Mitglied
- Beitritt
- 31.08.2004
- Beiträge
- 26
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Angst
„Panikattacke.“, sagte ihr der Hausarzt, als er sie das erste Mal krankschrieb, weil sie nicht einen Schritt vor die Tür setzen konnte.
Eines Morgens war sie aufgewacht und es war einfach da,… das Gefühl sterben zu müssen, die Atemnot, das Gefühl drohender Gefahr, die Stimmen in ihrem Kopf.
Sie rief mich an, um mich zu bitten mit ihr in die Praxis zu fahren. Die ganze Zeit über hielt sie krampfhaft meine Hand, ihre war kalt und nass von Schweiß, meine tat noch am Abend weh.
„Ausgeprägte Soziophobie, schwere Depressionen…“, diagnostizierte der Psychiater, zu dem sie überwiesen wurde, schon nach wenigen Sitzungen.
Sie war doch nur manchmal schlecht drauf gewesen, morgens schlecht aus dem Bett gekommen. Hin und wieder ein Grummeln im Bauch, wenn sie zur Arbeit ging. Unwohlsein in engen Räumen und unter zu vielen Menschen… Das hat doch fast jeder schon mal gehabt, dachte sie.
Das war vor Jahren. In der Zwischenzeit ist nichts passiert, das es hätte besser machen können.
Ihr Mann hatte sie nach ein paar Jahren verlassen.
Er ist geflohen, weil er nicht mit der Veränderung leben oder ihr helfen konnte.
Alkoholsucht.
Heute hat sie im Griff, was vorher sie im Griff hatte, aber sie trinkt immer noch mehr, als sie am Tag isst.
Die Medikamente und der Alkohol haben sie um ihren gesunden Schlafrhythmus gebracht.
Heute schläft sie, wenn sie Glück hat, ohne Träume mal vier Stunden am Stück, doch eine Nacht in dem Sinne gibt es für sie schon längst nicht mehr.
Sie hat alle möglichen Therapien hinter sich, ist jetzt dauerhaft krankgeschrieben.
Es ist okay so, denn jetzt hat sie wenigstens die Zeit, über sich als die "personifizierte Ausfallerscheinung" nachzudenken, wie sie immer sagt.
In ihrer, mittlerweile überreizten und durch nichts Alltägliches mehr zu relativierenden, Selbstwahrnehmung, wird sie mehr und mehr dazu.
Manchmal geht es besser.
Dann zwingt sie sich, raus zu gehen, etwas zu tun. Spazieren vielleicht, einkaufen, zum Arzt gehen. Wenn es gut lief, ruft sie mich an, dann treffen wir uns im Park, da kann sie ausweichen, unter Menschen sein und trotzdem allein.
Ein Eis im Cafe zu bestellen, bedeutet einen großen Erfolg. Dann gibt sie sich Mühe, den Stolz, den sie darüber empfindet, unter einer Maske von Normalität zu verbergen, denn die ist es, die sie braucht. Meistens haben wir nicht mehr als drei Löffel gegessen, bis sie beginnt, unter dem Tisch kontinuierlich mit dem Bein zu wackeln und sich fahrig umzublicken.
Dann gehen wir, aber ich bin sicher, irgendwann schaffen wir ein ganzes Eis… und einen Espresso danach!
Manchmal ist es ganz schlimm.
Dann sitzt sie in einer abgedunkelten Wohnung. Trinkt und raucht zuviel, stiert Löcher in Zeit und Raum.
Wenn sie den Mut hat, den Telefonhörer abzunehmen und mich anzurufen, fragt sie: „Kannst du kommen?“
An ihrer krächzenden Stimme erkenne ich dann, dass sie seit Tagen nicht mehr gesprochen hat… mit wem denn auch?!
„Wie lange schon?“, frage ich nur, und sie antwortet „Fast zwei Wochen…“
Und ich weiß, ich muss hinfahren, bevor der Wahnsinn vor mir da ist.
Wenn ich dann zwei Mal klingle, unser Zeichen, öffnet sie die Tür erst, wenn sie meine Schritte auf dem letzten Treppenabsatz hört. Nur einen Spalt, so dass ich gerade hindurchpasse.
Oft dauert es eine halbe Stunde, bis sie mir überhaupt in die Augen schauen kann, vor lauter Scham.
Dann, als hätte der Blickkontakt einen Hebel umgelegt, steht sie auf und geht in der Wohnung auf und ab, wie ein Tiger im Käfig, und dabei redet sie wie ein Wasserfall.
Über sich, ihre Reflektionen, ihre Ängste, die Geschehnisse des Tages.
Welche Geschehnisse? denke ich dann bei mir und fühle mich sofort schuldig, weil ich immer noch nicht hundertprozentig gelernt habe, ihr nicht mein Maß anzulegen.
Sie erzählt davon, dass sie heute zweieinhalb Stunden für die Entscheidung gebraucht hat, den Knopf der Kaffeemaschine zu drücken.
Dass sie sich nicht getraut hatte das Fenster, zu öffnen, weil sie die Stimmen im Hof nicht ertragen konnte.
Dass sie gewartet hatte, die Spülung der Toilette zu benutzen, als sie ihre Nachbarn im Hausflur hörte, bis diese verschwunden waren und sich auch danach noch zwingen musste.
Ich weiß, warum sie das tut: Sie will um keinen Preis auffallen, sich am liebsten in Luft auflösen.
Trotzdem muss ich mich zwingen, den Blick nicht vor Betroffenheit zu senken und bin froh, dass sie im Zwielicht der Kerzen nicht meine angespannten Gesichtsmuskeln sieht.
Ich stehe auf und nehme sie in den Arm. Ich bin mir sicher, sie braucht es, und doch wird sie steif und löst sich nach wenigen Sekunden.
Sie denkt, ich bemerke nicht, wie sie im Wegdrehen ihre Nase in ihr verwaschenes Sweatshirt steckt, um zu überprüfen, ob sie einen unangenehmen Körpergeruch verströmt…
Sie hat immer Angst, sie würde stinken.
Wir reden eine Weile, und eine Zeit lang schweigen wir mit einander.
Wann ist der nächste Arzttermin?
Wird sie es alleine schaffen oder soll ich mitkommen?
Ich könnte mir frei nehmen, das wäre kein Problem.
„Ein Workaholic häuft ne’ Menge Überstunden an.“, scherze ich und zwinkere ihr zu, bin dankbar darum, dass dieser platte Spruch ausreicht, um sie erst in glucksendes und dann in schallendes Gelächter ausbrechen zu lassen. Es befreit uns beide!
Sie hat ein schönes Lachen. Sogar, wenn sie dabei weinen muss. Unter all dem Schmerz ist sie eine schöne Frau.
Sie verspricht mir, mich anzurufen, wenn sie es nicht schafft. Aber sie wird es schaffen, sagt sie. Der Termin sei erst in einer Woche und sie spüre, dass es besser wird.
Ich glaube ihr, denn mir fällt die angebrochene Packung Tabletten auf, die auf dem Tisch liegt. Normalerweise nimmt sie diese Tabletten nicht, sie hasst sie… nur hin und wieder eine Depotspritze vom Doc.
Die Tabletten werden in der kurzen Zeit lediglich einen Placeboeffekt haben, das wissen wir beide. Aber dass sie sie nimmt, ist ein Zeichen, dass sie kämpft… gegen sich selbst, raus aus dem Loch.
Sie bietet mir Wein an, doch ich lehne ab, obwohl ich einen Schluck gut gebrauchen könnte. Ich hoffe, sie wird nicht alleine trinken, doch sie schüttet sich ein Glas ein, und ich weiß, ich kann nichts dagegen tun.
Ich kann sie nicht therapieren, nur da sein. Das ist manchmal schon schwer genug.
Nach fünf Stunden gehe ich, sie will es so, und ich bin froh… ganz tief in mir drin.
„Nächste Woche, nach dem Termin… lass uns zusammen ausgehen! In ein kleines Cafe, eine ruhige Bar… nicht so viele Leute…“, sagt sie, und ich willige ein.
„Ruf mich an…“, sage ich noch „egal wie es ist und zu jeder Zeit!“
Ich klinge ängstlicher, als beabsichtigt. Hat sie es gemerkt? Zumindest lächelt sie liebevoll… und traurig, als sie nickt und dann die Tür leise schließt.
Auf dem Weg nach unten höre ich, wie sie sie noch einmal öffnet und bleibe stehen…
„Danke… für alles!“, flüstert sie mir nach.
„Kein Thema!“, gebe ich zurück und bemühe mich für sie, ebenfalls zu flüstern.
Und es stimmt! Es ist kein Thema, wird es nie sein! Immer wieder, so gut ich kann.
Denn sie ist meine Freundin, auch so, wie sie jetzt ist.
Sie hat sich verirrt, und ich vermisse sie, aber wenn ich nur da bleibe…, laut genug rufe, findet sie bestimmt zurück…irgendwann!