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And one for the Road

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Beitritt
02.01.2002
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And one for the Road

Auf dem Weg zur Uni komme ich an einem alten, alleinstehenden Haus in einer ruhigen Seitenstraße vorbei. Wann immer ich dort abends entlanggehe, sitzt eine Frau am Fenster und starrt hinaus. Nicht auf die Passanten, nicht auf die Bäume und nicht auf die Autos. Einfach hinaus auf die Straße.

Es ist mehr als fünf Jahre her, dass ich sie zum ersten Mal sah. Der Abendwind rauschte durch die Blätter, während ich über den Bürgersteig schlenderte. Eine Katze huschte vor meine Füße, sprang über einen Gartenzaun und lief auf das Haus zu. In einem der Fenster regte sich etwas. Ich erkannte in dem Schatten eine Frau, die auf die Straße starrte. Ich wusste nicht wer sie war oder warum sie dort saß. Ich dachte mir nichts dabei. Bis ich sie am nächsten Tag wieder dort entdeckte. Und ebenso am Tag darauf. Und an jedem weiterem. Abend für Abend saß sie am Fenster und starrte hinaus. Nicht auf die Passanten, nicht auf die Bäume und nicht auf die Autos. Einfach hinaus auf die Straße.

Manchmal fühlte ich mich beobachtet und drehte mich mitten in der Bewegung herum, um sie zu ertappen. Doch jedesmal glitt ihr Blick an mir vorbei. Anfangs war ich froh darüber, dass sie mich nicht wahrzunehmen schien. Nach einiger Zeit wunderte es mich. Und schließlich machte es mir Angst.

An einem Abend im Herbst hielt ich mit meiner Mutter im Auto vor dem Haus an einer Ampel. Ich musste nicht zum Fenster sehen, um zu wissen, dass die Frau wieder davor saß. Meine Mutter jedoch tat es. Die Ampel schaltete auf Grün und wir fuhren weiter. Ein oder zwei Minuten vergingen, ehe meine Mutter zu sprechen begann.

»Vielleicht hast du eben die Frau am Fenster gesehen.«

Mein Herz schlug schneller. Ich bejahte.

»Hast du gesehen, wo sie hingeblickt hat?«

»Auf die Straße«, sagte ich. Meine Mutter nickte.

»Sie sieht immer nur auf die Straße. Seit drei Jahren sehe ich sie dort sitzen, wenn ich abends vorbeifahre. Seit drei Jahren.« Ihre Stimme nahm einen Klang an, den ich bis dahin noch nie von ihr gehört hatte.

»Ihr Mann arbeitete als Vertreter. In einer Nacht erwartete sie ihn von einer mehrwöchigen Reise zurück. Doch es gab einen Unfall. Einen schrecklichen Unfall.«

Meine Mutter verstummte. Ich wusste nichts zu sagen. Damals nicht und heute nicht.

Die Haare der Frau sind grauer geworden mit der Zeit, die Falten haben sich tiefer in ihr Gesicht gegraben.

Der Blick auf die Straße ist der gleiche geblieben.

 

Huhu Jo,

Starrte diese Frau am Fenster nun auf die Strasse,
weil sie immer noch hoffte, ihr Mann käme doch zurück?
Oder aber, weil sie der Strasse die Schuld an seinem
Tod gab und ihrer Anklage so Ausdruck verleihen wollte?
Hab ich mit Absicht offen gelassen. Meiner Ansicht nach trifft ersteres zu, und ursprünglich hatte ich noch den Satz "Manchmal glaube ich, sie wartet noch immer" drin, dachte mir dann aber, dass das zu dick aufgetragen ist und der Leser sich das denken kann. Und wenn er zu dem anderen Schluss kommt, ist das nicht schlimm.

Deinen Tipp hab ich übernommen, danke. :-)
Ich bin hinter Wortwiederholungen normalerweise her wie der Teufel hinter der armen Seele, aber in dem Fall habe das "darauf" geistig einmal "darauf" und einmal "darauf" betont, so dass es mir wie zwei verschiedene Worte vorkam - kompliziert und blöde, ich weiß. :D

Ginny

 

Hi Ginny-Rose,

eine gebrochene Seele in einem nur noch existierendem Körper.
Eine schreckliche Vorstellung.
Warum schaut sie jeden Abend aus dem Fenster? Versucht sie den Mut zu finden, auch hinaus zu gehen, damit die Straße ihr das Leben nimmt, so wie es bei ihrem Mann war?
Oder erwartet sie den Tod zu sehen, der sie holen kommt?
Hat sie nicht begriffen, dass ihr Mann nicht zurück kommt?

Wirklich eine bedrückende Geschichte, die zeigt, wie einsam ein Mensch unter Menschen sein kann.

ganz lieben Gruß
coleratio

 

ahoihoi!

eine schöne geschichte, die du da geschrieben hast. mal etwas anderes, als die abgedroschenen eine-wie-keine-storys.

jedoch, sehr, sehr :crying:

cu Tama

p.s.: eine frage hätte ich noch:

auf die Passanten, nicht auf die Bäume und nicht auf die Autos.
kann man beurteilen, ob sie nicht auf die bäume sieht? ich meine, die autos und menschen bewegen sich, die bäume aber nicht.

 

Hi Ginny-Rose,

für deine Verhältnisse in R/E ist das ja schon fast ein Roman. ;)
Was mir an dieser Geschichte gefällt, ist, dass du mal einen anderen Stil gewählt hast. Nicht ganz so fragmentarisch. Atmosphärisch dicht vermittelst du uns einen traurigen Eindruck von einer Frau, die voller Hoffnung bleibend auf die Straße schaut.
Hat mir gut gefallen.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Ginny

zuerst dachte ich, die Frau sei vielleicht blind und würde auf irgendjemanden warten, doch als ich dann deine kurze Rückführung las, dämmerte es mir.
Dass man durch solch ein tragisches Ereigniss aus seinen Bahnen geschleudert wird konnte ich gut nachempfinden.
Du hast deine Geschichte sehr schön geschrieben und mM nach fehlt es an nichts. In der Kürze liegt die Würze, heißt es doch.

Ich habe sie gerne gelesen

Morpheus

 

Hi Ginny, "And one for the Road?"
Irre ich mich, oder ist dir im Titel ein ziemlich doofer Fehler passiert?
Substantive werden doch im Englischen klein geschrieben...

 
Zuletzt bearbeitet:

Nö, gefiel mir großgeschrieben einfach besser. Der Titel spielt auf das gleichnamige Lied an und bei Songtiteln spiele ich gerne schonmal mit Groß- und Kleinschreibung. ;-)
Wenn ich mcih recht entsinne hat Stephen King seine Kurzgeschichte "One for the Road" (die ansonsten keine Ähnlichkeit mit meiner hat) auch so geschrieben, scheint Dank künstlerischer Freiheit legitim zu sein (hoffe ich :D).
Korrekterweise müsste ansonsten natürlich entweder alles Groß oder alles bis auf das "And" klein geschrieben werden.


@all: Danke fürs Kommentieren, ich geh nachher mal ausführlicher drauf ein!

Ginny

 

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