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Am Schwarzhorn
Dünne Nebelschwaden kriechen die Flanken des Schwarzhorns hoch. Der Trubengletscher leckt an einem Findling, auf seinem Rücken kreisen die Schatten von Alpendohlen.
„Mach schon“, sagt Leo. Ruedi setzt am Waidloch an. Seine Hände zittern, der erste Schnitt misslingt. Leo spreizt die Hinterläufe der Gams. Besser.
„Jetzt den Darm herausziehen.“
Die rote Arbeit übernimmt Leo. Reisst die Gallenblase, dann verekelt ihr Saft das Fleisch. Leo entfernt sie mit sicherer Hand. Danach arbeitet er zügig weiter, die Aufbrechsäge führt er geschmeidig wie ein daoistischer Koch. Leo atmet ein. Metallischer Geruch dringt in Nase und Schädel. Ruedi blickt nach unten ins Tal.
„Die haben den Schuss gehört.“
„Haben sie nicht.“
„Die wissen, dass wir hier oben sind.“
„Hör auf zu jammern.“
Sie waschen sich die Hände in der kalten Acher. Leo streicht etwas Zahnpasta auf eine Bronzebürste und reinigt den Kugellauf seines Drillings. Dann wickeln sie die Gams in ein Fliegennetz und Ruedi schultert das Tier. Fünfunddreissig Kilogramm. Sie marschieren los, den stotzigen Weg runter nach Blaggen, zwischen Felsblöcken, so gross wie ein Heimetli, die Acher auf der rechten, dann wieder auf der linken Seite. Wenn sie unten ankommen, wird es dunkel sein und niemand wird sehen, wie sie die Gams in Ruedis Hütte bringen. Leo geht voran. Ruedi schnauft.
„Gottverdammt!“ Leo bleibt stehen. Er greift zum Feldstecher und sieht, was er schon weiss. Wildhüter Zürren. Der lange Duc. Abgottsponn.
„Ich hab’s doch gesagt.“ Ruedi legt die Gams auf den Schotter. Ihre Zunge hängt aus dem Maul, als wolle sie Salz von den Steinen schlecken. „Was jetzt?“
„Wieder nach oben“, sagt Leo
„Aber ohne die Gams.“
„Hornochse. Wozu habe ich dich mitgenommen?“ Leo kneift die Augen zusammen. „So schnell sind die nicht. Nicht mit dem langen Duc.“
„Ich trage die Gams nicht.“
„Dann lass sie halt liegen, verflucht noch mal.“
„Der Freie ist sich selbst Gesetz.“ Das ruft er Zürren zu, wann immer sie im Bären sitzen, Zürren und seine Gehilfen am Stammtisch, Leo im dunklen Teil der Gaststube.
„Ich werde dich erwischen. Und dann gnad’ dir Gott.“
„Tut mir leid, den kenne ich nicht.“
Abgottsponn greift nach dem silbernen Kreuz, das an seinem Hals hängt. Der lange Duc fällt fast vom Stuhl. Sie können ihm nichts, sie haben zu viel Moral.
Zumindest unten in Blaggen. Oben am Gletscher gelten andere Regeln. Leo und Ruedi gehen los. Die Dämmerung setzt ein, verwischt die Konturen, macht grau, was nicht schon grau ist. Ruedi streift sich einen Pullover über.
„Was werden sie mit uns tun?“
„Spar deine Kraft.“
Die beiden Männer queren die Acher. Die Steine schimmern schwarz, Leo dreht sich um. Zu spät. Er sieht, wie Ruedis rechter Fuss abrutscht und ins Wasser taucht. Für einen Moment scheint Ruedi im Gleichgewicht zu sein. Eine Fichte, die man mit der Axt bearbeitet hat, und die geduldig auf den Fällheber wartet. Dann kippt er zur Seite und klatscht in die Acher. Sein Kopf schlägt gegen einen Stein.
„Herrgott!“ Leo zieht ihn aus dem Wasser und schleift ihn zu einem Felsblock. Ruedis Stirn sieht übel aus.
„Mir ist kalt.“
„Ja.“
„Hast du eine Decke?“
„Nein.“
„Werden sie uns finden?“
„Beweg deine Beine.“
„Geht nicht.“
Der Freie ist sich selbst Gesetz. Leo kramt Tabak aus seiner Tasche. Wenn er jetzt losginge, wäre er in zwei Stunden oben beim Grat und in Sicherheit. Von dort würde ihn das Licht des Mondes runter ins Albental führen. Und weg wäre er. Er hört die Hunde.
„Gottverdammt!“
Ruedi hat das Bewusstsein verloren. Den Rudelruedi nennen sie ihn im Dorf. „Wo mehr als drei Männer sind, da ist auch der Rudelruedi“, sagen sie. Hat den Verstand eines Murmeltiers. Und eine ideal gelegene Hütte.
In zwei Stunden wäre Leo auf dem Grat. Er zündet die Zigarette an, die er sich gedreht hat, und nimmt einen tiefen Zug. Es geht nicht. Er muss bleiben. Auch wenn es Ruedi ist. Leo lädt seinen Drilling. Eine Kugel und zweimal Schrot. Sollen sie kommen.
Es sind zwei schwarze Bracken. Vielleicht einen Steinwurf entfernt bleiben sie stehen und geben Laut. Es macht keinen Sinn, auf sie zu schiessen. Leo wartet. Es ist schon fast dunkel, die Köter bellen und bellen. Dann hört er Schritte. Rechts. Leo dreht seinen Kopf und spannt den Abzug. Er kann sie riechen.
Einfache Ablenkung. Zürrens Gewehrkolben trifft Leo am Hinterkopf. Dann ein zweiter Schlag. Blut läuft in Leos Augen. Abgottsponn greift sich den Drilling.
„Verfluchter Atheist“, sagt Abgottsponn. Er wählt Schrot.
Der Schwarzhorngipfel verdeckt den Mond, dunkle Schatten ziehen Richtung Blaggen. Der lange Duc geht mit einer Fackel in der Hand voran, dann Abgottsponn, das silberne Kreuz in der zur Faust geballten Hand, und am Ende Wildhüter Zürren, der den ohnmächtigen Ruedi auf seinen Schultern trägt. Die Männer schweigen. Am Rand des Gletschers gibt es Stellen, wo sich zwischen Fels und Eis tiefe Spalten auftun. Dort liegt Leos Leiche. Er sei gerannt wie ein tollwütiges Kaninchen, zum Grat und über alle Berge, werden sie Ruedi sagen, wenn er wieder zu Bewusstsein kommt.