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Am Kreuztrichter

Monster-WG
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18.06.2015
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Am Kreuztrichter

Georg steht am Pier und raucht. Als er mich sieht, kommt er mir entgegen und für einen Augenblick befürchte ich, dass er mich umarmen will. Wir geben uns die Hand, seine Augen sind gerötet. Das Boot sei vorbereitet, sagt er. Luja, an den Namen kann ich mich erinnern. Vor Jahren habe ich darauf einen quälend langen Tag verbracht, an dessen Ende meine Mutter mir Après Soleil auf den Nacken schmierte, und ich mir schwor, es niemals wieder zu betreten. Sie schraubte den Deckel auf die Tube und wollte wissen, weshalb ich mich nicht zu ihnen in den Schatten gesetzt habe. Ich sah zu Georg, der im Badeslip unter dem Sonnendach saß, die leicht ergrauten Haare nach hinten gekämmt, die Arme weit ausgebreitet, und zuckte mit den Schultern. Zurück zum Hafen fuhren wir unter Motor, er war zu betrunken, um nach Hause zu segeln. Ich googelte Luja und teilte ihm mit, so heiße auch die neueste Generation von Blasenkathetern.

Er führt mich zu der kleinen Bogenbrücke, auf deren Scheitelpunkt wir den See überblicken, und steckt sich eine weitere Zigarette an. Sein Smartphone vibriert.
«Deine Schwester», sagt er. «Sie sind gleich da.»
«Hat sie einen Neuen?»
«Seit einem halben Jahr, glaube ich.»
Bäume säumen das Ufer, in den Kronen verfängt sich der Morgennebel. Auf einem Pfosten im Wasser steht eine Mittelmeermöwe, früher gab es die Art hier noch nicht. Mit dem roten Fleck auf der Schnabelspitze sieht sie aus, als hätte sie soeben getötet. Der See ist ruhig, in einigen hundert Metern Entfernung wechselt das Wasser die Farbe, von grünlichem Weiß hin zu Perlgrau. Dahinter ragen die Berge meiner Kindheit auf, der Vitznauerstock, die Rigi, die Mythen, der Niederbauen. Die Enge, die ich bei deren Anblick empfand, ist einem interesselosen Wohlgefallen gewichen. Georg raucht in schnellen Zügen, noch nie habe ich ihn so lange schweigen sehen. Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, sind seine Tränensäcke weiter angeschwollen.

Während ich mit leeren Händen gekommen bin, hat meine Schwester einen Rosenstrauß mitgebracht. Ich wundere mich, wie flüchtig sie Georg begrüßt, dann fällt mir ein, dass sie sich in den vergangenen Tagen getroffen haben müssen. Ihr Neuer stellt sich als Reto vor, ich erwidere sein Lächeln.
«Wo ist Meret?», fragt sie mich.
«Sie hat Corona.»
«Ach je. Schlimm?»
«Halsschmerzen, etwas Husten.»
«Hat sie sich isoliert? Hast du dich ebenfalls testen lassen?»
«Selbstverständlich.»
Reto schiebt mit dem Fuß Kies zur Seite. Dann dreht er sich zum Boot. «Luja ist ein toller Name», sagt er zu Georg. «Wie bist du darauf gekommen?»

Vor zwei Wochen habe er Luja auf Vordermann gebracht, sagt Georg, während er meiner Schwester aufs Deck hilft. Sie und Reto setzen sich unter das Sonnensegel, ich mich ihnen gegenüber. Das Gefäß unter dem Tisch ist bloß ein Sektkühler. Er ist mit Eis gefüllt, darin steckt eine Flasche Weißwein. Georg wirft den Motor an.
«Wie geht es dir?», fragt meine Schwester. «Ich meine grundsätzlich.»
«Gut.»
«Arbeitest du noch an deinem Roman? Kommst du vorwärts?»
Nachdem das Buch erschienen ist, habe ich meiner Mutter ein Exemplar geschickt. Ich weiß nicht, ob sie es gelesen hat. Ich weiß nicht, ob es sie verletzt hat. In meiner Hosentasche steckt eine Rezension der Berner Zeitung, die erste und vermutlich auch letzte.
«Ja, ja.» Ich wende mein Gesicht ab.
«Schreibst du schon lange?» Reto wickelt einen Schal um seinen Hals, das Boot hat Fahrt aufgenommen.
«Ja. Aber nicht ernsthaft.»
Die Flanke des Bürgenstocks zieht an uns vorbei. Wo früher Scheunen standen, blitzen die überdimensionierten Fenster weißgetünchter Villen in der Sonne. Weiter oben erblicke ich die St. Jost-Kapelle. Dort liegt mein Vater begraben. Ich kneife die Augen zusammen, erkenne das Kreuz auf dem Turm.
Georg sitzt am Ruder, eine erloschene Zigarette zwischen den Fingern. Er bemerkt, dass ich ihn ansehe, wischt sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und sagt, wir seien bald am Ziel.
«Wie heißt die Stelle noch mal?»
«Kreuztrichter.»

Als er den Motor abstellt, das Boot zur Ruhe kommt, beuge ich mich über die Reling und strecke den Arm aus. Ich möchte wissen, wie warm das Wasser ist. Fast berühren meine Finger die Oberfläche, dann lasse ich es sein. Ich richte mich auf und sehe hinüber zur Nase des Bürgenstocks. Mit zwei Gummibooten sind Lena und ich dorthin gerudert, eines für uns, eines für das Gepäck, und haben ein Zelt aufgeschlagen. Ihre Hand auf meiner Brust lauschten wir den Geräuschen der Nacht. Als wir zurückfuhren, war ich ein Mann geworden, zumindest dachte ich das. Noch immer bilden dort Eibe, Buche und Traubeneiche einen dichten Wald. Über den Wipfeln kreist ein Mäusebussard.
«Hier ist es», sagt Georg. «Von hier siehst du alle vier Arme des Sees, siehst, wo es Wind gibt. Alle Möglichkeiten stehen dir offen. Wenn du Lust hast, fährst du nach Luzern. Dort legst du an und lässt dir in einem piekfeinen Restaurant Forelle blau servieren. Haben wir oft darüber gesprochen, es aber nie gemacht.»
Meine Mutter hat mir ihren Lieblingsort nie verraten. Es ist okay. Es ist gut, dass sie es ihm gesagt hat.
«Das kann sie ja jetzt nachholen», sagt meine Schwester.
«Ja, das kann sie.» Georg verschwindet unter Deck und als er wiederkommt, hält er die Urne in seinen Händen. «Dann wollen wir mal.»
Genauso hätte es auch meine Mutter gesagt. Dann wollen wir mal. Ich unterdrücke ein Lachen. Sachte legt meine Schwester die Rosen in den See, Reto hilft ihr dabei. Georg hebt den Deckel von der Urne. Mit der Hand schützt er die Asche vor dem Wind und sieht uns fragend an.
«Du zuerst», sage ich, merke, dass meine Stimme zittert.
Georg nickt, stellt das Behältnis am Bootsrand ab und taucht die Hand hinein. Als er meine Schwester zusammenzucken sieht, hält er inne. «So will sie es. Sie möchte zerstreut werden, nicht ausgeschüttet», sagt er, zieht die Hand heraus, lässt die Asche ins Wasser rieseln. Nachdem er die Bewegung ein paar Mal wiederholt hat, überreicht er die Urne meiner Schwester, und auch wenn es sie offensichtlich Überwindung kostet, tut sie es ihm schluchzend gleich. Reto hat die Arme von hinten um sie geschlungen. Ich überlege, was ich davon hielte, wenn sie die Asche an ihn weitergäbe, in diesem Augenblick streckt sie mir die Urne entgegen.
Meine Finger gleiten in die Asche. Sie fühlt sich nicht weich an, sondern wie rauer, trockener Sand. Ich balle die Hand zur Faust, Partikel dringen unter meine Fingernägel. Weinend ziehe ich die Hand aus der Urne. Als ich mit vierzig Grad Fieber im Bett lag, pflegte mich Mutter gesund. Wusste ich nicht mehr weiter, verkroch ich mich bei ihr. Sprach ich davon, was mir wichtig ist, unterbrach sie mich, um von ihrer Katze zu erzählen. Nun treibt ihre Asche zwischen den Rosen, sinkt ab, entschwindet.

Wir stoßen mit dem Weißwein an, den sie am liebsten trank.
«Chasselat ist nicht so meins», sagt Georg, nachdem er sein Glas ausgetrunken hat. «Ich hole einen anderen.»
Eine Weile hören wir ihm zu. Er raucht Zigarette um Zigarette, erzählt von Törns auf dem Mittelmeer, von den guten Zeiten, die er mit unserer Mutter verbracht habe, auch in der Kajüte. Meine Schwester legt die Hand auf seine Schulter. Er versteht und wechselt das Thema. Seine Zunge wird schwer, nach der dritten Flasche verfällt er in ein dumpfes Schweigen. Die Rosen sind nicht mehr zu sehen, wir sind ein gutes Stück davon weg getrieben. Die Sonne steht im Zenit, es ist warm geworden. Der Wein hat einen säuerlichen Geschmack in meinem Mund hinterlassen, meine Schläfen pochen. Ich lege mich auf den Bug, presse die Wange gegen das Holz, höre, wie Georg den Motor anwirft.

Auf dem Parkplatz verabschieden wir uns. Meine Schwester gibt mir einen Kuss auf die Wange.
«Hat mich gefreut, dich kennenzulernen», sagt Reto.
Mir wird bewusst, wie sehr er sich im Hintergrund gehalten hat, finde aber keine Worte, mich dafür zu bedanken.
«Wo steht dein Wagen?», fragt Georg, nachdem die beiden losgefahren sind.
«Ich bin mit dem Zug hier.»
«Soll ich dich zum Bahnhof fahren?»
«Ich nehme den Bus.»
«Es war schön», sagt er.
«Finde ich auch.» Ich umarme ihn und als er in sein Auto steigt, hebe ich die Hand zum Gruß.
Von der Bogenbrücke blicke ich noch einmal auf den See. Es ist still, die Berge spiegeln sich im Blau des Wassers. Die Jacke ist mir zu warm geworden. Ich ziehe sie aus und gehe am Ufer entlang. Unter meinen Füßen schwankt der Boden, aber das wird bald wieder besser. Ich folge der Straße, die ins Dorf führt. Es dauert Minuten, bis ich merke, dass ich auf meinen einstigen Schulweg abgebogen bin.

 

Hallo Peeperkorn, es ist nicht lange her, da erzählte mir ein Freund entnervt, dass er morgens auf dem Weg zur Arbeit Richtung Neukölln in der U-Bahnstation einen Penner gesehen hat, der sich auf die Stahlsitzbank hockte und durch die Ritzen der Sitzfläche schiss.

Das ist im öffentlichen Raum die Realität in Berlin. Und zwar nicht nur in irgendeinem ghettoisierten Quartier, sondern ganz allgemein.

Als ich Deine Geschichte las, dachte ich: Typisch Schweiz. Während hier viele Leute Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu bezahlen, schippert man in der Schweiz auf dem eigenen Segelboot vor Bergpanorama über smaragdgrünes Wasser und verstreut die Asche der lieben Eltern.

Ich finde den Text gut geschrieben. Er vermittelt eine melancholische Stimmung. Die Entfremdung der Schweizer von der realen Welt und die Entfremdung der handelnden Personen von einander wird aus meiner Perspektive deutlich, aber mir fehlt eine irgendwie geartete Kritik (und sei es nur Ironie, Sarkasmus, Zynismus) der erzählenden Figur.

Es wird schon klar, dass von den Beteiligten Konflikte verdrängt werden, aber ich hätte mehr Spaß beim Lesen, wenn ihnen das dann auch um die Ohren fliegen würde. So, wie es jetzt da steht, könnte man meinen, der Text empfiehlt Verleugnung und Verdrängung als Mittel gegen die Schwierigkeiten des Lebens.

Trotz dieser Einwände gern gelesen. Ich freue mich auf die nächste Geschichte von Dir.

Gruß Achillus

 

Hey @Achillus

Danke dir sehr fürs Reinschauen und das Lob, was die Schreibe anbelangt. Danke aber auch für die kritischen Überlegungen.

Typisch Schweiz. Während hier viele Leute Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu bezahlen, schippert man in der Schweiz auf dem eigenen Segelboot vor Bergpanorama über smaragdgrünes Wasser und verstreut die Asche der lieben Eltern.
Hm. Ich wollte einen Text über einen Menschen schreiben, nicht über eine Gesellschaft/ein Land, aber du bist nicht der einzige, der ihn so liest, also habe ich es irgendwie verbockt. Nun denn, die Schweizer. Höre ich nicht zum ersten Mal. Mir kommt das stets so vor, als sagte man zu einem Depressiven: Mensch, du hast ja gar keine Probleme, jetzt stell dich mal nicht so an! Und erzähle mir schon gar nicht irgendeine Geschichte aus deinem langweiligen Leben! Die Suidizrate zumindest ist hierzulande höher als in Deutschland, kommt ja nicht so darauf an, ob man sich die Pulsadern bei einem Bordeaux aufschlitzt oder bei einer Büchse Billigbier, finde ich, womit ich nun selbst das Klischee bediene, hier wären alle Wasserhähne aus Gold. Dass es liebe Eltern waren, na ja, das steht nicht wirklich im Text.
könnte man meinen, der Text empfiehlt Verleugnung und Verdrängung als Mittel gegen die Schwierigkeiten des Lebens
Ich weiss nicht, ich will eigentlich gar nichts empfehlen, wenn ich schreibe, ich gehe einfach von Erfahrungen aus, die ich in Worte zu fassen versuche. Ich halte es auch nicht wirklich für den Ausdruck von Verleugnung und Verdrängung, wenn man an der Beerdigung seiner Mutter deren Partner nicht an die Gurgel springt. Ich würde das eher so was wie Anstand nennen. Spassig ist eine solche Geschichte dann schon nicht - wer liest schon gerne Geschichten über Anstand? Das sehe ich und bin froh um die entsprechende Rückmeldung.
Ich freue mich auf die nächste Geschichte von Dir.
Gleichfalls! Ist bereits eine unterwegs, die ich die nächsten Tage einstellen werde. Die ist unterhaltsamer, denke ich.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hey @Henry K.

Spannend!

Oder dass man keine Daueraufträge kennt, sondern Rechnungen noch manuell zu entrichten hat. Viele Menschen gehen dafür sogar noch persönlich mit einem Zahlschein zur Post. Lauter solche Sachen.
Ehm. Keine Daueraufträge kennt? :hmm: Dass Leute noch mit dem Einzahlungsschein zur Post gehen, habe ich auch gehört, ich kenne allerdings niemanden, der das tut. Aber wir wollen uns nicht über Details streiten und du hast selbst geschrieben, dass das überspitzt dargestellt ist. Und weil nur die Übertreibung wahr ist, finde ich das einen guten Ausgangspunkt.
Würde mich mal interessieren, ob du bewusst oder unbewusst als Schweizer für Schweizer schreibst, Peeperkorn? Ist ja sehr spannend, weil das Land (und der Markt) so klein ist, und der Nachbar so gross.
Auf mein Schreiben bezogen interessieren mich viele politische und vor allem politökonomische Themen nicht besonders. Ich ziele eher aufs - Achtung Pathos! - allgemein Menschliche ab (Darum auch: 90er Jahre. Meine Texte sollen nicht aktuell sein) Was mich aber schon sehr fasziniert, ist der Gegensatz von Stadt und Land. Viele meiner Texte spielen auf dem Land, wo ich aufgewachsen und dem ich mit zwanzig, so meine damalige Wahrnehmung, entflohen bin. Auf der anderen Seite finde ich heute mehr und mehr das Schöne in der Natur. Wenn ich also Settings wie in diesem Text hier aufbaue, dann denke ich: Land/Natur/meine Kindheit. Wohingegen einige Leser offenbar denken: Schweiz. Ich glaube, umgekehrt ist das nicht so. Wenn ich einen Text lese, der in Berlin spielt, denke ich nie: Deutschland.
Als Schweizer für Schweizer schreiben? Ne, das wollte ich nie. Ich wollte allerdings auch nie als Schweizer für Deutsche schreiben. Aus meiner Sicht ist nur schon die Frage seltsam, weil ich - vielleicht aus Mangel an Erfahrung - einfach keine für mich relevanten Unterschiede sehe. Aber ich verstehe schon: grosses Land, kleines Land. Worüber ich natürlich nachgedacht habe, ist die Frage, ob ich meine Sprache "eindeutschen" soll, also mit Eszett und ohne regionale Ausdrücke. Es gibt Gründe dafür und dagegen. Ich habe mich für die Angleichung entschieden (auch wenn sie mir nicht wirklich gelingt), weil ich - aber das ist völlig subjektiv - keine Lust auf den Jö-ihr-habt-aber-eine-niedliche-Sprache-Effekt hatte. Dass es auch um ökonomische, gesellschaftliche Befindlichkeiten geht, wenn man als Schweizer (auch) für ein deutsches Publikum schreibt, habe ich mir ehrlich gesagt nie so richtig überlegt. Meine Erfahrungen und Erinnerungen dienen mir als Ausgangspunkt, vor allem wenn es um Atmosphäre und Setting geht. Und ich bin nun mal zwischen See und Bergen aufgewachsen und zwar keineswegs mit einem goldenen Löffel im Mund. Wie ich in einer Antwort geschrieben habe, wollte ich hier im Text eigentlich darauf hinaus, dass der Prota Georg unter anderem wegen seiner grosskotzigen Art nicht besonders mag und dazu gehört ja auch das Segelboot. Daher irritiert es mich natürlich, wenn ich in den Kommentaren Segelboot = reiche Schweiz = wenig interessant lese. Das müsste ich wohl deutlicher machen und das ist ja auch, was du und @Achillus gefordert habt: Mehr Bruch, mehr Reibung.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peter,

zunächst einmal möchte ich meine Wertschätzung ausdrücken, für Deine Beiträge auf persönlicher und auf literarischer Ebene, denn ich finde Deine Kommentare klug und hilfreich und Deine Geschichten sind von hoher Qualität. Das mal vorneweg.

Sieh meine kritischen Gedanken vielleicht nur als Reflexion zum Thema »Schreiben und Gesellschaft«. Ich würde auf Deine Antwort gern zu drei Punkten etwas erwidern:

1) Den Vergleich mit dem Depressiven verstehe ich nicht. Mein Eindruck ist, dass sich sehr wohlhabende Menschen zwar einbilden, Probleme zu haben, das ist aber nur deshalb so, weil sie ein den wirklichen Verhältnissen dieser Welt entfremdetes Leben führen und nicht wissen, wie übel andere Menschen dran sind. Wüssten sie es, würden sie jeden Tag Luftsprünge machen, denn ihre Probleme sind im Vergleich nur Lappalien.

Ich habe übrigens bei Houellebecq gelesen, dass (in Frankreich) die Suizidrate in Kriegszeiten niedriger war als in friedlichen Zeiten, was mit dem Kontrast zwischen wirklich existenziellen und eingebildeten Problemen zusammenhängen könnte. Die Selbstmordquote ist demnach kein Maß für den Grad an objektiven Schwierigkeiten.

Natürlich müssen sich auch die reichsten Menschen mit Kummer, Sorgen und Leid herumschlagen, sei es der Verlust von geliebten Angehörigen, sei es Krankheit, eine tragische Liebe usw. Aber das haben die armen Menschen ja als Bonus zu ihren Sorgen beim Kampf ums nackte Überleben obendrein. Es ist also keinesfalls so, dass Reiche und Arme das gleiche Recht hätten, sich zu beklagen.

2) Du sagst, Du schreibst nicht über eine Gesellschaft. Der Versuch, beim Schreiben die Politik wegzulassen, ist so erfolglos, wie die Physik weglassen zu wollen, denke ich. Leser Deiner Geschichten werden in der Regel voraussetzen, dass in den von Dir beschriebenen Welten die Schwerkraft wirkt. Genau so müssen sie das Wirken sozialer Gesetzmäßigkeiten und deshalb auch politische Verhältnisse mitdenken. Anders geht es gar nicht.

3) Du sagst, Du willst keine Empfehlungen aussprechen. Das glaube ich Dir. Aber Deine Geschichten tun das, ob Du es willst oder nicht. Erzählungen stellen Ereignisketten auf eine Weise dar, die es dem Leser überlässt zu beurteilen, ob die behaupteten Fakten und Zusammenhänge der Wirklichkeit entsprechen. Damit einher geht letztlich auch eine Verhaltensempfehlung, denn wenn die Figur etwas auf eine bestimmte Weise tut und damit erfolgreich ist, neigt man als Leser dazu, dem Beispiel folgen zu wollen, wenn man das Ganze für wahrhaftig hält.

Deine Geschichte würde sich für mich vollkommen anders lesen, wenn das eigene Segelboot und müßiger Zeitvertreib vor Bergpanorama die Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Europa wären. Wäre das der allgemeine Standard, könnte man sich bei gekühltem Sekt im Sonnenuntergang sicher über familiäre Schwierigkeiten unterhalten ohne dass es merkwürdig klänge.

Doch auch dann würde ich fragen, warum die Hauptfigur schweigt, zu dem was da nicht stimmt in der Idylle. Warum die mentale Beengtheit, die die Figur wahrzunehmen scheint, nie thematisiert wird. Warum letztlich das Maulhalten und der Konformismus siegen. Nicht anecken, scheint die Devise zu sein. Bloß keine Unannehmlichkeiten bereiten. Jemand könnte sich unwohl fühlen.


Vielleicht helfen Dir diese Gedanken dabei, mein Unbehagen gegenüber der Melancholie der Reichen zu verstehen.

Gruß Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @Achillus

Danke dir für dein Nachhaken.

Den Vergleich mit dem Depressiven verstehe ich nicht. Mein Eindruck ist, dass sich sehr wohlhabende Menschen zwar einbilden, Probleme zu haben, das ist aber nur deshalb so, weil sie ein den wirklichen Verhältnissen dieser Welt entfremdetes Leben führen und nicht wissen, wie übel andere Menschen dran sind.
Die Selbstmordquote ist demnach kein Maß für den Grad an objektiven Schwierigkeiten.
Das war eben genau mein Punkt. Leiden ist subjektiv. Natürlich kannst du einer Person sagen, dass ihr Leid ungerechtfertigt ist. Das ändert aber nichts am subjektiv empfundenen Leid. Also, ich würde das auseinanderhalten wollen: Objektive "Berechtigung" und subjektive Empfindung. Letzteres ist ja zu einem guten Teil neurobiologisch bestimmt.
Und ich bin weiterhin etwas irritiert, es ist ja nicht so, dass dieser Text von austernschlürfenden Mulitimillionären handelt. Ich habe keine Ahnung, wie viel Georg für das Segelboot bezahlt hat, aber wenn man das gebraucht kauft, ist das nicht teurer als ein Auto. Ich besitze kein Auto. Soll ich nun Texte, in denen ein Auto vorkommt, kommentieren mit: "Ah, typische Wohlstandsgeschichte!"?
Es ist also keinesfalls so, dass Reiche und Arme das gleiche Recht hätten, sich zu beklagen.
Es kommt darauf an, worüber sie sich beklagen. Wenn es um materielle Dinge geht, ja. Ansonsten, nein, finde ich. In diesem Text geht es vor allem um Trauer, ich fände das nun doch etwas schräg, einer Person, die gerade ihre Mutter verloren hat, zu sagen: Aber du bist doch wohlhabend!
Du sagst, Du schreibst nicht über eine Gesellschaft. Der Versuch, beim Schreiben die Politik wegzulassen, ist so erfolglos, wie die Physik weglassen zu wollen, denke ich.
Klar. Wenn man dich fragt, was so deine Themen sind, sagst du ja auch nicht, dass du über physikalische Gesetze schreibst. So hab ich das gemeint. Aber natürlich schwingt das stets mit.
Du sagst, Du willst keine Empfehlungen aussprechen. Das glaube ich Dir. Aber Deine Geschichten tun das, ob Du es willst oder nicht. Erzählungen stellen Ereignisketten auf eine Weise dar, die es dem Leser überlässt zu beurteilen, ob die behaupteten Fakten und Zusammenhänge der Wirklichkeit entsprechen. Damit einher geht letztlich auch eine Verhaltensempfehlung, denn wenn die Figur etwas auf eine bestimmte Weise tut und damit erfolgreich ist, neigt man als Leser dazu, dem Beispiel folgen zu wollen, wenn man das Ganze für wahrhaftig hält.
Auch hier: Dem kann man sich nicht entziehen, das sehe ich schon. Ich möchte es nur nicht absichtlich tun.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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