Was ist neu

Anekdote zum Zeitgeschehen

Beitritt
10.12.2002
Beiträge
263
Zuletzt bearbeitet:

Anekdote zum Zeitgeschehen

Ein Handy klingelt. Ein Mann hockt zusammengesunken auf einer Bank und schlürft Tee aus einem Pappbecher. Seine Hände zittern.
Der Anrufer bleibt hartnäckig, das Klingeln hält an. Irgendjemand will jemanden anders dringend sprechen. Niemand nimmt ab. Schließlich, nach einer Endlosigkeit, verstummt der Ruf doch. Die Stille währt nur kurz, dann beginnt es irgendwo anders zu piepen.
Der Zuhörer reagiert nicht. Die Anrufe gelten nicht ihm.
Noch bevor das zweite Handy verstummt, ertönt das erste erneut. Das Klingeln scheint ihm jetzt nervös, aber das ist Einbildung, Produkt seiner überdrehten Sinne.
„Nun hör schon auf“, sagt er leise, ohne den Blick zu heben. Als ob es die Schuld des Telefons wäre.
Jetzt dudelt es irgendwo weiter hinten in der langen Reihe. Schlimmer noch: Plötzlich ertönt blechern ganz in der Nähe eine bekannte Filmmelodie. Ein Star Wars Fan.
Auf einmal werden es immer mehr Klingelzeichen. Ein zweites, ein drittes … eine anschwellende Kakophonie der Ungeduld und der Angst.
Es musste gerade in den Nachrichten gekommen sein. Überall klingelt es jetzt - niemand nimmt ab.
Unwillkürlich beginnt er zu horchen, welche Melodien er erkennt und welche nicht.
Irgendwo erklingt die Internationale. Ein Genosse? Oder vielleicht ein Banker mit Humor? Nicht hinsehen. Ein Löwenbrüllen; wohl für Leute mit wenig Selbstbewusstsein. Der neue Hit von Britney Spears, fast zu seinen Füßen. Diesmal kann er sich des reflexhaften Blicks nicht erwehren. Ja, das Alter passt.
Er schließt die Augen. Warum hat er hingeschaut? In der Dunkelheit ist das Klingeln nur noch lauter.
„Hört auf, hört auf, hört auf …“
Der Bolero … Plötzlich ein bekanntes, monotonos Piepen. Sein Handy. Mechanisch greift er in seine Tasche. Doch ein anderes. Jemand anders mit dem gleichen Telefon.
Das kostet den letzten Nerv. Er fühlt nicht die Tränen. Erst kommt der Atem nur noch stoßweise, dann rollt er sich schluchzend auf der Bank zusammen wie ein Fötus.
Alle Eindrücke der letzten Minuten stürzen auf ihn ein.
„Bitte hört auf, bitte …“
Irgendwann später helfen ihm zwei Sanitäter auf. Nehmen ihn in den Arm. Bringen ihn fort.
Die Klage der kleinen Mobiltelefone hält immer noch an, aber die lange Reihe der Leichen ist verschwunden. Jemand hat sie mit schwarzen Plastikplanen bedeckt.

 

Hallo Niels-Arne,

Vielleicht hat ja jemand mit dem Handy die Sanitäter gerufen? ;)

Das kostet den letzten Nerv.
Diesen Satz würde ich fortlassen. Er ist ja sozusagen die Quintessenz deiner Geschichte in einem Satz zusammengefasst.

Es ist schon erstaunlich, welchen Stress und welche Kontrolle wir für den Luxus der permanenten Erreichbarkeit in Kauf nehmen. Und es lohnt immer wieder, darüber mal nachzudenken.
Eine hübsche kleine Anekdote.

Lieben Gruß, sim

 

hi niels,

was machst du hier in alltag? du sollst doch fantasy-geschichten schreiben :susp:

ich kann mich dem filechecker eigentlich nicht anschliessen. es ist eine alltagsgeschichte, sie beschreibt sehr schoen und sehr malerisch ein stueck alltag - ich finde sie gelungen!

glg, vita

 

vita schrieb:
hi niels,

was machst du hier in alltag? du sollst doch fantasy-geschichten schreiben :susp:
glg, vita


Hehe. Manchmal gehe ich fremd! :D Und du hast mich erwischt. In flagranti sozusagen. :shy:

Schön, dass dir der Text gefällt. Nur verstanden hat ihn leider keiner von euch dreien, was wohl deutlich gegen den Text spricht... :heul:
Der Text soll eigentlich weder malerisch sein noch sich mit dem "Luxus der permanenten Erreichbarkeit" (sim) beschäftigen. *grummel*
Vielleicht habe ich in der letzten Überarbeitung den Text etwas zu sehr verklausuliert:
Mein Arbeitstitel war "Notiz über den Tod" und in der vorletzten Version lautete der Schlußsatz:
"Die Klage der kleinen Mobiltelefone hält immer noch an, aber die lange Reihe der Leichen ist verschwunden. Jemand hat sie in der Zwischenzeit mit schwarzen Plastikplanen bedeckt."
Wird die Anekdote so klarer?

 

Hallo Niels-Arne,

leider wird sie mir auch so nicht klarer. Denn ich nehme an, dass du auch nicht auf die akute Umweltbelastung hinaus wolltest, die Mobiltelefone als akustischen Smog und Sondermüll im Falle ihres Ablebens hinterlassen.

Einen lieben Gruß, sim

 

Hallo Niels!

Ein interessantes Handy-Geklingel, das ich gern gelesen habe. :)

kakaotesschen hat das ja schon schön aufgelöst. ;) Der Protagonist ist wohl ein Obdachloser oder so, jedenfalls jemand, der niemanden hat, der sich erkundigen will, ob er noch lebt. Und je mehr Telefone läuten, desto bewußter wird es ihm, wie allein er ist - nur sein Telefon läutet nicht...

Liebe Grüße,
Susi :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo kakaotesschen,
hallo häferl, du Gute! :)
hallo sim!

Erstmal: Entschuldigt mein langes Schweigen, es ist sonst nicht meine Art auf Kritik nicht zu reagieren. Aber ich hatte die letzten Wochen MEGASTRESS
:-(((((((( :messer: :zensiert: :messer:

Kakaotesschen hat den Text schon richtig verstanden. Trotzdem habe ich ihn nochmal geändert. (Zwei Sätze ergänzt) Wird es so klarer?

Warum der Prot unglaubwürdig sein soll verstehe ich nicht: Der Prot hat die Zeit vor der Anekdote wohl damit verbracht bei den Rettungsarbeiten zu helfen, also zerfetzte Leichen durch die Gegend zu schleppen. Er steht also unter schock und versucht die vor ihm liegenden Körper nicht wahrzunehmen. dannn fangen die Handys an zu klingeln erinnern ihn an die Angehörigen der Toten - und das Leben der Toten (repräsentiert durch den individuelle Klingeltöne) und bohren sich durch seinen Kopf, zerstören den letzten Rest von Selbstkontrolle, den er sich bis dahin bewahrt hatte. Find ich plausibel. :confused:

 

Hi Niels

Hmm, meine schon sehr weit hergeholte Interpretation: :idee:
Es ist ja bekannt, dass Handys irgendwelche Strahlen aussachen, die Krebs erregen, zu Unfruchtbarkeit führen und so weiter...
Jetzt ist die Strahlung einfach zu stark geworden, da die Zahl der Handys zugenommen hat, deshalb sterben reihenweise Menschen.
Der Prot selbst wird am Ende von Sanitätern weggeholt.

Aber wenn DAS jetzt stimmen sollte, wär das echt ein Wunder! :silly:

LG, sabberbacke :dozey:

Edit: Hä? Vorher hat dein Beitrag aber noch ganz anders ausgesehen! :susp:

 
Zuletzt bearbeitet:

sabberbacke schrieb
Hä? Vorher hat dein Beitrag aber noch ganz anders ausgesehen! :susp:

Korrekt - ich sollte dringend schlafen gehen. :) Ich hatte ohne nochmal zu lesen gepostet und eine völlig falsche Erinnerung an kakaotesschens Antwort. Weiß auch nicht, wieso. Sorry für den Ungemach... :shy:

Fakt ist, dass die Story eine Szene zum Ausgang hat, die irgendwann mal sehr spät Abends nach dem 11. März (Anschlag in Madrid) im Fernsehen lief: einer der Rettungshelfer vom Bahnhof hatte in den ersten Minuten nach dem Anschlag seine Kamera mitlaufen lassen - mit Bildern aus den Zügen und dann den aufgereihten Leichen. Der Sprecher wies dazu auf die klingelnden Mobiltelefefone hin, mit denen Angehörige versuchten, die Opfer zu erreichen. Die konnte man trotz der Amateuraufnahmen hören, und auch wie die plötzlich wie auf Kommando alle auf einmal lospiepten - wohl als die Nachricht im Radio kam. Das war ... gruselig. Mein Protagonist ist freilich frei erfunden.

 

Hi Niels-Arne!
Ich habe deine Geschichte überflogen und fand sie eigentlich ganz nett.
Ich weiß nicht, ob ich sie richtig verstanden habe, wahrscheinlich auch nicht, aber ich hatte eigentlich von Anfang an die Assoziation, das dieser Mann, dein Protagonist, die Leute dort wo er ist, umbringt.
Zuerst dachte ich, er legt sie alle um, nachdem das Handyklingeln ihn so sehr genervt hat, doch jetzt, nach den Änderungen (vor allem, dass die lange Reihe der Leichen verschwunden ist, was ja andeutet, das diese vorher bereits da war), denke ich, dass dein Prot ein Massenmörder etc. ist, der ein Blutbad angerichtet hat, über das schon im Fernsehen berichtet wird, weshalb alle Handys der Personen, die von Verwandten, Freunden etc. in der Nähe des Tatortes vermutet werden, klingeln, was schließlich zu den Gedanken deines Prots führt.

Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher, vielleicht ist meine Phantasie hier auch viel zu blutrünstig, vielleicht ist dein Prot auch nicht der Mörder sondern einfach ein Überlebender der Bluttat (die ja wohl ziemlich offensichtlich stattgefunden hat), doch dann fände ich die Geschichte nicht ganz so gut glaube ich.

Nun also soweit von mir bzw. meinem doch recht verdrehten Verstand, möglicherweise stimmt das, was ich denke ja sogar.

Ansonsten nette kleine Geschichte.

Schöne Grüße
dein Barrash

 

Hi!
Na gut, dann eben nicht, man kann sich ja auch mal irren!
Ich glaube, mir gefallen eben die abgehobenen, eher verdreheten Geschichten besser als die mit einem eindeutigen Realitätsbezug, aber das ist ja Geschmackssache.
Als makabres Stimmungsbild einer ziemlich drastischen Situation finde ich die Geschichte aber trotzdem ganz gut.

Ich denke, zu meiner Interpretation werde ich einfach mal selber eine Geschichte schreiben, und sehen ob da jemand drauf kommt. ;)

Also dann,
Barrash

 

hy niels,

in der neuen version ist mir der sinn der geschichte gleich klar geworden. was eine überarbeitung so ausmachen kann... :)

lg, vita

 

Lieber Niels!

Ich hab Deine Geschichte erst jetzt noch einmal gelesen und denke auch, daß jetzt viel besser rüberkommt, was in Deiner Geschichte vor sich geht. Allerdings kann ich das jetzt nicht mehr wirklich so beurteilen, da ich sie ja nun schon kannte - vielleicht liest sie ja doch noch einmal jemand, der das noch nicht weiß, und so noch alles freier beurteilen kann. ;)

Diese Stelle finde ich jetzt besonders gut gelungen:

Der neue Hit von Britney Spears, fast zu seinen Füßen. Diesmal kann er sich des reflexhaften Blicks nicht erwehren. Ja, das Alter passt.

Und da hat sich noch ein kleiner Vertipper eingeschlichen:
"Er schließt sie Augen. Warum hat er hingeschaut?"
- die Augen

Alles Liebe,
Susi :)

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom