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Am Ende zuckt' ein Blitz hernieder
»Reichst du mir bitte die Butter rüber?«
»9:13 in Deutschland, Cuxhaven. Familie Schmitthäger beim Frühstück. Kolja –«
»Danke, Kolja.«
»... hatte den Erzähler an den Stuhl zu seiner Rechten gefesselt und geknebelt und übernahm seinen Job. Fine fragte nach der Butter. Als sie sah, dass ihr Göttergatte dabei war, heldenhaft die Herkulesaufgabe des wahrhaftigen Erzählens zu absolvieren, verdrehte sie die Augen und langte selbst über den ganzen Tisch, denn sie ließ es an guter Kinderstube vermissen–«
»Nein, weil du wieder mal deine ›Alles ist nur eine Geschichte‹-Macke ausleben musst.«
»Aber der Leser hat ein Recht auf eine ungefilterte Sicht auf die Wirklichkeit. Außerdem wollte es Der Allmächtige Autor, dass ich den Erzähler fessle. Denn die Wirklichkeit ist am Ende nur eine Illusion im Kopf des Lesers –«
»Kolja, bitte, es ist gut jetzt.«
»Unterbrich mich nicht immer, und lass meine Hand los, wir sind nicht verheiratet und können uns sonst ja doch nicht ausstehen! Die Wirklichkeit ist jedenfalls eine Illusion im Leserkopf, gestaltet nach Maßgabe des Heiligen Drehbuchs, das Der Allmächtige, Barmherzige Autor uns wirklichen Menschen einst hinterließ. Damit die werte Leserschaft auch endlich mal weiß, wie der Hase läuft!«
»Kolja, du machst uns Angst. Bitte sag nicht sowas, zumindest nicht vor den Kindern.«
»Ach so, die Kinder, die ja gar nicht unsere, sondern durch irgendeine Agentur entführt worden sind – Nike, Thomas, so heißt ihr doch, oder? – Seid ihr fertig? Ihr müsst zur Schule.«
»Aber wir haben doch noch Ferien, Papi!«
»Im Drehbuch steht nix von Ferien! Kenn ich es auswendig oder ihr?«
»Ach, Kolja, sei doch vernünftig ...«
»Ha, Fine, glaubst du ich falle auf deinen flehenden Blick rein? Und überhaupt: Kann es sein, dass du auf irgendeine gewisse Art mit dem Erzähler im Bunde stehst? Hattest du ein Verhältnis mit ihm? Ja, was frag ich Dussel – du Luder hast mich mit ihm betrogen! Du brauchst jetzt gar nicht so deinen Mund mit der Hand zu schürzen und das Kinn auf die Brust sinken zu lassen, als könntest du das alles nicht fassen. Glaube ja nicht so schnellerwerdenzumüssenmitderMikromimik, komme ja dochlockerhinterher, alles dem Leser zu übermitteln, haargenau wie es der Wirklichkeit ent–«
»Kolja, es reicht! Es reicht mir!«
»Fine sprang auf, erstach wütend ihre unschuldige Brötchenhälfte mit dem Frühstücksmesser, und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. Dies überraschte Kolja mäßig, denn er hatte das ja im Prinzip vorausgesehen.«
»Du nimmst dein Antimetaleptikum, hörst du? Anschließend lassen wir den Erzähler wieder frei, ist das klar? Sieh, das steht so alles hier drin!«
»W-w-woher hast du das Heilige Drehbuch plötzlich her?«
»Deus ex machina.«
Die schönste aller schönen und edlen Damen, ihr Haar so glitzernd, ihr Gewand so rein (und alles darunter war gar ein Fest, meinerseel!), beobachtete majestätisch, wie diese grausame Ausgeburt der Hölle, der Tyrann, der feuerspeiende Drache, der ... ach, einen solchen Scheiß drauf ... den armen Erzähler freiließ und ihm den Knebel aus dem Mund nahm. Sein Gesicht war ganz zerknäult vor Verachtung.
»Wir kriegen immer so lasche, jämmerliche 08/15-Erzähler engagiert, Fine, das ist doch ungerecht. Dieser sieht auch noch aus wie aus der Zeit gefallen, dem vorletzten Jahrhundert. Wie soll der denn bei unserem modernen Publikum einigermaßen anlanden? Weg mit dir, hau ab, geh mit dem Autor, aber geh!«
Der Erzähler stürmte auf die Garderobe zu, fasste hastig Frack und Melone, Regenschirm und Köfferchen, denn er war nun einmal etwas altmodisch, und stolperte hinaus. Auf seinem Weg kam ihm der Gedanke, er müsse unverzüglich Dem Autor telegraphieren lassen und über die Missstände in Seinen Geschichten berichten. Doch ... musste es Dem Autor nicht ohnehin klar sein? Konnte es anderes sein als Seine volle Absicht? Wut kroch in ihm hoch und er schnaubte. Schwungvoll stieß er mit dem Fuße einen Kiesel in die Böschung. Er schalt sich des Gedankens, doch sollte Der Autor, der sich für sonstwen hält, diese Geschichte je in einem dieser bohèmen Literaturclubs vorstellen, dass Er ernte Empörung und Verr–°§%}!