ersten Abend angezogen und – ja, man könnte sagen - aufgesogen.
Ich spiele, seit ich vor zwei Jahren meinen Führerschein gemacht habe, regelmäßig für einen kleinen Schachverein, der vor vier Jahren in einem Ortsteil meiner Heimatgemeinde gegründet wurde. Vor einem Jahr bin ich mit der Mannschaft in die Bezirksliga aufgestiegen. Mein Gott. Ich war mächtig stolz.
Es mag so gegen sieben am Abend gewesen sein, als ich das erste mal in den Anker ging, um den Schachspielern beim "Blitzen" zuzusehen. Einige spielten um Geld, mit Kontra und Re, eigentlich keine großen Beträge; da kamen vielleicht ein oder zwei Euro pro Spiel zusammen. Ich fand schließlich einen Tisch, an dem nicht um Geld gespielt wurde. Ich war der Vierte in der Runde. Gespielt wurden Fünfminutenpartien. Der Gewinner durfte sitzen bleiben. Nunja, die meiste Zeit stand ich; und dabei hatte ich den Eindruck, daß für diese Typen das Spiel eher eine Nebensächlichkeit war. Ihre Haupttätigkeit bestand aus dummen Kommentaren zur Spielweise des Gegners und aus etwas, das sie Bierathlon nannten.
Als ich das Lokal verließ war es eins, und ich glaube, daß ich kein einziges Spiel gewonnen habe. Und das, obwohl ich mehrmals – wie ich meinte – ziemlich auf Gewinn stand.
Seit diesem Abend kam ich immer wieder. Besonders, wenn die Uni stressig wurde oder mir die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, fuhr ich in das verödete Industriegebiet am anderen Ende der Stadt.
Im Anker ist es immer warm, es läuft laute Musik, und ich kann mich an ein Brett mit vierundsechzig Feldern setzen, um meine sechzehn Figuren in die Schlacht zu schicken.
Ich kämpfe darum, Raum zu kontrollieren, und den gegnerischen König innerhalb der vorgegebenen fünf Minuten zu eliminieren. Die Welt um mich herum versinkt, und mit ihr alle arroganten Idioten und affektierten Mädels mit ihrem blöden Gehabe, alle Ängste und alle Einsamkeit. In meiner neuen Welt läuft alles so, wie ich es will; ich kontrolliere die Figuren auf den vierundsechzig Feldern, und wenn ich verliere, weiß ich - es war mein Fehler. Ein Fehler, den ich analysieren kann, und den ich in meiner nächsten Partie nicht mehr machen werde. Im Takt zur Musik führe ich meine Züge aus, innerhalb von Sekunden. Hoffe, daß jenes kleine, rote Blättchen, das die verbleibende Zeit anzeigt, nicht zu früh fällt.
Eine der Studentinnen, die hier bedienen, hat mir vor zwei Wochen erzählt, daß diese Schachspieler ein ziemlich anstrengendes Pack seien. „Stell dir vor, Andi“, sagte Carmen, „es ist jeden Abend das Gleiche mit diesen Zockern. Es ist drei und ich will schließen, und meinst du, die hören auf? Nein! Sie murmeln ein 'ja, ja, gleich' oder 'einen Zug noch', aber sie spielen immer weiter und es sind immer die gleichen, sie spielen als ginge es um ihr Leben. Ich habe schon das Licht aus und sie ziehen noch immer die Figuren und hauen auf ihren blöden Schachuhren rum. Die haben doch alle 'nen Schuß, wenn du mich fragst.“
Ich zog es vor, mal lieber nichts dazu zu sagen.
Am Anfang war es ja nur das Spiel, das mich völlig einnahm.
Doch seit einigen Wochen gibt es da noch etwas anderes...
Ich trete ein. Mit dem schweren, dunkelroten Vorhang, der den Nebel aus Qualm und Bierdunst von der Außenwelt trennt, schiebe ich auch meine verwirrten Gedanken beiseite.
Der Raum ist nicht sehr groß. Drei Tische stehen an den Fenstern rechts von mir und drei Tische direkt vor mir. Der Rest des Raumes wird von der Bar eingenommen und wenn die Barhocker – so wie jetzt – besetzt sind, wird es hier schon ziemlich eng.
Ich gehe zu den lärmenden Schachspielern nach rechts und stelle mich zu den Kiebitzen an den ersten Tisch.
Ihr Lachen erkenne ich sofort. Ich wußte, daß Lilli heute bedienen wird; seit vier Wochen komme ich jeden Dienstagabend hierher. Meine Hände sind schweißnaß. Dieses Mal würde ich ihr das Geschenk geben.
Sie sieht mich gleich: „Hey, Andi!“
Ihr Lächeln wirkt auf mich, wie einer von diesen 'Hallo-wach-Kaffees', die es immer - nach einer durchzechten Nacht - bei Adrians Kamikazefrühstück gibt.
Mein Gott, was hat diese Frau für eine unglaubliche Ausstrahlung.
Am Anfang hatte ich immer das Gefühl , daß ich ganz klein werden müsse, zusammensinken und beginnen zu zerlaufen - irgendwo in die Fugen des kalten Steinbodens.
„Hi, Lilli! Ich nehm mal 'nen Schwarztee.“
„Neeehh. Das mach ich nicht!“
Ihre grünen Augen funkeln mich wild an.
Diese Energie. Bestimmt fliege ich gleich über die Spieler am ersten Tisch durch das Fenster hindurch- und das würde hier sicher auch keinen interessieren.
„Ok, weil Du's bist. Mach mir halt ein Radler.“
„Ein Radler. Hmm. Das laß ich grad nochmal so durch.“
Ich bin nervös.
Am ersten Tisch spielen sie bisher nur zu zweit.
Ich melde mich an.
Versuche mir einzureden, daß doch nichts dabei ist und so zu tun, als ob ich völlig locker wäre. Den Spielern fällt es bestimmt nicht auf.
Bei Manfred, einem Typ mittleren Alters, der an der Bar hockt und wirkt, wie ein seriöser Familienvater und irgendwie so gar nicht zu diesem Publikum passen will, bin ich mir da nicht so sicher. Ich habe ihn noch nie selbst spielen gesehen; auch wenn seine Kommentare, die er gelegentlich einwirft, erkennen lassen, daß er etwas von dem Spiel versteht. Er kommt auch jeden Dienstag, setzt sich an die Bar und versucht Lilli mit irgendwelchen Sprüchen anzumachen, die ich so staubtrocken, wie offensichtlich und furchtbar peinlich finde.
Er grinst mich unverschämt an.
Das Radler ist fertig. Ich nehme es von der Bar und stelle es auf den Tisch neben das Schachbrett. Ich bemerke, daß ich leicht zittere.
Er sieht es auch: „Na, das fängt ja früh an.“
Ich reagiere nicht und beginne mit meinem Spiel. Ich bin unkonzentriert und mache viel zu viele dumme Fehler. Es ist mir egal.
Ich höre Lilli lachen. An der Bar sitzt so ein komischer, schmieriger BWLer-Typ. Offensichtlich ein Bekannter von ihr. Er geht hinter die Bar. Will eine andere Musik einlegen. Sie läßt ihn gewähren. Wie er sie antatscht, dieser halbbesoffene Vollidiot. Warum läßt sie das nur zu?
Der verrückte Günter kommt an meinen Tisch heran. Sie sagen, daß er nicht mehr ganz dicht sei und in seiner Wahrnehmung der Außenwelt stark eingeschränkt. Am liebsten redet er in einem ewigen Monolog auf andere Gäste ein – ohne wirklich auf ihre Antworten zu achten. Manchmal findet er seine Opfer bei denen, die ihn noch nicht kennen oder jenen, die ein allzu augeprägtes Helfersyndrom haben und tatsächlich versuchen, auf ihn einzugehen. Ab und zu redet er auch einfach auf jene Typen ein, die besoffen genug sind, es nicht mehr zu bemerken. Bei den meisten Spielern ruft seine Anwesenheit ein allgemeines Stöhnen hervor. Dafür, daß er offensichtlich nen kleinen Sprung hat, sind seine Kommentare manchmal allzu treffend, und meine Bauernstruktur sieht schon nicht mehr so gut aus. Nach mehr als zehn Zügen in dieser italienischen Variante, kontrolliere ich das zentrale Feld e5 nicht mehr.
Aber irgendwie schaut er heute gar nicht auf das Brett. Er schaut mich an. Er dreht sich um: „Na, die beiden scheinen ja ihren Spaß zu haben, da hinten“. Er schaut mich wieder an mit diesem eigenartigen bohrenden Blick.
Ich reagiere nicht. Habe aber das Gefühl, als bohre sich ein Messer in meinen Magen, um dort einen bengalischen Tanz aufzuführen. Mein Spiel ist völlig konfus. Lilli hat sich von dem Typ gelöst und beugt sich über die Bar: „Und, Andi, wie läufts?“
„Ich übe zu verlieren“, antworte ich betont mißmutig.
Sie zapft ein neues Bier für Manfred und lächelt vor sich hin.
Manfred grinst mich schief an , während er sich meine verlorene Stellung anschaut:„Ich frage mich Andi, warum du heute eigentlich gekommen bist.“
„Och, eigentlich nur so zum Spaß.“
Manfred lacht: „Das hab' ich mir schon gedacht.“
Heftig werfe ich meinen König um, sodaß er fast vom Tisch rollt und zwänge mich entnervt durch die Kiebitze, um mich auf einen eben frei gewordenen Hocker zu setzen, auf der anderen Seite der Bar. An den Tischen hier spielen sie Karten, und es geht mir doch ein wenig ruhiger zu. Ich krame in meinen Hosentaschen und finde einen Euro. Es ist ein spanischer. Ich leg ihn auf die Theke. Lilli kommt zu mir und sieht ihn sich an.
„Ich sammle ausländische Euromünzen.“
„Wenn ich das Radler gezahlt hab, ist das sowieso mein letzter. Ich schenk ihn dir.“
„Danke. Hey, ich lad dich noch zu was ein - allerdings nicht, wenn du dir einen Tee bestellst.“
Sie lacht.
„Ok. Du kannst mir ein Jever machen.“
„Wie soll ich es dir denn machen?“
Mir wird heiß.
„Willst du's hier haben, oder soll ich es zu den Schachspielern bringen.“
„Ach, gleich hier.“
Sie lächelt. Sanft bewegen sich ihre Mundwinkel.
Ich schaue ihr in die hellen, grün leuchtenden Augen. In diesem Moment versinkt für mich die Welt des Ankers, und ich sehe eine neue, von der ich bisher noch nichts ahnte. Eine Welt überschwenglicher Lebensfreude, eine Welt, die alles Vorherige nebensächlich erscheinen läßt.
Lilli geht zum CD Player und ändert die Musik: REM. Everybody hurts. Läuft heute abend schon zum zweiten Mal. Sie kommt zu mir zurück.
„Das ist mein letzter Tag. Ich habe gestern meine Examensarbeit abgegeben und nach Weihnachten werde ich umziehen“.
Ich werde etwas unruhig.
„Vielleicht kann ich dich ja nächste Woche auch mal einladen – vielleicht können wir irgendwo was zusammen trinken gehen, oder so.“
Sie beugt sich zu mir; sie ist mir so nah.
„Neeihhh ... ich hab jetzt zuletzt schon so viel rumgesumpft und hab nächste Woche auch ziemlich Streß.“
Neben mir erwacht Konrad, der Taxifahrer aus der Altstadt, aus seinem Dauerdelirium und beginnt, wie er es in diesen Fällen immer tut, aus Dostojewskis Idiot zu zitieren.
Mir fällt das Geschenk ein. Ich gebe es ihr. Es ist eine CD. Ich habe die Gruppe zuletzt bei einem Freund gehört.
Es ist Rock. Eine unglaublich ausdrucksstarke weibliche Stimme, intensiv, rauchig, sensibel.
Früher habe ich so was nie gehört. Seit Wochen höre ich die Musik immer wieder.
Ich schenke ihr die CD und sage ihr, daß mich die Musik irgendwie an sie erinnert. Sie strahlt mich an. Ich nehme meine Umgebung kaum noch wahr, und der Boden fühlt sich an, als würde er gerade seine Konsistenz verändern.
Ich will ihr sagen, daß ich mit ihr etwas Besonderes aus dem Leben machen will, mit ihr in alle großen Städte der Welt will, mit ihr tanzen möchte, mit ihr alle spannenden Dinge unternehmen will, die das Leben zu bieten hat. Aber irgendwie kommt es mir albern und sinnlos vor.
„Du kannst dich ja mal melden, wenn du Zeit hast.“
„Ok. Gib mir deine Telefonnummer. Vielleicht meld' ich mich“, ihre Augen lachen mich an.
Ich gebe ihr meine Nummer; noch einmal ist sie mir so nah.
Der Boden fühlt sich weich an - wie Wolle.
Ich bezahle das Radler.
Lilli lächelt mich an.
"Mach's gut Andi. Feier auf jeden Fall schön."
"Werd ich; du auch."
Ich verlasse die Kneipe und habe ein Gefühl, als ob ich ein paar Zentimeter über dem Boden schweben würde.
Mir ist klar, daß sie sich nicht mehr melden wird. Aber irgendwie macht es mir in diesem Moment nicht wirklich viel aus.
Es war ein großes, ein sehr starkes Gefühl, daß meine Welt veränderte.
Ich glaube - nein, ich bin mir sicher - ich werde nicht mehr so oft in den Anker gehen.
Die CD aber, werde ich mir noch oft anhören.