- Beitritt
- 31.01.2016
- Beiträge
- 2.217
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 57
Am Tag, als der Papst zum zweiten Mal starb
In diesem Sommer starb der Papst zweimal. Anfang des Monats, die Ferien hatten bereits begonnen, gaben sie es das erste Mal in den Radionachrichten bekannt.
Papa sah Luzie mit geweiteten Augen an. Ähnlich wie Herr Lehmann es immer tat, während sie versuchte zu erklären, aus welchem Grund sie keine Hausaufgaben vorzeigen konnte. Für diese Situation hatte sich Luzie verschiedene Ausreden einfallen lassen, die sie ruckzuck aus dem Ärmel zauberte. Sie wollte nicht sagen, dass Papa sehr wütend werden konnte und dann ihre Hefte zerriss, weil sie gefälligst nicht so schlau tun sollte. Sie wollte auch nicht sagen, dass sie das Taschengeld sparte, um ein Schulbuch zu ersetzen, nach dem Herr Lehmann fragte, weil es auch Papas Wut zum Opfer gefallen war. Sie war gut darin, Ausreden zu erfinden. "Lügen-Luzie" rief man ihr auf dem Schulhof hinterher.
Papa riss die Augen weiter auf. Nun waren sie groß wie Frühstücksteller. Aber während das Weiß in Yasemins Augen schimmerte wie Perlmutt, war es bei ihm rotgeädert und furchterregend, obwohl die Iris fast dieselbe Farbe hatte. Ein warmes Braun. Luzie dachte ständig an Yasemin. Sogar jetzt. Die einzige Freundin, die sie jemals hatte. Währenddessen sog Papa gierig an seiner Zigarette und blies eine blaugraue Wolke aus, so dicht und groß, dass sein Gesicht für einen Augenblick dahinter verschwand. Halb Mensch, halb Gespenst. Als der Rauch an der Zimmerdecke entlang kroch und Papas Gesicht wieder sichtbar wurde, hatte seine Stirn tiefe Furchen. Wie bei einem Zaubertrick hatte es sich verwandelt und zwischen jeder einzelnen Furche sammelte sich Schweiß. Die Haut begann, sich zu verfärben. Erst rot, dann dunkler, mehr lila. Er schrie Worte, wie Papst und Mutter, Arbeit und verrückt, dumm verkaufen und dass sie schon sehen würden. Für Luzie ergaben sie keinen Sinn. Mit weit aufgerissenem Mund, versprühte er Spucke und stand nah genug vor Luzie, dass sie das Gemisch aus Bier, Schnaps und Zigaretten roch und ihr Übelkeit verursachte. Luzie wollte lieber nicht länger mit ihm über den Papst sprechen, denn Papa verlor schnell die Geduld. Zack, war der Faden gerissen und dann war es wirklich schlau, sich dünnezumachen. Sie würde Mama später fragen, wenn die von der Arbeit zurück war.
Yasemin wohnte mit ihren Eltern, einer blinden Großmutter und der kleinen Schwester, die noch gar kein deutsch sprach, sondern nur türkisch und die Luzie jedes Mal zur Begrüßung einen Kuss auf die Hand gab und dann kichernd davonrannte, in der siebzehnten Etage im selben Haus wie Luzie. Die Aussicht war herrlich und die Räume hell und luftig. Es duftete zu jeder Tageszeit nach Gebäck und Gewürzen. Sie konnten von hier oben über die ganze Siedlung hinwegsehen bis zur Mauer. Niemand, der hier lebte, wunderte sich über diese große, graue Wand. An einigen Stellen war sie angesprüht worden: Klaus und Gaby. I'm sorry about that. DDR. Manchmal spazierten Luzie und Yasemin daran entlang und lasen alle Sprüche, aber nur bis zum alten Forellenhof, dort wo die Einfamilienhäuser standen mit Löchern in den Dächern und verbretterten Fenstern. An dieser Stelle kehrten sie um, damit sie noch rechtzeitig vor dem Dunkelwerden zurück waren und keinen Hausarrest bekamen. Mit Yasemin war das Leben lustiger und ihre Augen strahlten und wärmten Luzies Herz. Nie wieder sah Luzie dieses Braun bei einem anderen Menschen. Es war mit goldenen, klitzekleinen Pünktchen gesprenkelt und gerahmt von dichten Wimpern. Die Mädchen saßen in der Schule natürlich nebeneinander und wenn sie beide tuschelten, wurde immer Luzie von den Lehrern ermahnt, weil niemand sonst Yasemins Stimme hören konnte, so leise sprach sie.
Auf dem Heimweg kauften sie gelegentlich ein halbes Hähnchen vom Imbiss und teilten es sich dann im Treppenhaus. Sie stiegen die Etagen so schnell hoch, wie sie konnten. Ohne zwischendurch auszuruhen. Der Rekord lag im achten Stock. Dann sackten sie erschöpft und prustend auf die Stufen und wenn Luzie die Tüte aufriss, roch die ganze Etage nicht länger nur nach Urin und Staub, sondern auch nach gegrilltem Huhn. Yasemin und Luzie passten gut zusammen. Auch beim Hühnchenessen. Luzie aß am liebsten das weiße Fleisch und Yasemin die Haut und das dunkle Fleisch.
„Ich hoffe, wir bleiben für immer Freundinnen", sagte Luzie und lächelte, während sie kaute, „bis wir sterben. Und auch noch danach. Als Gespensterfreundinnen. Dann fliegen wir durch das ganze Haus und stecken unsere Köpfe durch die Wände und erschrecken alle Leute, dass die sich vor Angst in die Hose machen."
Yasemin war am Morgen des ersten Ferientages allein zu Verwandten in ein türkisches Dorf gebracht worden, während ihre Eltern den Sommer über weiter zur Arbeit gingen. Um die kleine Schwester kümmerte sich in dieser Zeit die Großmutter. Das kleine Dorf lag nicht einmal am Meer und es gab auch keinen Strom im Haus, erzählte sie am Abend vor der Abreise. Luzie gab ihr das Taschentuch mit dem Teddy darauf, das Mama ihr am Abend zuvor geschenkt hatte, damit sie die Nase putzen konnte. Und zur Erinnerung. Sie würden sich Briefe schreiben. Jeden Tag einen. Und in den Umschlag legten sie dann immer etwas dazu, das man anfassen oder daran riechen könnte. Eine Feder zum Beispiel oder Sandkörner, das Papier vom Brausebonbon oder einen Tropfen Sonnenöl. Beide Mädchen kauerten, bis die Laternen aufflackerten, auf den Stufen am Hauseingang vor der Sprechanlage, aus der immerzu irgendein Geräusch schnarrte oder jemand "Hallo, hallo" rief.
Luzie hatte sich für den nächsten Morgen den Wecker gestellt, um zu sehen, wie das Auto mit ihrer Freundin davonfuhr. Vom Balkon aus sah sie die Sonne zwischen den hellgrauen Häusern aufgehen. Es war seltsam friedlich dort unten auf dem Parkplatz an diesem Morgen. Luzie hörte niemanden rufen oder schreien, keine Autohupen oder Sirenen. Nur Vögel zwitscherten. Und nachdem beide Mädchen sich einander müde zugewinkt hatten, stieg Yasemin in ein verrostetes Auto und fuhr mit Onkel und Tante davon.
So vertrieb sich Luzie die Ferienzeit allein und ging täglich zu Herrn Kowalke, dem der Kiosk unten im Einkaufszentrum gehörte. Dort kaufte sie seit dem ersten Schultag alle Hefte, Stifte und seit kurzem die Zigaretten für Papa. An einem Tag hatte Herr Kowalke Luzie keine Zigaretten mitgeben wollen, nuschelte etwas von Unvernunft, dass es noch so weit käme, und ließ sie ratlos nach Hause gehen. Am nächsten Tag gab er ihr dann einen Brausebonbon zur Schachtel HB dazu und fragte, ob sie gegen einen Türrahmen gestoßen wäre. Das kam in etwa so hin. Papa funkelte Luzie wild mit den Augen an, als sie wegen Herrn Kowalke ohne Zigaretten nach Hause kam. Sie standen sich im Flur gegenüber, weil er Luzie an der Tür abfing, nachdem er den Schlüssel im Schloss gehört hatte. Er schubste sie immer ein bisschen an der Schulter, während er herumbrüllte. Das wollte gar nicht enden. Die Schulter pochte schon von dem ganzen Geboxe. Außerdem musste Luzie dringend mal. Sie sagte, sie müsste zur Toilette, wie immer, wenn sie Angst hatte, denn Papa war angsteinflößend, wenn er wütend wurde, aber er schubste sie bloß kräftiger, wodurch sie fiel, und dabei schlug sie mit der Stirn irgendwo gegen und machte sich nass. Für einen Augenblick sah es vom Boden so aus, als würde er ihr aufhelfen wollen, weil er einen unschlüssigen Schritt auf sie zuging, aber er drehte sich doch abrupt weg und ging aus der Tür. Zigaretten holen. Und Luzie zog die Kleidung aus und schaltete die Waschmaschine an.
Papa bekam keinen Urlaub in den Ferien. Im Sommer gab es auf dem Bau am meisten zu tun, während bei Mama im Salon um diese Zeit nicht viel los war. Die Frauen gaben ihr Geld jetzt für Eis aus und gingen an den See. Mamas Chef gab sich selbst und ihr zwei Wochen frei und Mama ging mit Luzie jeden Tag ins Freibad. In der ersten Woche fuhren sie zwei Stationen mit dem Bus, aber in der zweiten Woche gingen sie zu Fuß, denn Mama konnte gut rechnen und hielt das Geld beisammen. Mittags lagen sie faul in der Sonne und Mamas Haare glänzten wie Goldfäden, die durch Luzies Finger glitten. Luzie sah Mama gerne an, wie sie dort mit geschlossenen Augen hinter der runden Brille auf dem Rücken lag und ihr Körper im Sonnenlicht glänzte wie Luzies Lackschuhe. An manchen Tagen setzte Mama die Sonnenbrille gar nicht ab. Nicht einmal zu Hause oder im Laden von Herrn Kowalke, wenn sie eine Flasche für den Abend kaufte. Zur Entspannung. Im Freibad kaufte sie zuvor Pommes frites und Eis für Luzie. An manchen Tagen noch zusätzlich eine Tüte Süßigkeiten. Und während Luzie aß, verschwand Mama.
„Bleib schön hier, meine Kleine. Ich brauche etwas Abwechslung", flüsterte sie, strich ihrer Tochter über den Kopf und ging mit leichten Schritten davon. Luzie dachte lange Zeit über den Satz nach, konnte sich aber mal wieder keinen Reim darauf machen, was Erwachsene so sagten, und stürzte sich schulterzuckend auf die Tüte mit den Naschereien. Als Mama zurück war, fragte Luzie, wohin sie denn gegangen wäre. Aber Mama schnitt nur alberne Grimassen, schielte und zog sich selbst an den Ohren, wackelte mit dem Kopf und kitzelte Luzie so lange, bis sie beide die Frage vergessen hatten.
Das Freibad war jeden Tag rappelvoll, die ausgebreiteten Handtücher lagen dicht aneinander auf dem Rasen. Wenn Luzie zum Schwimmbecken ging, war es unmöglich, keines auf dem Weg dorthin zu betreten, so sehr sie sich auch bemühte. Der August war fürchterlich heiß und man hätte meinen können, alle Einwohner der gesamten Siedlung würden sich hier tagsüber aufhalten, weil niemand in den Sommerferien verreiste und es zwischen den Betonwänden nicht auszuhalten war. Wenn Mama von ihrem täglichen Ausflug zu Luzie zurückkehrte, waren die meisten Handtücher vom Rasen verschwunden und zwischen all dem plattgelegenen Gras, den zurückgelassenen Getränkedosen und Wurstpappen, saß Luzie auf dem Coca Cola-Tuch mit angewinkelten Knien, um die sie ihre mageren Arme geschlungen hatte.
„Ich bin zurück, Luzie", rief Mama von weitem, schnappte sich den Plastikkorb, in dem sie die nassen Handtücher und Bikinis transportierten, nahm Luzie an die Hand. Dabei fiel ihr Blick kurz auf die abgekauten Nägel ihrer Tochter. Das leise ‚tsts’ verklang im Wind, während sie mit Luzie aus dem Freibad lief. Mama verlor in diesen zwei Wochen selbst dann ihre gute Laune nicht, wenn sie auf dem Heimweg ein Gewitter überraschte und der Platzregen beide bis auf die Haut durchnässte. Es gab eine Menge Gewitter in diesem August.
Am Ende der zwei Wochen war Mama am ganzen Körper schokoladenbraun und wenn sie abends aus der Badewanne stieg, konnte man auf ihrem Körper vier kleine, weiße Dreiecke sehen. Luzie lachte sich kringelig darüber und Mama tanzte nackt durch den Flur, warf den Kopf vor und zurück, hin und her und schüttelte ihre weizenblonden Haare wie ein übermütiges Pony. Dazu sang sie "Stayin' alive", den Song, der in diesem August immerzu im Radio lief.
Mamas Urlaub war vorüber und Luzie wieder allein. Yasemin war noch nicht zurück und Luzie saß jeden Tag auf dem Balkon und las das Buch über einen Gurkenkönig, auf den man pfeifen konnte, weil der immer stahl und log. Sie hatte es schon dreimal gelesen, weil es ihr so gut gefiel, aber auch weil die Bücherhalle in der ersten Ferienwoche ausbrannte. Der Frisiersalon, in dem Mama arbeitete, befand sich direkt nebenan und sie redete an diesem Abend nur von ihrem Chef, der mutig mit Eimern voll Wasser die Bücher zu löschen versuchte, bis die Feuerwehr kam. Papa hatte an diesem Abend einen Geduldsfaden von der Stärke eines Babyhaares. Er zog mit einem kräftigen Ruck und einem kehligen Laut, der Luzie an Kowalkes Hund erinnerte, wenn man seinem Platz zu nahekam, an der Tischdecke , kaum dass Mama die Geschichte beendet hatte. Mama und Luzie sprangen gleichzeitig von den Stühlen auf, standen vor dem leergefegten Tisch. Mama legte einen Zeigefinger an die geschlossenen Lippen und sie sagten keinen Mucks, bis die Haustür zuknallte. Dann sammelten sie die Wurstscheiben, Brotreste und Gürkchen vom Teppich. Mama suchte eins nach Fusseln ab, stopfte es sich in den Mund, hob einen Teller auf, hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe und sprach theatralisch: „Das ist Glas, auf dem Elefanten tanzen könnten."
Bis Ende September war es so heiß, dass Luzie jeden Tag wie betäubt mit geschlossenen Augen im Liegestuhl auf dem Balkon lag und nichts tat. Sie nuckelte bloß an der Brauseflasche, die Mama für Luzie in den kleinen Kühlschrank gleich neben Papas Bier gestellt hatte, und konnte sich nicht regen. Und auch von unten drangen wenig Geräusche nach oben. Wer konnte, blieb im Haus.
Irgendetwas verursachte einen rauschenden Luftzug an Luzies Schulter. Es fiel still und schnell an ihr vorbei. Sie hörte den Aufprall auf den Steinen deutlich. Der Gedanke an einen schweren Wäschesack kam Luzie in den Sinn, wie der, den Mama eine Zeitlang zum Salon mitnahm, bevor sie eine Waschmaschine besaßen. Luzie konnte nicht sagen warum, aber sie erstarrte, rührte sich nicht. Etwas in ihr wusste, dass kein Wäschesack an ihr vorbeigerauscht war. Ihr Herz schlug in alle Richtungen, als suchte es sich einen Weg aus der Brust hinaus ins Freie.Luzie sprang vom Stuhl auf und beugte sich wie in Zeitlupe mit geschlossenen Augen über das Balkongeländer und zögerte einen Moment, bevor sie sie öffnete. Dort unten lag ein kleiner Mensch. Sie konnte den Blick nicht abwenden, keinen einzigen Muskel bewegen. Luzie starrte auf das kleine Kind, das dort auf dem Bauch lag, die Beine und Arme verdreht, wie das eigentlich nicht möglich war, die dunklen Haare auf dem grauen Pflaster wunderschön um den Kopf herum ausgebreitet. Sie trug ein weißes Sommerkleid.
Als Luzie den Blick abwenden musste, um Atem zu holen, bemerkte sie auf dem Gehweg, der von der Bushaltestelle führte, Yasemins Mama, die auf das Haus zurannte. Ihre beiden Einkaufstaschen hatte sie unterwegs fallenlassen. Die ersten Leute versammelten sich um das Kind auf dem Platz vor dem Eingang und Luzie ging einen Schritt zurück. Sie hielt die Brauseflasche immer noch mit weißen Fingerknöcheln fest umklammert und die Hände zitterten.
Jemand musste Yasemins Vater sagen, dass seine kleine Tochter aus dem Fenster gefallen war. Das sollte er doch wissen. Und nur deshalb fuhr Luzie mit dem Fahrstuhl in den siebzehnten Stock und klingelte. Verschlafen stand Yasemins Papa in der Tür nachdem er geöffnet hatte.
„Hallo Luzie", sagte er müde lächelnd, „Yasemin nicht da." Er gähnte und sah auf seine Armbanduhr. „Frau kommt gleich von Arbeit“, freute er sich.
Als er dann nur noch mit dem Kopf gegen den Türrahmen schlug, wartete Luzie nicht auf den Fahrstuhl, sondern lief durch das Treppenhaus in die Wohnung zurück, kauerte sich auf ihr Bett und drehte den winzig kleinen Hühnerknochen zwischen Daumen und Zeigefinger, der im Umschlag gelegen hatte. Auf dem Schreibtisch lag die Empfehlung für das Gymnasium und der letzte Brief von Yasemin, in dem sie schrieb, dass sie sich freue, mit Luzie in die neue Schule gehen zu können. Daraus wurde aber nichts, denn Yasemin kam nicht wieder nach Berlin zurück.
Im Radio verkündeten sie später zum zweiten Mal den Tod des Papstes.